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Was wird aus den Kibbuzim in Israels Süden? (Teil 1)

Bilder der Verwüstung im Kibbuz Be’eri im Süden Israels
Bilder der Verwüstung im Kibbuz Be’eri im Süden Israels (Imago Images / Belga)

Viele der Kibbuzim, in denen die Hamas-Terroristen wüteten und mordeten, sind evakuiert und wegen der Kampfhandlungen im Gazastreifen momentan militärische Sperrzone. Wie wird es für die Menschen und ihre Gemeinschaften weitergehen?

Israelis, die ihr Zuhause in der Grenzregion zum Gazastreifen haben, waren sich bis zum 7. Oktober einig: Zu 95 Prozent der Zeit sei es eine wunderbare Lebensumgebung mit fantastischem Gemeinschaftsleben, geradezu ein Paradies. Nur zu fünf Prozent der Zeit, wenn ein Beschuss aus dem Gazastreifen erfolgt, werde ihre Lebenswelt zur Hölle. Am 7. Oktober 2023 verwandelten die Hamas-Terroristen diese Orte in hundert Prozent Hölle auf Erden, die Hunderten von Menschen das Leben kostete und innerhalb kürzester Zeit so viele physisch und psychisch verletzte wie nie zuvor in Israels Geschichte.

Es ist ein Albtraum, der anhält, da immer noch nicht alle Leichen identifiziert sind, das Schicksal der Verschollenen zum Teil unaufgeklärt ist und weiterhin Israelis unter grausamsten Bedingungen als Geiseln im Gazastreifen festgehalten werden. Dieser höllische Albtraum zeichnet die Überlebenden und ihre Familien und fügte der israelischen Gesellschaft ein kollektives Trauma zu, das Spuren hinterlassen wird. Dieser Abgrund, der sich in Israels Geschichte aufgetan hat, wirft quälende Fragen bezüglich der Zukunft der Gaza-Grenzregion und ihrer Kibbuzim auf.

Status quo

Gegenwärtig sind rund 70.000 Einwohner der Gaza-Grenzregion evakuiert, darunter nicht nur die direkt an der Grenze liegenden Kibbuzim, sondern auch 30.000 Einwohner der Kleinstadt Sderot und des Dorfes Ibim. Insgesamt wurden 25 Kibbuzim geräumt

Am 7. Oktober und in den nachfolgenden Tagen öffneten zunächst andere Kibbuzim ihre Tore für die geretteten und geflohenen Mitglieder der überfallenen Kibbuzim. So kamen beispielsweise die Überlebenden des Kibbuz Kfar Aza im Hotel des Kibbuz Shefayim bei Herzlija unter. Die Kibbuz-Gemeinschaft von Kfar Aza, deren Überlebende nicht ausschließlich in Shefayim weilen und die einmal achthundert Mitglieder zählte, muss über sechzig Ermordete und fast zwanzig entführte Mitglieder beklagen, von denen bislang wenigstens einige zurückkehrten.

Es dauerte, bis die staatlichen Behörden auf die Situation reagierten und Sorge dafür trugen, dass die Evakuierten auf geordnete Weise in Unterkünfte dirigiert und die Bewohner der Kibbuzim möglichst als Gemeinschaften zusammengefasst an einem Ort untergebracht wurden. 

Die noch lebenden Mitglieder der Kibbuzim Be´eri und Nir Oz, die ebenfalls unsägliche Massaker überstanden, kamen in Hotels in Ein Bokek am Toten Meer und in Eilat unter. Nir Oz zählt jetzt kaum mehr 300 Mitglieder, denn fast vierzig wurden ermordet und rund achtzig entführt. Der mit 1.100 Mitgliedern größere Kibbuz Be´eri trauert um hundert Menschen und bangt ebenfalls weiterhin um die Geiseln aus seiner Mitte. Gerade diese beiden Kibbuzim erhielten in den letzten zwei Wochen immer wieder Nachrichten, dass Mitglieder ihrer Gemeinschaft in der Hamas-Geiselhaft ermordet worden sind.

Auch die anderen Kibbuzim wurden möglichst gemeinschaftlich untergebracht, doch nicht nur Ermordete und Geiseln fehlen. Ältere Kibbuz-Mitglieder entschieden sich manchmal dafür, zu ihren Kindern zu ziehen, während andere Kibbuz-Senioren in Pflegeheimen untergebracht werden mussten. Ihre Versorgung wäre in Hotels schwerlich möglich. Gemeinschaften, die zueinander fanden, weil sie einen Lebensweg und eine Lebensvision teilen, sind gezeichnet, zerrissen und blicken auf eine unsichere Zukunft.

Implikationen der Sachschäden

Die schwierige Lage vor Ort hängt auch damit zusammen, dass alle Kibbuzim Sachschäden infolge des Raketenbeschusses verzeichnen müssen. Gerade die genannten drei sind jedoch aufgrund der gelegten Brände und verübten Verwüstungen durch Hamas-Terroristen sowie der Abwehrkämpfe seitens Israel mehrheitlich unbewohnbar geworden.

Zugleich sind die Einkunftsquellen dieser Gemeinschaften massiv in Mitleidenschaft gezogen. Die Landwirtschaft, die weiterhin eine der Haupteinkunftsquellen der Kibbuzim ist, liegt seit Wochen fast gänzlich brach. Betriebe, von Low- bis Hightech, blicken auf Wochen des Totalausfalls mit nur dürftigen staatlichen Kompensationen und konnten bisher nur in Ausnahmefällen und mit wenigen Arbeitskräften ihre Tätigkeit teilweise wiederaufnehmen.

Zudem können jene Mitglieder, die durch eine Erwerbstätigkeit außerhalb der Kibbuzim zum Gemeinschaftsbudget beitragen, von den Orten ihrer Evakuierung aus nicht mehr zu ihren Arbeitsplätzen kommen. Ein rasch verabschiedetes Gesetz, das es unmöglich macht, ihnen zu kündigen, gleicht den Ausfall nicht aus, da die staatlichen Hilfen geringer ausfallen als etwa zu Zeiten der COVID-Pandemie. Wer selbstständig ist, steht in vielen Fällen am Rand des wirtschaftlichen Ruins. Nicht zu reden von jenen Überlebenden, die wegen ihrer gegenwärtigen Verfassung nicht dazu in der Lage sind, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

Die Frage aller Fragen

Einige Kibbuzniks der Grenzregion kannten die Antwort auf die naheliegende Frage sofort: Natürlich kehren wir zurück! Für sie ist klar, keinen einzigen Meter zu weichen, im Gegenteil. Als Mitglieder kollektiver Gemeinschaften, deren Gründer diese Region unter vielen Widrigkeiten ab den 1940er Jahren – sowohl vor als auch nach der Staatsgründung – aufgebaut haben, werden sie diesen Weg des zionistischen Bekenntnisses zum Land ebenso wenig aufgeben, wie sie Einsatz, Entbehrungen und Opfer der Generationen vor ihnen vergessen oder gar verraten werden, so – wie einige meinen – wie ihre Generation am 7. Oktober von Armee und Staat verraten worden sei.

Anderen ist hingegen klar, dass sie noch nicht einmal die blutgetränkten Wege der einstmals blühenden Kibbuzim entlanglaufen und auch nicht die Häuser betreten, geschweige denn wieder in ihnen wohnen können – mussten sie dort doch die schlimmsten Stunden ihres Lebens verbringen.

Wieder andere wissen nicht, was sie letztlich machen werden. Es ist zu früh, so meinen sie, die Frage bezüglich einer Rückkehr an die Orte des Schreckens zu beantworten, obwohl sie dieses Dilemma tagtäglich beschäftige, schließlich handelt es sich um ihr Zuhause.

Die größten Vorbehalte

Alle merken jedoch noch etwas Grundlegendes an, auch die Einwohner von Sderot, und die Landräte der betroffenen Regionalverwaltungen werden nicht müde, diese Forderung vor allem in den Medien auszusprechen, da Premier Benjamin Netanjahu erst Ende November Zeit für sie fand: »Wir werden nur zurückkehren, wenn unsere Sicherheit gewährleistet ist«, wird betont.

In Zusammenhang damit sind verschiedene Forderungen laut geworden, darunter keineswegs nur die ebenso klare wie auf der Hand liegende Ansage, dass ein Nachbar wie die Hamas vollkommen inakzeptabel sei. Dabei kommen nicht nur die Ereignisse vom 7. Oktober zum Tragen, sondern auch der über zwei Jahrzehnte währende Raketenbeschuss. Seit Januar 2001 fügte dieser Beschuss der Region großen wirtschaftlichen Schaden zu, gab es doch kein einziges Jahr ohne Beschuss durch Mörser und Raketen. Das bescherte physisch und psychisch gezeichnete Menschen, die dem bislang mit viel Widerstandskraft getrotzt haben, nun aber nicht mehr gewillt sind, mit dieser Bedrohung zu leben.

Erste Regierungsankündigungen

Man kann nicht oft genug darauf verweisen, dass die Regierung und alle Ministerien in der Notlage, die der 7. Oktober zur Folge hatte, über Tage hinweg gänzlich abwesend waren. Es waren bestehende NGOs und ad hoc gegründete Initiativen, welche die Lage zunächst bewältigten. Erst nach Wochen sprangen staatliche Hilfsprogramme an, allerdings mit Tücken und Lücken, so auch, wenn es um die Frage geht, wie es nach den Monaten des Ausharrens in Hotels weitergehen soll.

Die Regierung geht davon aus, dass die Mitglieder einiger Kibbuzim ab Januar 2024 zurückkehren können, vor allem in jene Kibbuzim, die nicht zerstört wurden. Dem halten wie erwähnt durchweg alle Betroffenen ihre Sicherheitsbedenken entgegen; keiner glaubt, dass diese Herausforderung bis dahin tatsächlich gelöst werden wird. Sie sehen sich in ihrem Zweifel zusätzlich bestätigt, da die Bereitschaftsteams der Ortschaften immer noch nicht umfassend ausgerüstet sind und die Armee erst kürzlich bekannt gab, ihre Präsenz in den Gemeinschaften der Gaza-Grenzregion wieder zu reduzieren.

Man muss davon ausgehen, dass die Kluft zwischen den Vorstellungen beider Seiten in den ersten Wochen des kommenden Jahrs zu Konfrontationen führen werden. Denn was ist, wenn der Staat die Hilfsprogramme für Evakuierte auslaufen lässt, Betroffene aber nicht zurückkehren wollen? Eine Fortsetzung der Notlage scheint vorprogrammiert. Leidtragende werden mit Sicherheit die betroffenen Menschen sein, für die der Albtraum auch in dieser Hinsicht längst noch nicht vorbei ist.

Teil 2 des Berichts finden Sie hier.

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