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Die arabisch-jüdischen Unruhen in Israel – Versuch einer Einordnung (Teil 1)

Israelische Polizei in Lod versucht, die Ruhe in der Stadt wiederherzustellen
Israelische Polizei in Lod versucht, die Ruhe in der Stadt wiederherzustellen (© Imago Images / ZUMA Wire)

Auch in der Vergangenheit warfen Gewaltaubrüche Schatten auf das Verhältnis zwischen Juden und Arabern in Israel. Dieses Mal waren die Unruhen noch schlimmer als in der Vergangenheit. Ein Blick unter die Oberfläche zeigt: Einiges ist noch sehr viel komplizierter als auf den ersten Blick erkennbar.

An vielen Orten kam es zum Ende des muslimischen Fastenmonates zu Spannungen. Von Jerusalem ausgehend, erfassten die Unruhen bald ganz Israel. Zunächst gab es Ausschreitungen in Städten, in denen Juden und Araber Tür an Tür wohnen, wie in Lod und Ramle, in Jaffa, Haifa und Akko. Danach erfasste die Welle der Gewalttätigkeiten im Handumdrehen fast alle Städte des Landes. Man hatte den Eindruck, es herrscht Bürgerkrieg.

Vandalismus

Tatsächlich zogen nicht nur in vielen Orten Menschenmengen skandierend und randalierend um die Häuser, sondern auch zentrale Verkehrswege in allen Landesregionen wurden blockiert. Die Israelis erlebten entweder direkt vor der eigenen Haustür oder an den Bildschirmen, dass arabische Bürger eine Spur der Verwüstung hinterließen. Schier alles, was sich kaputtmachen und in Brand stecken ließ, wurde zerstört.

Zielscheibe des Mobs waren öffentliche Einrichtungen ebenso wie privates Eigentum. Neben unzähligen Pkws, Geschäften und Restaurants wurden Wohnungen jüdischer Bürger in Brand gesteckt und geplündert.

Dass der Vandalismus sich auch gegen Synagogen richtete, steigerte das Entsetzen. Die Bilder der geschändeten jüdischen Gotteshäuser einhergehend mit dem Ruf „Allahu Akbar“ ließen schmerzliche Erinnerungen an die Oberfläche treten. Von „Kristallnacht im eigenen Land“ war die Rede, eine Assoziation, die nicht nur aschkenasischen Juden in den Sinn kam, sondern auch jüdischen Bürgern des Staates, die traumatische Erinnerungen aus ihrer Kindheit an schwierige Momente in Casablanca, Kairo, Bagdad und anderen Städten des Orients haben.

„Jagd auf Menschen“

Dieses Entsetzen steigerte sich, als keiner mehr leugnen konnte, dass in den Straßen Israels „Jagd auf Menschen“ gemacht wird. Menschen wurden aus Autos gezerrt, die Straßen entlanggehetzt oder in Hauseingängen gestellt, um auf sie loszugehen. Brandsätze flogen, um Unbeteiligten möglichst großen Schaden zuzufügen.

In anderen Fällen kam es zu Übergriffen mit Eisenstangen und Messern. Hier und da fielen sogar Schüsse. An mehreren Orten kam es zu Szenen, die man als Versuche bezeichnen muss, Menschen, wie zum Beispiel zufällig in die Nähe des Mobs geratene Hundehalter beim Gassi-Gang, auf grausame Art und Weise zu lynchen.

Das war das Schicksal eines Einwohners der zentralisraelischen Stadt Lod. Auf dem Nachhauseweg von einer Torah-Einführungszeremonie in einer Synagoge traf den 56-jährigen Yigal Yehoshua ein Stein am Kopf. Wenige Tage später war er das erste jüdische Todesopfer der Unruhen. Und doch sagt seine Familie, dass er weiterlebt, denn seine Organe retteten anderen das Leben; darunter eine Jerusalemer Araberin, der man seine Niere transplantierte.

Finger weg vom Schubladendenken!

Zu diesem Zeitpunkt zogen längst nicht mehr nur arabische Bürger durch die Straßen. Ob beteiligt oder unbeteiligt, schon bald wurden auch Araber zur Zielscheibe. Der Vorfall eines in Bat Yam angegriffenen Arabers ließ Premier Netanjahu ausführen, dass keiner – ob Araber oder Jude – das Gesetz in die eigene Hand nehmen darf. Aber genau das geschah, und meist andersherum, als es dem in Europa so gängigen Schubladendenken entspricht.

Nächtelang kam es zu solchen Ausschreitungen und selbst eine bloß schlagwortartige Liste der Vorkommnisse würde Seiten füllen.

Das jedoch erklärt nicht, warum in dieser Situation vorschnell Schlüsse gezogen wurden, darunter von inländischen, aber insbesondere den ausländischen Medien. Brennt ein arabisches Haus, wie in Jaffa geschehen, müssen dahinter, das ist schließlich klar, Juden stecken. Wie wichtig es ist, die Aufklärung abzuwarten, zeigte dann die Verhaftung eines arabischen Verdächtigen. Zweifellos werden weitere Verhaftungen in zahllosen Fällen schwerer Verbrechen folgen, was durchaus weitere unerwartete Überraschungen ans Licht bringen könnte.

Das „normative“ Israel blieb zuhause

Alle Beteiligten, Araber wie Juden, ließen hasserfüllten Emotionen freien Lauf. Dieser Schlussfolgerung muss ebenso Augenmerk gewidmet werden, wie einem oftmals übersehenen Aspekt: Das „normative“ Israel war nicht auf den Straßen. Es war ein Mob – zugegeben, ein zahlenmäßig viel zu großer Mob –, der um die Häuser zog, aber dennoch war es lediglich eine Minderheit.

Eine weitere Minderheit – Juden, Muslime und Christen – saß in ihren Heimen und bangte wegen der Vorgänge direkt vor ihren Haustüren. Die überwältigende Mehrheit der Israelis hingegen verfolgte die Vorgänge an den Fernsehbildschirmen, unterbrochen von den Raketenalarmen, die für weite Teile des Landes immer wieder gegeben werden mussten.

Scharfmacher

Allen voran – so bestätigte inzwischen nicht nur die Polizei, sondern zudem der Inlandsgeheimdienst Shabak – marschierten Extremisten. Sie brachten einen Schneeball ins Rollen, der zur Lawine wurde. Sie rissen andere mit, die bereitwillig, ja sogar enthusiastisch mitmachten, während wieder andere sich von der aufgeheizten Atmosphäre hinreißen ließen.

Auch wenn das die Ereignisse keinen, aber auch gar keinen Deut besser macht, so sollte man sich doch vor Augen halten: Ereignisse dieser Art, die Israel nicht zum ersten Mal erleben musste, haben sicherlich das Potenzial weitere Ausschreitungen nach sich zu ziehen – doch genauso wenig wie es stimmt, dass ganz Israel auf den Straßen war, genauso wenig war Bürgerkrieg ausgebrochen.

Überforderte Polizei

Dass sich die Ereignisse zu einem Zeitpunkt zutrugen, als Israels Armee wegen des Raketenbeschusses israelischer Zivilisten an vielen Fronten gefordert war, trug zum Entsetzen des Landes bei. Das wurde weiter gesteigert, weil sich Israels chronisch unterbesetzte Polizei erst nach einer ganzen Weile und lediglich mit Verstärkung der Grenzpolizei die Oberhand verschaffen konnte.

In dieser Situation kamen Erinnerungen an die Ereignisse von Oktober 2000 hoch, als es kurz nach Ausbruch der Zweiten Intifada ebenfalls zu schweren Unruhen gekommen war. Damals kamen wegen des Schusswaffengebrauchs der Ordnungshüter dreizehnn arabische Israelis und ein Palästinenser ums Leben. Dieses Mal muss man der Polizei jedoch wenigstens zugutehalten, dass sie die nach den Unruhen vom Herbst 2000 von einer Untersuchungskommission ausgesprochenen Empfehlungen umzusetzen versuchte.

Inlandsgeheimdienst Shabak in Aktion

Der Inlandsgeheimdienst Shabak kam vor einigen Tagen zu der vorläufigen Schlussfolgerung, dass auf arabischer Seite in erster Linie Personen involviert waren, die ansonsten ihre eigene Gesellschaft mit Bandenkriminalität drangsalieren und mit illegalen Schusswaffen viele Leben fordern.

Trotz wiederholter Forderungen, diesem „apokalyptischen Szenario“ durch gezieltes Einsammeln der Waffen ein Ende zu setzen, hatte der Shabak abgelehnt. Für Ruhe und Ordnung, so betonte man, sei die Polizei zuständig, der Inlandsgeheimdienst kümmere man sich um die „Bekämpfung von Terror vor nationalem sicherheitspolitischem Hintergrund“.

Inzwischen ist der Shabak sehr wohl an der Seite der Polizei und deren Antiterror-Einheit (JAMAM) involviert, aber nur, um der Polizei bei der Aufklärung der kürzlich verübten Hassverbrechen zu helfen. Und so sorgten die illegalen Schusswaffen in der Hand von Arabern nur wenige Tage nach den Unruhen dafür, dass schon wieder mehrere arabische Todesopfer zu beklagen waren.

Mehrfache Asymmetrie

Regierung und Führungspersönlichkeiten mit Einfluss in diversen Bereichen des öffentlichen Lebens wachten trotz lichterloh brennender Straßen nur allmählich auf; nicht nur bezüglich viel zu spät erteilter Order an die Ordnungshüter. Als endlich Aufrufe zur Zurückhaltung ergingen, schien jede vereinzelt abgegebene Stimme im Lärm von Krieg und Unruhen unterzugehen.

Nach Abflauen der Unruhen meldete sich Polizist-Chef Kobi Shabtai zu Wort. Zu diesem Zeitpunkt (18. Mai) saßen mehrere Hundert Personen in Haft und gegen 116 war bereits Anklage erhoben worden. Seinem Statement: „Aus meiner Perspektive ist jeder, der sich an den Ausschreitungen beteiligt hat, ein Terrorist“, fügte er im Nachgang an, damit gleichermaßen Bezug auf beide Seiten – auf die arabische wie die jüdische – zu nehmen.

Zu dem Zeitpunkt war noch nicht einmal eine Minderheit der randalierenden Minderheit dingfest gemacht. Dass die Medien des Landes vermeldeten, die Beschuldigte seien Araber, verwunderte keinen. Dass die Beschuldigten jedoch ausschließlich Araber waren, ließ ein kritisches, pluralistisches Israel aufhorchen.

Umso mehr Gewicht bekamen die Ausführungen des Polizei-Chefs. Der allerdings fing sich einen Rüffel von keinem geringeren als dem Minister für innere Sicherheit ein: In aller Öffentlichkeit bezeichnete Minister Amir Ohana die Absicht des Polizei-Chefs als „empörend“, denn seiner Auffassung nach sollten im ausschließlichen Fokus der Ermittlungen die arabischen Unruhestifter stehen.

Da war sie wieder, diese Tendenz, diese gewisse Einseitigkeit mit Potenzial, das gesellschaftliche Gefüge Israels erneut in Wallung zu versetzen. Dass es dazu nur recht wenig braucht, weiß die Stadt Lod wie keine andere. Sie hatte es als Mikrokosmos der facettenreichen israelischen Gesellschaft erst wenige Tage zuvor vorgemacht und gezeigt: Bei den Unruhen schwingt mehr mit, als auf den ersten Blick erkennbar.

Was dieses Mehr ist, darum, wird es demnächst hier erscheinenden Teil 2 der Serie gehen.

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