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Nach dem Hamas-Massaker: Als Israels Bürger das Ruder übernahmen

Beerdigung von fünf Familienmitgliedern aus dem israelischen Kibbuz Kfar Aza
Beerdigung von fünf Familienmitgliedern aus dem israelischen Kibbuz Kfar Aza (Imago Images / ABACAPRESS

Neben den 1.100 Zivilisten hat Israel auch über dreihundert tote Soldaten zu beklagen. Ein ganzes Land war im Schock, doch keineswegs in Schockstarre.

Als am 7. Oktober im Laufe des Vormittags die Nachrichten über die Vorgänge auf israelischem Hoheitsgebiet entlang der Grenze zum Gazastreifen zu einer Flut anwuchsen, waren längst alle, die helfen konnten, unterwegs. Wenngleich die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) an ihren Stützpunkten entlang der Grenze ebenfalls überrascht und größtenteils operationsunfähig gemacht worden waren, kämpften einzelne Soldaten nach besten Kräften weiter. Eilig in Gang gesetzte Einheiten und Kommandos der IDF zu Boden wie zu Luft als auch Polizisten und Grenzpolizisten wurden an viele Orte der Region verschickt.

Am Tag des Massakers fielen Hunderte israelische Uniformierte, Juden wie Muslime, im Kampf um die Verteidigung der Zivilisten und des Landes. Seit damals verzeichnete Israel zu den zivilen Opfern auch 312 gefallene Uniformierte. Und doch waren am 7. Oktober und danach immer wieder die Fragen zu hören: Wo war die Armee? Wo war die Polizei?

Es wird noch lange dauern, bis man nach eingehenden Untersuchungen detaillierte Antworten auf diese Fragen haben wird. Bislang kann man auf alle Fälle festhalten: Nicht nur der Überraschungseffekt verzögerte die israelische Reaktion. Auch die große Anzahl der mit militärischer Präzision und Ausrüstung aufeinander abgestimmten Übergriffe der Hamas-Nukhba-Elitekommandos an Dutzenden Orten bereitete den israelischen Sicherheitskräften größte Probleme.

In Khaki und doch privat unterwegs

In dieser undurchsichtigen, hochgradig dynamischen Situation warteten viele Israelis nicht auf einen Marschbefehl. Männer schnappten Reserveuniform, Helm, Weste und Waffe und fuhren in Privatwagen los. In Eilat beispielsweise hörten drei Reservisten einer kämpfenden Elitetruppe nur kurze Zeit nach dessen Beginn von dem Überfall. Ohne offiziellen Auftrag – und somit letztlich als Zivilisten – machten sie sich auf den Weg, um zwei Stunden später in der südlichen Grenzregion zum Gazastreifen einzutreffen.

Im Kibbuz Sufa, der rund zweihundert Mitglieder zählt, hatte der IDF-Verbindungsoffizier die Dutzenden Terroristen recht früh entdeckt. Er und seine sechsköpfige Bereitschaft konnten sie auf Distanz halten, hätten aber ohne die Verstärkung der aus Eilat herbeigeeilten Reservisten nicht mehr lange durchgehalten. Erst sechs Stunden später trafen die ersten entsandten offiziellen Truppen ein. Der Kibbuz beklagt drei ermordete Mitglieder. Die nach Eilat evakuierten Kibbuzniks trafen am 15. Oktober ihre Retter, um ihnen und ihrem aufmerksamen IDF-Verbindungsoffizier zu danken.

Doch nicht nur unzählige junge Israelis mit Kampferfahrung machten sich, ohne lange zu überlegen, auf den Weg. Auch der 66-jährige Israel Ziv, der 2005 nach 35 Jahren bei den IDF im Dienstgrad eines Generals aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war, fuhr Richtung Süden. Er stieß immer wieder auf Terroristen und bestritt heftige Schusswechsel. Manchmal schloss er sich mit versprengten Soldaten zusammen. Im Kibbuz Nahal Oz konnte Ziv gemeinsam mit einem weiteren »Opa« dort lebende Menschen retten: Auch der 61-jährige Ex-General Noam Tibon war einfach losgefahren. Sich auf dem Weg treffend, retteten sie, unterstützt von versprengt kämpfenden Angehörigen von Elitetruppen, viele Menschen, darunter Tibons Sohn mit Schwiegertochter und den beiden kleinen Enkelinnen.

Wenn Journalisten zu Rettern werden

Man konnte am frühen Morgen des 7. Oktober auch den TV-Moderatoren ansehen, dass sie ratlos waren, was es mit diesem massiven Raketenbeschuss auf sich hatte. Doch schnell waren sie diejenigen, bei denen immer mehr Anrufe eingingen, in denen über Terroristen in vielen Kibbuzim und Dörfern berichtet wurde. Um ihr Leben bangende Menschen drangen nicht mehr zu den Telefonzentralen der Polizei und Rettungsdienste durch, da alle Leitungen belegt waren. Schafften sie es dennoch, hörten sie, dass Hilfe auf dem Weg sei. Doch die Zeit verstrich, ohne dass Hilfe eintraf. Somit kontaktierten viele verzweifelte Menschen Journalisten.

Hinter den Kulissen leiteten nicht wenige Medienvertreter private Hilfsaktionen ein, darunter auch die israelisch-arabische Journalistin Lucy Aharish, die für den Sender Channel 13 arbeitet. Sie erhielt GPS-Daten und informierte ihren Ehemann, den aus der Netflix-Serie Fauda bekannten Schauspieler Tzahi Halevi, der ein Team seiner Reserveeinheit zusammentrommelte. Freunde der geretteten zwei Familien, die Aharish kontaktiert hatten, sagten später: »Lucy gab die Information nicht einfach nur weiter, sie dirigierte die private Rettungsaktion und hielt die ganze Zeit über Kontakt.«

Nur wenig später formulete sie als Nachrichtenmoderatorin eines der deutlichsten Statements, die von israelischen Journalisten zu dem Hamas-Pogrom in die Welt geschickt wurden. Dass sie diese Worte als israelische Araberin fand und zudem auf Hebräisch, Arabisch und Englisch sprach, unterstrich ihre Botschaft.

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In wenigen Stunden vollzogene Kehrtwende

Kaum viereinhalb Stunden nach Beginn des Überfalls gab eine der bedeutsamsten Vereinigungen der Protestbewegung gegen die Justizreform, die Organisation Brothers and Sisters in Arms, zu der sich im Januar 2023 Reservisten der IDF zusammengeschlossen hatte, bekannt, dass alle Proteste abgesagt und stattdessen Hilfsmaßnahmen angelaufen seien.

Innerhalb weniger Stunden stellte die Führungsspitze, deren Mitglieder insbesondere von Regierungsangehörigen durchwegs als »linke Verräter« beschimpft worden waren, einen »War Room« auf dem Tel Aviver Expo-Gelände auf die Beine. Auch organisierten sie die Errichtung eines Logistikzentrum an der Kama-Kreuzung im Süden Israels, um ohne Marschbefehl aufgebrochene Reservisten mit Helmen und Schutzwesten auszustatten.

Schnell schlossen sich weitere Vereinigungen der Protestbewegung wie beispielsweise die von Frauen ins Leben gerufene Organisation Building an Alternative an. In den nachfolgenden Tagen fanden sich hier tagtäglich mehr als 15.000 Ehrenamtliche ein, um eine breite Palette von Hilfsgütern entgegenzunehmen und für deren Verteilung im ganzen Land an Überlebende, denen nichts geblieben ist, an Evakuierte, die im besten Fall mit einem Koffer im Hotel sitzen, an trauernde Familien, Reservisten und andere Bedürftige zu sorgen.

Ebenfalls bereits am »Schwarzen Shabbat« fand sich Israels Hightech-Elite zusammen, um mithilfe von künstlicher Intelligenz in den Netzwerken kursierende Videoclips mit Fotos von Vermissten abzugleichen. Auch sie richteten ihr Hauptquartier auf dem Tel Aviver Expo-Gelände ein und trugen viele Tage vor den ersten zaghaften Regierungsinitiativen dazu bei, dass Verwandte über das Schicksal ihrer Angehörigen nicht im Ungewissen blieben.

Häufig übernahmen gemeinnützige Vereine die weitere Betreuung dieser Menschen. Zwar ernannte Premier Benjamin Netanjahu am 8. Oktober Ex-Brigadegeneral Gal Hirsch zum interministerialen Koordinator für die Vermissten, doch ein staatliches Koordinationszentrum funktionierte auch Tage später immer noch nicht; ganz abgesehen davon, dass Hirsch erst drei Wochen nach dem »Schwarzen Shabbat« erstmals umfassenden Kontakt zu den betroffenen Familien aufnahm.

Ein ganzes Land in Aktion

Am Shabbat schien ganz Israel im Schock. Am Sonntag waren viele wie paralysiert. Doch spätestens am Montag erwachten alle aus der Starre; egal, ob Linke oder Rechte, Juden, Muslime, Christen, Drusen oder Tscherkessen, Religiöse oder Säkulare. Unendlich viele Privatinitiativen, die in ihrem Umkreis Gutes tun wollten, schwollen innerhalb kürzester Zeit zu Großoperationen an:

  • Restaurants vor allem im Großraum Tel Aviv blieben geschlossen und doch war Hochbetrieb angesagt, denn Personal, Ehrenamtliche und potenzielle Kunden kochten, um Reservisten und Tausende, die in Krankenhäusern tagelang nach Verwandten suchten, ebenso wie Gerettete mit warmen Mahlzeiten zu versorgen;
  • Kinder spendeten anderen Kindern Spielzeug und Kuscheltiere, deren landesweite Verteilung von den Müttern organisiert wurde;
  • religiöse Frauen errichteten ein Portal, um dem ganzen Land Orte und Zeiten von Bestattungen zugänglich zu machen;
  • eine Initiative fand sich zusammen, um Kränze für Beerdigungen zu binden;
  • Menschen meldeten sich freiwillig, um trotz der Gefahr für ihr eigenes Leben durch den unaufhörlichen Mörserbeschusses Haustiere in Kibbuzim und Dörfern zu retten;
  • Privatinitiativen von Bürgern brachten ihre Kommunen samt Bauunternehmer dazu, fast bezugsfähige Neubauwohnungen rasch fertigzustellen, um danach eigenhändig für die Ausstattung zu sorgen, um kinderreichen Familien Unterkünfte zu ermöglichen;
  • Frauen in Tiberias am See Genezareth wollten etwas für Gerettete und Evakuierte in den Hotels der Stadt tun. Sie holten deren Wäsche ab, wuschen sie und brachten sie mit einem persönlichen Gruß zurück. Auch dieses Beispiel machte landesweit Schule und hilft über 120.000 evakuierten israelischen Zivilisten;
  • Friseure und Chefköche mit Foodtrucks fuhren zu den Reservisten, die inzwischen teilweise seit drei Wochen in Zelten im Süden wie im Norden campieren müssen; Kibbuzniks errichteten mobile Duschkabinen;
  • Eine Woche nach dem »Schwarzen Shabbat« berichteten die Medien, Israel stünde ein Gemüse- und Obstengpass bevor. Schon am nächsten Morgen erschienen Zehntausende 50- bis 70-Jährige, um unter Beschuss in den Gewächshäusern der Gaza-Grenzregion mit der Ernte zu beginnen.

Nachbemerkung

Die gegen die Justizreform protestierende Reservisten-Vereinigung Brothers and Sisters in Arms rief am 7. Oktober bereits kurz nach acht Uhr morgens, anderthalb Stunden nach Beginn des Hamas-Überfalls, dazu auf, sich zum Dienst zu melden. Israels Reservisten, die aus Gewissensgründen den Reservedienstpflichten seit Wochen ferngeblieben waren und denen in Aussicht stand, dass ihre Einsatzbereitschaft ab dem 17. Oktober aufgehoben wird, sind seit über drei Wochen pausenlos im Einsatz.

Und noch eine ungewöhnliche Entwicklung verzeichnet Israels Zivilgesellschaft: Bis zum 22. Oktober fanden sich rund zweitausend ultraorthodoxe Israelis, die bis vor Kurzem noch grundsätzlich den allgemeinen Dienst in den Reihen der Armee abgelehnt hatten, freiwillig in den Mobilisierungszentren der IDF ein. Sie alle meinten: »Auch wir müssen etwas beisteuern, wir alle sitzen in demselben Boot

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