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Bericht aus Israel: »In den Grundfesten erschüttert«

Wand am Platz der Entführten in Tel Aviv
Wand am Platz der Entführten in Tel Aviv (Bild: Keren Cohen)

Die Hoffnung auf Frieden mit den palästinensischen Nachbarn haben nach dem Massaker vom 7. Oktober selbst linke Kibbuzniks aufgegeben. Im Kampf gegen die Hamas stehen dabei Israelis zusammen, die sich zuvor in zwei verfeindeten Lagern befunden haben. Ein Lagebericht aus Israel nach drei Monaten Krieg mit der Hamas.

Oliver Vrankovic

Am Vorabend des Überfalls palästinensischer Terroristen auf den westlichen Negev war die israelische Gesellschaft unheilbar zerstritten. Der in den letzten Jahren wieder aufgekochte Kulturkampf war kurz vor dem Siedepunkt und zwei Gruppen standen sich unversöhnlich bei Protesten für und gegen die Regierung gegenüber. Die harschen Auseinandersetzungen um die Justizreform und das Verhältnis von Staat und Religion riefen historische Vergleiche zum Bruderkrieg während des Aufstands gegen die römische Besatzung hervor, der seiner Zeit den Feinden des jüdischen Volks in die Hände spielte.

Am 7. Oktober wurden die Israelis schmerzhaft an die Staatsräson des »Nie wieder« erinnert. Der gesichert geglaubte materielle Schutzraum für Juden war plötzlich in seinen Grundfesten erschüttert. Terroristen köpften und verstümmelten Babys, Kleinkinder und Alte, vergewaltigten Frauen systematisch, verbrannten Familien und filmten ihre Taten. Über tausend palästinensische Zivilisten beteiligten sich an den Plünderungen, Entführungen und Vergewaltigungen.

Genau fünfzig Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg schreit das Versagen der Geheimdienste zum Himmel und die Armee wird sich ewig vorwerfen lassen müssen, dass palästinensische Terroristen stundenlang im westlichen Negev wüten konnten. Das Begreifen der Ereignisse und die Realisierung des Geschehenen verlaufen für die Israelis zäh und traumatisch. Während weltweit Tag um Tag und Woche um Woche vergehen, ist in Israel noch immer der 7. Oktober 2023.

Den Opfern ein Gesicht geben

In den Medien wird den Opfern des Horrors ein Gesicht gegeben. Ihre Geschichten werden erzählt, ihre Familien kommen ausführlich zu Wort. Trotz des unverzeihlichen Versagens des Sicherheitsapparates salutiert das ganze Land seit dem 7. Oktober den israelischen Verteidigungsstreitkräften in diesem zweiten israelischen Befreiungskrieg. Gelingt es nicht, die Terroristen und die Terrorinfrastruktur in Gaza zu zerstören, ist es bis zum nächsten bestialischen Massaker nur eine Frage der Zeit, in der kein normales Leben mehr möglich sein wird.

Die Rekrutierungsquote lag im Verhältnis zur Anzahl der Einberufungen bei hundertdreißig Prozent. Seit Beginn der Bodenoffensive ist die Bevölkerung in Sorge um Söhne, Brüder, Väter, Arbeitskollegen und Freunde, die im Gazastreifen kämpfen. Das unterirdische Gaza, das mittels Milliarden an Hilfsgeldern errichtet werden konnte, stellt die israelische Armee vor eine beispiellose militärische Herausforderung und fordert jeden Tag das Leben vieler junger Israelis. Jeder beklagt im Familien- und Freundeskreis Opfer des Massakers und des Kriegs.

Bericht aus Israel: »In den Grundfesten erschüttert«
Installation für die Geiseln in Rehovot (Bild: Keren Cohen)

Besonders belastend ist das Schicksal der Geiseln. Mehr als hundert Israelis befinden sich noch in den Händen von Terrororganisationen im Gazastreifen. Sie und ihre bangenden Familien sind überall präsent; es gibt niemanden, der sich vor dem Einschlafen nicht mit dem Gedanken verrückt macht, was die Verschleppten zu erleiden haben. Die Zeugenberichte der befreiten Geiseln nähren die Angst um die in Gefangenschaft verbliebenen.

Die israelische Regierung, die geschmiedet wurde, um den liberalen Teil der Gesellschaft zu unterwerfen, sah sich zu Kriegsbeginn hilflos überfordert. Die der Protestbewegung angehörenden »Waffenbrüder« wurden unmittelbar nach dem Überfall aktiv und errichteten eine Infrastruktur, die sich um alles kümmerte, vom Truppentransport über die Evakuierung der Kampfzone und die Identifizierung der Entführten bis hin zur Bereitstellung von Hilfspaketen für die Binnenflüchtlinge, die Organisation psychologischer Unterstützung und Rekrutierung von Erntehelfern.

Alte Animositäten gelten nicht mehr

Am 7. Oktober kam es zu unzähligen Heldentaten, die Tausenden Israelis das Leben gerettet haben. Die Anführer der Proteste gegen die Regierung, Yair Golan, Noam Tibon und Israel Ziv fuhren ins Umland von Gaza, um Terroristen zu bekämpfen und Menschen zu retten. Beduinen wie die Cousins Ismail, D’Haish, Hamed und Rafi aus der Alkanarwi-Großfamilie, retteten auf Schleichpfaden Menschen vom Nova-Festivalgelände bei Re’im. Rachel Edri aus Ofakim hielt Terroristen stundenlang mit Gebäck und Tee auf, und der ultrarechte Minister Almog Cohen zog gemeinsam mit Polizisten aus Ofakim in die lebensgefährliche Schlacht gegen die Invasoren.

Viele Rechte, Linke, Juden und Nicht-Juden bezahlten den ultimativen Preis für ihren Heldenmut. Im Umfeld von Gaza arbeiten Waffenbrüder, Studentinnen, Hippies, Religiöse und Siedler freiwillig auf den Feldern, um die Landwirtschaft zu retten. Die traditionell verfeindeten Fans der Fußballklubs Beitar Jerusalem und Hapoel Tel Aviv kämpfen Schulter an Schulter, und in jeder Fanszene sind Dutzende Opfer zu beklagen. Die Gefallenen stammen aus linken Kibbuzim im Negev und rechten Siedlungen im Westjordanland, aus liberalen Städten des Zentrums und den Entwicklungsstädten der Peripherie. Säkulare, Religiöse, Drusen, Justizreformgegner und -befürworter fallen Seite an Seite im Kampf gegen den Feind.

Gefährdet ist der Zusammenhalt durch Premier Netanjahus rechtsextreme Koalitionspartner und ihr Sprachrohr Kanal 14 auf der einen und extreme Teile der Protestbewegung auf der anderen Seite, die den Rückfall in die innerisraelischen Auseinandersetzungen vom 6. Oktober provozieren wollen. Die Siedlerfraktion in der Regierung verschiebt trotz horrender Kriegskosten Unsummen an Steuergeldern in den nationalreligiösen Sektor. Die Rechtsextremen fordern eine kompromisslosere Kriegsführung und schrecken selbst vor Verbalattacken auf die Armeeführung nicht zurück.

Benjamin Netanjahu, dessen Rückhalt eingebrochen ist, versucht als Oslo-Gegner und Verhinderer eines palästinensischen Staats zu punkten und damit eine Debatte über seine Rolle bei der katarischen Unterstützung der Hamas zu überlagern. Es ist israelischer Konsens, dass Oslo ein Fehler war. Es ist aber auch Konsens, dass derjenige, der seit mehr als fünfzehn Jahren fast ununterbrochen die Geschicke des Landes lenkt, die Hauptverantwortung trägt.

Jede Legitimation verloren

Bei den Überlebenden in den Kollektivsiedlungen und Genossenschaftsdörfern hat die Regierung jede Legitimation verloren. Gleichwohl sind auch die Überzeugungen, die dort gepflegt wurden, in sich zusammengefallen. Die Bewohner des Kibbuz Magen haben ihr Leben ein paar wenigen Sicherheitsleuten unter der Führung von Baruch Cohen zu verdanken. Der 72-jährige Ex-Militär, der bei der Abwehrschlacht schwer verletzt wurde, hatte seine Aufgabe als Sicherheitsbeauftragter des Kibbuz so ernst genommen, dass er sich und seine Mitstreiter jahrelang auf das Szenario vorbereitete, ohne jegliche Unterstützung Terroristen abwehren zu müssen.

Bericht aus Israel: »In den Grundfesten erschüttert«
Baruch Cohen (Bild: Oliver Vrankovic)

Baruch Cohen gehörte zu den vielen Freiwilligen, die palästinensische Krebspatienten aus Gaza von der Grenze aus zur Behandlung in israelische Krankenhäuser gefahren haben. Und er war überzeugt, dass es auf der palästinensischen Seite des Zauns eine Mehrheit für ein friedliches Neben- und Miteinander gibt, wie es bis Mitte der 1980er Jahre der Fall war. Diese Fehleinschätzung bezüglich der palästinensischen Bevölkerung war weit verbreitet, tatsächlich steht sie fest an der Seite der Terrororganisationen und befürwortet mehrheitlich die Massaker.

Zameret Samir aus Nativ HaAsera, deren Haus sich unweit der Grenze befindet, fertigte an der Gaza zugewandten Seite einer Sichtblende ein großes Mosaik an, das den Schriftzug »Friede« zeigt. Ihr war die Unterscheidung zwischen Terroristen und Zivilisten stets wichtig. Heute sagt die Überlebende des 7. Oktober, ihre Sichtweise habe sich »stark geändert«.

Hoffnung auf Frieden verloren

Die Felder des Kibbuz Nirim reichen bis an den Grenzzaun. Hier wohnt Adele Raemer, die bis zum Ausbruch der ersten Intifada in den Gazastreifen zum Einkaufen fuhr. Sie war eine Befürworterin des israelischen Abzugs im Jahr 2005, doch der von ihr erhoffte Friede mit ihren palästinensischen Nachbarn blieb aus.

Am 7. Oktober drangen Terroristen in Adeles Haus ein; sie überlebte in ihrem Schutzraum. Für eine israelsolidarische Kundgebung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Stuttgart schrieb sie in einem Redebeitrag, sie habe geglaubt, Friede und Diplomatie seien der einzige Weg zur Konfliktlösung. Die Realität hingegen seien geköpfte Babys, vergewaltigte und gefolterte Frauen, die nach ihrer Ermordung durch Gaza geschleift wurden, zerstückelte Männer und gefangen genommene Kinder. Während des Überfalls wurde sie von Bekannten aus Gaza ständig befragt, was vor sich gehe.

Zweifel am Interesse der anderen Seite auf ein friedliches Nebeneinander kamen den Bewohnern und Bewohnerinnen des Umlands von Gaza spätestens seit der versuchten Grenzstürmung im Jahr 2018 und dem Feuerterror durch Brandballons. Der Kibbuz Be’eri etwa stellte im Zuge dieses Feuerterrors die Unterstützung für die Palästinenser, die früher in der Kollektivsiedlung gearbeitete hatten, ein. Rami Gold aus Be’eri erklärte, dass ihnen die Palästinenser als friedliche Nachbarn herzlich willkommen seien, wollten sie aber Krieg, bekämen sie ihn auch. Am 7. Oktober 2023 wurden hundertdreißig Bewohner von Be’eri grausam ermordet und der Kibbuz niedergebrannt.

Während der 7. Oktober das Ende jedes Verständnisses für die Palästinenser bedeutete, kam es seit dem Massaker und während des nun ausgebrochenen Kriegs zu einer Neubewertung der nicht-jüdischen Minderheit in Israel selbst. Das Nationalstaatsgesetz, um dessen Verabschiedung es 2018 tiefgreifende Auseinandersetzungen gab, wird vor dem Hintergrund der vielen im Krieg gefallenen Drusen heute als Fehler bewertet. Auch die Beduinen im Negev werden heute in einem anderen Licht gesehen. Im Gegensatz zu 2021, als sich große Teile der arabischen Israelis mit den Terroristen in Gaza solidarisierten und es in Lod und Ramle zu pogromartigen Ausschreitungen kam, ist die überwältigende Mehrheit der israelischen Araber heute entsetzt und angewidert von der bestialischen Gewaltorgie des 7. Oktober.

Derweil wird dem palästinensischen Terror im Westen mit Kontext, Verständnis und Sympathie begegnet. Im Berliner Stadtteil Neukölln zum Beispiel wurden die Massaker gefeiert. Das Rote Kreuz unternimmt nichts, um die israelischen Geiseln besuchen zu können; die MeToo-Bewegung zeigt Misstrauen gegenüber Opfern brutalster Vergewaltigungen und Universitäten äußern Verständnis für Aufrufe zum Judenmord. Die UNO ist in Gaza untrennbar mit der Hamas verwoben, Schulen und Krankenhäuser sind Teil der Terrorinfrastruktur, und die Erziehung ist darauf ausgerichtet, palästinensische Kinder zu Antisemiten und Terroristen zu erziehen.

Den Israelis ist klar, dass die Taten der Hamas allein deren Antisemitismus entspringen und sich nicht auf die Politik Israels, sondern auf die Existenz Israels beziehen. Und ihnen ist klar, dass diese Existenz nur gemeinsam verteidigt werden kann.

Der Artikel erschien zuerst bei Jungleblog.

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