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Das Problem mit den Warnungen vor einem Hamas-Angriff

Was wäre geschehen, wenn Israel seine Truppen entlang des Gazastreifens verstärkt hätte, um einem Angriff der Hamas zurvorzukommen? (© imago images/Xinhua)
Was wäre geschehen, wenn Israel seine Truppen entlang des Gazastreifens verstärkt hätte, um einem Angriff der Hamas zurvorzukommen? (© imago images/Xinhua)

Die Erklärung, Israel sei vom Angriff der Hamas nur deshalb überrascht worden, weil es klare Warnungen ignoriert habe, greift zu kurz.

Ein Bericht der New York Times (NYT), wonach Israels Armee schon ein Jahr vor der Attacke der Hamas am 7. Oktober recht genau über die Angriffspläne informiert gewesen wäre, hat für viel Aufsehen gesorgt. Demnach sei den Israelis ein vierzigseitiges Papier der Hamas in die Hände gefallen, das »Punkt für Punkt genau die Art der verheerenden Invasion [beschreibt], die zum Tod von etwa 1.200 Menschen geführt hat«. Das Papier sei in Militär- und Geheimdienstkreisen zirkuliert, der Angriffsplan letztlich aber von den Verantwortlich als zu ambitioniert und schwierig eingeschätzt worden, als dass die Hamas ihn umsetzen könnte.

Darüber hinaus habe es auch eine Reihe anderer, auf Beobachtungen der Hamas und ihrer Aktivitäten gestützter Warnungen gegeben, die aber allesamt ignoriert worden seien. Deshalb sei Israel am Morgen des 7. Oktober so übel überrascht worden. Das Urteil klingt einfach: »Israel hätte die Angriffe abschwächen oder möglicherweise sogar verhindern können, hätte das Militär diese Warnungen ernst genommen und erhebliche Verstärkung in den Süden umgeleitet, wo die Hamas angriff.«

Einfach, aber falsch

Das hört sich plausibel an, doch auch in diesem Fall dürfte stimmen: Einfache Erklärung sind meist falsch. Wie der Militärhistoriker und -stratege Edward Luttwak erklärte, beruhe das einfache Urteil der NYT-Autoren auf grundlegenden Fehlannahmen über die Funktionsweise der israelischen Armee.

Diese ist hauptsächlich eine Reservistenarmee, deren überwiegender Teil für gewöhnlich im normalen Berufs- und Privatleben steht und nur im Krisenfall mobilisiert wird. Damit der Mobilisierungsprozess aber zeitgerecht in Gang gesetzt werden kann, braucht es Vorwarnungen. Und da Israel es sich nicht leisten kann, Hunderttausende Bürger leichtfertig aus dem zivilen Leben zu reißen, um zum Militär einzurücken, müssen diese Vorwarnungen sehr konkret und verlässlich sein.

Und hier beginnt schon das Problem mit der einfachen Erklärung der Times: Israel mag ein detaillierter Plan der Hamas in die Hände gefallen sein. Aber erstens macht die Hamas ständig Pläne über Angriffe auf Israel, von denen die meisten nie umgesetzt werden. Die israelische Armee kann umöglich jedes Mal Reservisten einberufen, wenn wieder ein neues mögliches Vorhaben der Hamas durchsickert. Woher hätten die Verantwortlichen wissen sollen, dass ausgerechnet dieser Plan zu den wenigen gehört, die tatsächlich ausgeführt werden?

Und zweitens schreiben die Autoren ja auch, dass der Plan mit keinem konkreten Angriffsdatum versehen war. Ja, Israel kann im Notfall relativ rasch Reserveeinheiten mobilisieren, aber die Soldaten können nicht ewig im Dienst behalten werden, ohne das Leben und die Wirtschaft im Land zum Erliegen zu bringen.

Was wäre gewesen, wenn …

Angenommen, Israels Verantwortliche hätten den Angriffsplan der Hamas ernst genommen, Reservisten mobilisiert und die Streitkräfte an der Grenze zum Gazastreifen »erheblich« verstärkt, was aus Sicht der NYT anscheinend die richtige Reaktion gewesen wäre. Und dann?

Die Hamas hätte die Verstärkung der israelischen Verteidigungskapazitäten bemerkt und den Angriff, wäre für ihn denn schon ein konkreter Zeitpunkt festgelegt gewesen, erst einmal abgeblasen und auf später verschoben, wenn die Grenze wieder weniger stark bewacht wird. Die israelische Seite hätte nicht gewusst, warum kein Angriff stattgefunden hat. War es die Verstärkung der Truppen, welche die Hamas von der geplanten Attacke abgeschreckt hat? Oder war die Warnung von Anfang an falsch und die Alarmstimmung deswegen unbegründet gewesen?

Mit jeder Warnung vor einer Attacke, die letztlich nicht eintritt, sinkt die Glaubwürdigkeit derjenigen, die Alarm geschlagen haben, während auf der anderen Seite diejenigen gestärkt werden, welche die Warnung möglicherweise für überzogen gehalten haben.

Wie vor 50 Jahren

Genau das ist vor dem Jom-Kippur-Krieg geschehen: Mehrfach war Israel von einem hochrangigen ägyptischen Informanten vor Angriffen zu konkreten Zeitpunkten gewarnt worden. Jedes Mal diskutierten die Verantwortlichen aus Politik, den Geheimdiensten und dem Militär, ob und wie darauf reagiert werden müsse. Zwei Mal wurden die Truppen entlang des Suezkanals verstärkt, um einem ägyptischen Angriff besser widerstehen zu können. Zwei Mal passierte nichts.

Beide Male war es unmöglich zu sagen, ob die Ägypter erfolgreich abgeschreckt werden konnten, oder ob die Warnungen falsch und gar keine Angriffe geplant gewesen waren. Der Chef des israelischen Militärgeheimdienstes, der die Gefahr eines ägyptischen Angriffs die ganze Zeit über für sehr gering und die Warnungen für Unsinn gehalten hatte, sah sich jedenfalls in seiner Einschätzung bestätigt, und die Verantwortlichen in der Militärführung und der Regierung mussten anerkennen, dass er Recht behalten hatte.

Dass man nicht den denselben Fehler ein weiteres Mal begehen wollte, trug dazu bei, dass die zahlreichen Hinweise auf einen ägyptischen Angriff Anfang Oktober 1973 sozusagen »ignoriert« wurden. Als am 6. Oktober dann schließlich die unmittelbar drohende Gefahr eingestanden werden musste, blieben nur noch wenige Stunden, um eine Mobilisierung der Reserveeinheiten wenigstens in die Wege zu leiten. Die Folge war, dass dieser Tag, an dem über dreihundert israelische Soldaten dem ägyptisch-syrischen Überraschungsangriff zum Opfer fielen, der blutigste Tag der israelischen Geschichte war – bis zum 7. Oktober fünfzig Jahre danach.

Selbstverständlich kann niemand in Israel behaupten, vor dem Hamas-Angriff sei alles richtig gemacht worden und die geheimdienstliche Arbeit habe bestens funktioniert. Was genau aber schiefgelaufen ist, und wie die Katastrophe realistischer Weise hätte verhindert werden können, lässt sich nicht mit so einfachen Erklärungen beantworten, wie die NYT und viele andere es gerade tun.

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