Stefan Frank sprach mit Elchanan Bedein, einem Überlebenden des Hamas-Massakers vom 7. Oktober aus dem Kibbuz Mefalsim im Süden Israels.
Als Terroristen der Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober den Zaun zum Gazastreifen durchbrachen, befand sich der nur einen Kilometer vom Gazastreifen entfernte Kibbuz Mefalsim mit seinen tausend Einwohnern an vorderster Front. Eine mit Kalaschnikows und Panzerfäusten bewaffnete Gruppe von Terroristen steuerte direkt auf den Eingang zu, während eine andere versuchte, den Generator zu zerstören. Ein Dutzend bewaffneter Kibbuzbewohner wehrte den Angriff ab und verhinderte so ein Massaker. Einer der Überlebenden ist der 37-jährige Elchanan Bedein. Stefan Frank sprach mit ihm.
Mena-Watch (MW): Was sind Sie von Beruf?
Elchanan Bedein (EB): Ich bin Hundetrainer und arbeite zudem mit Kindern im Kibbuz.
MW: Wo sind Sie jetzt?
EB: In Herzliyah in einem Hotel. Mein ganzer Kibbuz ist bis zum Ende des Kriegs hierher evakuiert worden.
MW: Wie haben Sie den 6. Oktober, den Freitagabend vor den Massakern, verbracht? War irgendetwas an diesem Abend ungewöhnlich?
EB: Nein, gar nichts war ungewöhnlich. Ich war allein in der Wohnung. Meine Verlobte war nicht da. Für mich war Pizza- und Filmabend. Ich habe mir Filme angesehen und bin danach schlafen gegangen. Am Samstagmorgen haben mich die Raketen geweckt.
MW: Was haben Sie dann gemacht?
EB: Es war halbsieben, als ich von diesen massiven Explosionen aufgewacht bin. Meine Hündin war draußen, also bin ich rausgerannt, um sie zu holen. Wir gingen in den Schutzraum. Unsere Schlafzimmer sind Schutzräume. Vor ein paar Jahren wurden alle Häuser in der Nähe des Gazastreifens mit Schutzräumen ausgestattet. Also ging ich in mein Schlafzimmer und verbrachte dort die nächsten (denkt nach) sechsundzwanzig Stunden.
MW: Der Schutzraum hat eine Stahltür und spezielle gepanzerte Fenster?
EB: Ja, er schützt vor Bomben, nicht vor Terroristen.
Keine Informationen
MW: Wie lange kann man darin bleiben, bis einem der Sauerstoff ausgeht?
EB: Da ich gar keine Informationen darüber hatte, was vor sich ging, bin ich etliche Male aus dem Schutzraum rausgegangen. Ich bin auf die Toilette gegangen und in der Wohnung umhergelaufen. Ich wusste bis Sonntagmorgen nicht wirklich, was los war.
MW: Aber Sie haben doch sicherlich versucht, es herauszufinden, oder?
EB: Es gab keinen Handy-Empfang. Sie haben das Netz abgeschaltet, weil die Terroristen Facebook und alle Livestreams benutzt haben, um die Ermordung der Juden live zu übertragen. Also haben sie das Internet abgeschaltet. Seit Samstagmorgen acht Uhr hatten wir bis in die Nacht kein Internet mehr.
MW: Sind Sie sicher, dass die Telefon- und Internetverbindung von den israelischen Behörden gekappt wurde? Ich habe auch das Gerücht gelesen, die Terroristen hätten Mittel der Cyberkriegsführung eingesetzt, um die Verbindung zur Außenwelt zu kappen.
EB: Ich bin mir überhaupt nicht sicher. Das ist bloß das, was ich gehört habe. Auf jeden Fall hatten wir an diesem Morgen kein Internet. Alles, was wir wussten, war, dass Terroristen im Kibbuz waren und wir im Haus bleiben mussten.
MW: Viele Menschen fragen sich, warum das israelische Militär so spät, erst nach mehreren Stunden, kam?
EB: Das sind Fragen, die erst in der Zukunft beantwortet werden können. Es war ein Feiertag. Die Hälfte der Soldaten war zu Hause. In den letzten Jahren bestand die Bedrohung aus dem Gazastreifen nur aus Raketen, sonst nichts. Wir dachten, wir hätten die anderen Bedrohungen durch den Eine-Milliarde-Dollar-Zaun in den Griff bekommen. Wir hätten nie gedacht, dass eine solche Situation eintreten würde. Sie hat alle überrascht.
Man darf auch nicht vergessen, dass an diesem Tag dreihundert Soldaten getötet wurden. Und nicht jede Armee der Welt hätte es geschafft, dreitausend Terroristen in zwei Tagen zu töten. Achtundvierzig Stunden, dann hatten wir alle getötet. Es war ein Schock, aber am Ende haben wir sie besiegt.
MW: Wann wurde Ihnen klar, dass Israel nicht nur mit Raketen angegriffen wurde, sondern es auch eine terroristische Infiltration gab?
EB: Nach etwa einer Stunde. Aber ich hatte keine Vorstellung von dem Ausmaß.
MW: Woher wussten Sie, dass Terroristen nach Israel eingedrungen waren?
EB: Ich habe die Schüsse gehört.
MW: Die Terroristen waren in Ihrer Nachbarschaft?
EB: Ganz in der Nähe. Sie kamen bis auf dreihundert Meter an mein Haus heran.
MW: Gab es Opfer in Mefalsim?
EB: In unserem Kibbuz haben sie es nicht geschafft, jemanden zu töten oder zu entführen. Wir hatten Kräfte – keine Soldaten, sondern Zivilisten –, die sich den Terroristen entgegenstellten und sie besiegten.
MW: Wie viele Terroristen haben Mefalsim angegriffen?
EB: Dreißig. Es gelang den Sicherheitsleuten des Kibbuz, bis Samstag, vierzehn Uhr, alle zu töten.
Infos durch arabische Arbeiter
MW: Wie viele Sicherheitskräfte oder bewaffnete Zivilisten haben in Mefalsim gegen die dreißig Terroristen gekämpft?
EB: Etwa zwölf.
MW: Die Terroristen waren mitten in Ihrem Kibbuz?
EB: Ja, sie waren drin. Sie brachen an sechs verschiedenen Stellen ein.
MW: An sechs verschiedenen Stellen?
EB: Ja. Sie wussten alles. Sie hatten eine Karte und klare Ziele. Sie wussten, wo die Generatoren sind, woher wir Strom bekommen. Sie wussten, wo Polizeibeamte wohnen. Man fand Karten bei ihren Leichen, auf denen eingezeichnet war, wohin sie gehen sollten.
MW: Wie haben sie all dieses Wissen zusammengetragen?
EB: Noch bis Freitagmorgen hatten Arbeiter aus dem Gazastreifen in Israel gearbeitet. Einige der Arbeiter waren Spione. Sie arbeiteten in den Kibbuzim und in Sderot. Wir haben versucht, ihnen Arbeit zu verschaffen, damit sie ihre Familien ernähren können. Araber aus dem Gazastreifen, die seit zwanzig Jahren in einem Kibbuz arbeiteten und als nette Leute bekannt waren, haben der Hamas gesagt, wo wer wohnt. Ich weiß nicht, ob sie bedroht wurden oder nicht, aber das sind die Fakten. Die Terroristen wussten deshalb genau, wohin sie gehen mussten.
MW: Die Sicherheitskräfte des Kibbuz waren keine Elitesoldaten, sondern gewöhnliche Leute mit Waffen?
EB: Es war der eine oder andere Elitesoldat darunter, aber die meisten von ihnen hatten nur den normalen Wehrdienst geleistet und eine Waffe in der Hand.
MW: Warum hat sich der Kibbuz Mefalsim so erfolgreich verteidigen können?
EB: Zunächst einmal war es ein besonderer Freitagabend. Die Kinder feierten den letzten Ferientag mit einer Campingnacht außerhalb des Kibbuz. Sie schliefen draußen in Zelten. Um halbsieben am Morgen, als der Raketenangriff begann, mussten sie so schnell wie möglich in die Häuser gebracht werden. Der ganze Kibbuz war also um halbsieben auf den Beinen. Unsere Zivilkräfte schliefen im Haus mit ihren Gewehren.
In anderen Kibbuzim hatten die zivilen Wachen keine Gewehre in ihren Häusern. Diese wurden dort jeweils an einem besonderen Ort aufbewahrt. Und die Terroristen wussten genau, wo die Kibbuzim ihre Waffen versteckten. Wer auch immer kam, um eine Waffe zu holen, wurde getötet. In dieser Hinsicht hatten wir Glück.
MW: Gab es einen Plan für eine solche Situation oder ein Training?
EB: Nicht, dass ich wüsste. Vor ein paar Jahren war von einer Bedrohung durch Tunnel die Rede gewesen. Aber in den letzten drei Jahren hieß es, dass die zivilen Schutzleute nicht mehr gebraucht würden. Sie haben die Budgets gekürzt und allen Kibbuzim die Waffen weggenommen. Die Leute durften nicht mehr mit den Gewehren in ihren Häusern schlafen. Sie sagten: Es wird nichts passieren, es wird euch nichts passieren. Das ist ein großes Thema in Israel: Warum haben sie das getan?
MW: Wurden die Gewehre aus den Häusern entfernt, weil man die Aufbewahrung dort für unsicher hielt?
EB: Nein, sie sagten nur, es gäbe keine Bedrohung. Sie brauchten die Gewehre an anderen Orten.
MW: Es gab einen Mangel an Gewehren?
EB: Nein. Sie sagten nur, die braucht ihr nicht.
MW: Warum war das in Mefalsim anders?
EB: Weil die Kibbuz-Security hier sichergestellt hat, dass alle Waffen haben.
MW: Sie sagten, es gab kein einziges Opfer innerhalb Ihres Kibbuz?
EB: Nein, was es gab, war ein Massaker am Eingangstor des Kibbuz, wo Menschen, die keine Bewohner des Kibbuz waren, getötet wurden. Sie waren vom Supernova-Festival in Re’im weggelaufen. Die Terroristen warteten am Tor des Kibbuz auf sie. Sie schossen auf alle, die am Eingang des Kibbuz ankamen, etwa fünfzehn Personen, und töteten sie.
MW: Wann haben Sie Ihr Haus verlassen und was haben Sie dann getan?
EB: Es war Sonntagmorgen, acht Uhr. Als ich zwei Stunden lang keine Explosion und keine Schüsse mehr gehört hatte, hielt ich es für sicher, nach draußen zu gehen. Die Telefonverbindung war wiederhergestellt, also rief ich meine Verlobte in Tel Aviv an. Sie war in Panik. Dann überquerte ich die Straße, ging zu meinem Auto und fuhr herum.
Und dann sah ich das Grauen, etwas, das kein Mensch in seinem Leben sehen sollte. Ich sah das Massaker am Eingangstor. Ich sah die Autos. Ich sah die Motorräder der Terroristen. Ich sah Leichen. Nach zehn Minuten Fahrt sah ich Menschen, die versucht hatten zu fliehen und auf beiden Seiten der Straße abgeschlachtet worden waren. Es lagen immer noch Leichen herum. Es war immer noch Rauch zu sehen. Menschen waren bei lebendigem Leib in ihren Autos verbrannt. Das alles musste ich sehen. Es ist nicht leicht, so etwas mitanzusehen.
Schuldgefühl der Überlebenden
MW: Sind die Menschen jetzt wütend auf die Regierung, weil sie die Bewohner ohne wirksamen Schutz gelassen hat?
EB: Offensichtlich. In meinem Kibbuz kam die Armee um elf Uhr Vormittag, und um zwölf Uhr ging sie wieder. Sie waren eine Stunde lang hier, dann sagten sie, dass sie gehen müssen. Wir mussten uns also einen ganzen Tag lang selbst schützen. Im Kibbuz Nir Oz haben die Terroristen bis zwei oder drei Uhr am Nachmittag getötet, wen sie wollten, und sind dann einfach gegangen. Niemand kam zu Hilfe. Das ist noch viel schrecklicher.
Wir entschuldigen uns dafür, dass wir in unserem Kibbuz überlebt haben. Es ist eine schwierige Situation. Wir haben keine Opfer, keine entführten oder getöteten Menschen, während unsere Kibbuznachbarn massakriert wurden. Wir sind nur zwei Kilometer von Kfar Aza entfernt. Zwei Kilometer von Sderot. Es ist ein Wunder, aber wir wollen dieses Wunder nicht, weißt du, es ist hart.
MW: So etwas wie survivor’s guilt, das Schuldgefühl der Überlebenden?
EB: Ja, so etwas in der Art.
MW: Was können Sie über die Solidarität nach dem 7. Oktober sagen?
EB: Nach dem 7. Oktober haben wir gesehen, wie besonders dieses Land ist. Die Bürger helfen sich gegenseitig im ganzen Land. Ich bin mit einer kleinen Tasche von zu Hause fort, ich dachte, ich würde nur zweiundsiebzig Stunden weg sein. Ich habe nicht einmal Unterhosen eingepackt. Ich hatte nichts. Keine Schuhe, ich habe Sandalen getragen. Die Leute haben für mich gespendet, ich habe Kleidung, ich habe Schuhe bekommen. Die Menschen sind sehr, sehr hilfsbereit. In den ersten Wochen haben wir uns gegenseitig geholfen und gesehen, wie kraftvoll die Zivilbevölkerung ist – nicht die Regierung.
MW: Mefalsim ist derzeit Militärgebiet und niemand darf es betreten, richtig?
EB: Man darf tagsüber kommen und sich Kleidung zu holen. Schlafen darf man dort nicht.
MW: Wie ist die Stimmung derzeit in Herzliya?
EB: Es ist sehr hart. Ich bin jung und habe keine Kinder. Sie können sich vorstellen, wie es ist, wenn eine Familie mit drei oder vier Kindern fast zwei Monate in einem Hotelzimmer verbringen muss. Es ist hier wie in einer Blase. Es ist gut, dass die Leute aus dem Kibbuz hier zusammen sind. Aber es ist auch schwierig. Wir haben keine eigene Küche, keine Waschmaschine. Es fehlt an vielen Dingen. Man hat keine Unabhängigkeit.
MW: Werden Sie und die Menschen aus Ihrer Umgebung sich in Therapie begeben?
EB: Sie versuchen, uns eine Therapie anzubieten. Die Regierung stellt Geld für die Behandlung von traumatisierten Menschen zur Verfügung. Es ist sehr wichtig, eine Therapie zu machen und einen Spezialisten aufzusuchen. Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste.
MW: Haben Sie mit den Sicherheitskräften gesprochen, die die Terroristen bekämpft haben?
EB: Ja, natürlich. Das Militär sind wir. In Israel gibt es keine Geheimnisse. Man kann jederzeit mit dem Militär sprechen. Ich habe einen Freund, der bei den Spezialeinheiten ist und gegen Terroristen gekämpft hat. In den ersten zwei Wochen habe ich viele Erzählungen gehört. Jetzt bin ich ja nicht mehr im Kibbuz, ich bin im Hotel. Und trotzdem sprechen wir fast jeden Tag darüber.
Wunsch nach Frieden
MW: Am Donnerstag gab es einen weiteren Terroranschlag in Jerusalem.
EB: Ja. In Jerusalem sieht man, dass sie einfach kommen und unschuldige Menschen erschießen. In anderen Ländern kämpft eine Armee gegen eine Armee, aber hier haben sie einen 70-jährigen Rabbiner erschossen. Sie haben eine Frau erschossen. Und sie werden zu Helden, weil sie unschuldige, unbewaffnete Menschen getötet haben. Abbas bezahlt sie und für die Welt sind sie Opfer, ›arme Palästinenser‹. Alles ist verdreht. Man redet von ›Geiselaustausch‹, aber es sind keine Geiseln, es sind Terroristen. Ausgetauscht gegen Kinder.
Ich hoffe, die Welt ist nicht so verrückt, wie sie von den israelischen Medien dargestellt wird. In den israelischen Medien zeigen sie uns nur, dass wir keine Unterstützung in der Welt bekommen. Aber ich weiß, dass das nicht wahr ist. Ich weiß, dass es immer und überall 50:50 ist: Es gibt Menschen, die hassen, und Menschen, die lieben.
MW: Gibt es einen Meinungsumschwung in der israelischen Linken, die jahrelang Israel dafür verantwortlich gemacht hat, dass es keinen Frieden mit den Palästinensern gibt?
EB: Die meisten der betroffenen Kibbuzim sind links: Kfar Aza, Be’eri, Nir Oz, es sind linke Kibbuzim. Ich denke nicht, dass sie sich für ihren Wunsch nach Frieden entschuldigen müssen. Das ist ein natürliches menschliches Bedürfnis. Manche Leute sagen jetzt: ›Die Linke hat eine Lektion gelernt.‹ Nein, Entschuldigung, viele Menschen wollen Frieden. Die Menschen, die den Holocaust, den Jom-Kippur-Krieg und immer mehr Kriege überlebt haben, wollen, dass ihre Kinder nicht im Krieg sind. Das ist nichts, wofür man sich schämen müsste.
So, wie die Linke eine Lektion gelernt hat, muss auch die Rechte, die in den vergangenen zwanzig Jahren dieselben Leute an der Macht gehalten hat, eine Lektion lernen – dieselben Leute, die die Hamas stärker gemacht haben. So, wie die Linke aufgewacht ist, muss auch die Rechte aufwachen. Natürlich bin ich nicht glücklich darüber, dass jemand auf diese Weise eine Lektion lernt.
MW: Welche Zukunft sehen Sie für Israel und das jüdische Volk?
EB: In der Geschichte des jüdischen Volkes hat es immer Menschen gegeben, die versucht haben, uns zu dämonisieren, zu vertreiben, zu töten. Im Hebräischen haben wir den Spruch ›Am Yisrael Chai‹, was bedeutet, dass das jüdische Volk am Leben bleiben wird, egal, wie sehr man uns hasst. Wir sind hier und bleiben, wir gehen nirgendwo hin. Und das gilt auch für die Araber. Ich hoffe, dass die Menschen lernen, miteinander zu leben und diese Generation das Blutvergießen beenden wird. Wir wissen nicht, was kommen wird, aber wir bleiben stark.