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Gaza-Krieg: Die alten Regeln gelten nicht mehr

Israel wird die Hamas in Gaza zerschlagen
Israel wird die Hamas in Gaza zerschlagen (© Imago Images / Funke Foto Services)

Seit dem brutalen Angriff gelten neue Regeln im Krieg zwischen Israel und der Hamas. Das scheint die Terrororganisation in Gaza aber noch nicht ganz verstanden zu haben.

Jeder langjährige Konflikt entwickelt eigene, meist ungeschriebene Regeln. Solche gelten zwischen Polizei und organisiertem Verbrechen ebenso wie sie bis vorletzten Samstagmorgen zwischen Hamas und israelischem Staat galten. Damit ist seit den pogromartigen Massakern, die Hamas-Milizionäre an über tausend Zivilisten verübt haben, nun Schluss.

Das alte Drehbuch und die alten Regeln sind wohl für immer außer Kraft gesetzt; nun gelten neue. Ganz offenbar hat die Führung der Hamas vieles in ihrer monatelangen Planung getan, nicht aber an die Konsequenzen gedacht, die ihre Aktionen, sollten sie denn Erfolg haben, mit sich ziehen würden. Sicher: Niemand in den Führungsbunkern in Gaza scheint so einen durchschlagenden »Erfolg« erwartet zu haben, auch sie waren verblüfft über das stundenlange Versagen der israelischen Armee und der Sicherheitskräfte vor Ort und hatten vermutlich nur damit gerechnet, dass an einer, maximal zwei Stellen ein Durchbruch zu Israel gelingen würde.

Zu Tode gesiegt

Was dann folgte, das größte antisemitische Massaker nach 1945, war ein Sieg, der vermutlich zugleich der letzte der Terrororganisation sein dürfte: Ähnlich wie Al-Qaida am 11. September 2001 hat sich die Hamas mit ihrer Aktion quasi zu Tode gesiegt – denn war sie vorher immer beides, Regierung eines Quasistaates und Terrororganisation, wie sie auf internationaler Bühne auch behandelt wurde, so ist sie jetzt nur noch Letzteres.

Wie wenig das der Hamas bislang klar ist, zeigte sich in den letzten Tagen. Da kamen aus Gaza die üblichen Angebote, jetzt doch über Kairo oder Doha zu verhandeln, ganz so, als sei kein Zivilisationsbruch geschehen:

»Ein hochrangiger Hamas-Beamter sagte, die Gruppe sei offen für Gespräche über einen möglichen Waffenstillstand mit Israel, nachdem sie ihre Ziele erreicht‹ habe. Moussa Abu Marzouk sagte in einem Telefoninterview mit Al Jazeera, die Hamas sei offen für ›etwas in dieser Art‹ und für ›jeden politischen Dialog‹, als er gefragt wurde, ob die islamistische Gruppe bereit sei, über einen möglichen Waffenstillstand zu diskutieren.«

Ganz offenbar ist Abu Marzouk noch nicht klar, dass man mit der Prä-7/10-Hamas verhandelte, nicht aber mit einer Truppe, die gezielt stundenlang und wahllos Menschen massakriert und Leichen schändet. Genau das glaubt sie allerdings immer noch: dass die über hundert Geiseln ein wertvolles Faustpfand seien – schließlich hatte Israel in der Vergangenheit tausend Gefangene für den ebenfalls von der Hamas entführten Gilat Schalit freigelassen.

Kalt erwischt

Wenn angesichts der Bilder und Berichte aus den überfallenen Kibbuzim und Moshavim ein Hamas-Sprecher erklärt, man habe keine Zivilisten attackiert, klingt das nicht einmal nach den schlechten Lügen, welche die Terroristen später immer erzählen, sondern eher schon ein wenig hilflos, ein wenig nach ›Nein, das waren wir gar nicht‹.

»In einer am Donnerstag veröffentlichten Erklärung sagte der stellvertretende Hamas-Führer Saleh al-Arouri, es sei Politik der Hamas, keine Zivilisten anzugreifen, und ihr Angriff am Samstag hätte nur die an der Grenze stationierte Gaza-Division der IDF zum Ziel gehabt – obwohl es überwältigende Beweise dafür gibt, dass ihre Terroristen systematisch Nichtkombattanten, darunter auch Kinder, angriffen und massakrierten.«

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Und auch diesbezüglich hat sich die Hamas getäuscht, denn die israelische Reaktion ist so hart wie unerwartet: Man stellte dem Gazastreifen Strom und Wasser ab und machte klar, dass, solange nicht alle Geiseln freigekommen seien, dies auch so bleiben würde. Damit liegt der Ball im Feld der Hamas und es ist ihre ureigenste Entscheidung, ob es nun Strom und Wasser gibt oder nicht.

Ebenso verblüfft dürften die Islamisten über die internationalen Reaktionen sein. Nicht nur der amerikanische Präsident Joe Biden verurteilte die Terrorgruppe mit ungewöhnlich deutlichen Worten, sondern zog, wie viele andere Politiker auch, Parallelen zu antijüdischen Massakern der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. Kurzum, die Hamas hat ungefähr alle roten Linien überschritten, die es noch gibt – und entsprechend fielen die Reaktionen aus. 

Auch Bombardements des Gazastreifens, die weit heftiger und umfassender sind als alle Angriffe zuvor, wurden international, wenn überhaupt, bislang nur sehr zurückhaltend verurteilt. Wohl noch nie in den letzten dreißig Jahren gab es eine so umfassende Solidarität europäischer Regierungen mit Israel wie in den vergangenen Tagen. Das mag sich wieder ändern, festzustellen bleibt aber, dass die Erklärungen aus den europäischen Hauptstädten nicht nach den üblichen äquidistanten Pflichtübungen klangen, die man sonst gewöhnt ist. In vielen Ländern, etwa in Frankreich, aber auch in Deutschland wurden sogar propalästinensische Demonstrationen verboten.

Auch international also sind die alten Regeln außer Kraft gesetzt. Hinzu kommt, dass die Massaker in Israel die zuvor tief gespaltene Gesellschaft geeint haben wie schon seit Jahren nicht mehr. Mit Ausnahme von ein paar ganz radikalen Linken steht die überwältigende Mehrheit hinter der Armee und dem Krieg. Wer sich zuvor um das Wohlergehen der Zivilisten in Gaza sorgte, will heute vor allem sehen, wie die Mörder vom Samstag gejagt und bestraft werden.

Neue Zeit mit neuen Regeln

Mit dem neuen israelischen Kriegskabinett sitzen zwei ehemalige Oberbefehlshaber der Armee an den Hebeln der Macht, beide erfahrene Militärs, mit denen nicht zu spaßen ist. Ausgeschaltet dagegen sind Ideologen wie Itamar Ben-Gvir oder Bezalel Smotrich. Sie wissen gemeinsam mit Benjamin Netanjahu über das Komplettversagen staatlicher Institutionen Bescheid. Laut Umfragen machen die Israelis schon jetzt klar, dass auch sie mehrheitlich die Schuld für das Sicherheitsversagen bei der Regierung sehen und sich wünschen, dass diese nach dem Krieg abtritt.

Nur eben erst nach dem Krieg und nach einem Sieg über die Hamas, bis dahin lenkt eine neue Einheitsregierung das Land und die Rechnungen werden hintangestellt. Das Ziel ist klar: Die Zerschlagung und Ausschaltung der Hamas als ein in irgendeiner Weise relevanten militärischen Akteur; egal, ob mit oder ohne umfassender Bodenoffensive. 

Es dürfte inzwischen auch klar sein, dass weder Europa noch die USA sich den Israelis dabei namhaft in den Weg stellen, sondern es bei Appellen belassen werden. Sollte die Hisbollah in den Krieg eingreifen, so, das hat Jerusalem klar gemacht, wird trotz enorm hoher eigener Opfer Beirut am Ende aussehen wie Gaza jetzt.

Das sind die neuen Regeln, und nicht die Hamas, sondern Israel diktiert sie. Die Frage ist, ob und wann die Terror-Führer das in ihren Bunkern in Gaza begreifen und was sie dann tun werden. Große Handlungsspielräume hat sie nämlich nicht, der Jubel vom vorletzten Samstag dürfte sich inzwischen in einen üblen Kater verwandelt haben. 

Die Terrororganisation dachte offenbar, mit ihrer Aktion ein wenig mehr von »More of the same« zu veranstalten, in Wirklichkeit hat sie dafür gesorgt, dass, ähnlich wie es mit dem 11. September 2001 geschehen ist, eine neue Zeit mit neuen Regeln angebrochen ist, auf die sie sich ganz offenbar weit weniger gut vorbereitet hat als ihre barbarischen Aktionen vom vorletzten Samstag.

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