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Missbrauch der Holocausterinnerung? Kritik an einem offenen Brief

Container mit Leichen des Hamas-Pogroms: Ist bei antisemitischen Massakern der Bezug auf den Holocaust gerechtfertigt?
Container mit Leichen des Hamas-Pogroms: Ist bei antisemitischen Massakern der Bezug auf den Holocaust gerechtfertigt? (Imago Images / TT)

Ausgerechnet Historiker, die überall ›Verflechtungen‹ von Massenverbrechen, insbesondere von Holocaust und kolonialen Massenmorden, propagieren, verbitten sich die Bezugnahme auf die Shoah im Kontext des antisemitischen Hamas-Massakers.

Ingo Elbe / Enrico Pfau

Renommierte Historiker haben einen offenen Brief verfasst. Der Anlass: Die Verwendung von Holocaust- und NS-Bezügen im Zusammenhang mit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober. Die Verfasser halten diese Bezüge für missbräuchlich und gefährlich – nicht nur in bestimmten Einzelfällen, sondern ganz grundsätzlich. Aber liegen sie damit richtig?

Holocaust ohne Antisemitismus

Der offene Brief beginnt mit einigen Beispielen. Verwiesen wird auf die Einschätzung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden, die Barbarei der Hamas sei genauso konsequent wie der Holocaust. Erwähnt wird die Aussage, die der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu gegenüber Olaf Scholz tätigte: Die Hamas seien die neuen Nazis. Schließlich wird mit Brian Mast ein republikanischer Politiker angeführt, der die Rede von unschuldigen palästinensischen Flüchtlingen mit dem Hinweis ablehnte, im Zweiten Weltkrieg hätte man auch nicht von unschuldigen Nazi-Zivilisten gesprochen.

Die Verfasser des Briefes setzen sich mit keiner dieser Aussagen im Detail auseinander. Sie sehen sich offenbar von dieser Pflicht entbunden, weil sich aus ihrer Sicht im Falle der Hamas jeglicher Bezug zu den Nationalsozialisten verbiete. Warum? Darüber erfährt der Leser nicht gerade viel. Genau genommen ist es ein einzelner Satz, der die Begründungslast tragen soll: Der Holocaust habe die Attacke eines Staates und seiner willigen Zivilgesellschaft an einer kleinen Minderheit beinhaltet, die schließlich zu einem den ganzen Kontinent erfassenden Genozid eskaliert sei. Auf die Hamas und ihre Taten träfen diese Bestimmungen nicht zu. Aber handelt es sich überhaupt um sinnvolle Bestimmungen?

Bemerkenswert ist zunächst, wovon die Verfasser nicht sprechen: vom antisemitischen Wahn. Sie ignorieren schlicht die Bedeutung, die die antisemitische Vernichtungsideologie für die nationalsozialistischen Täter und die willige Zivilgesellschaft hatte. Stellt man sie jedoch in Rechnung (dass man dies sollte, daran lässt die Täterforschung keinen Zweifel), stellt sich umgehend die Frage, ob die Verfasser bei der Wahl ihrer Kriterien die richtigen Schwerpunkte gesetzt haben: Für den antisemitischen Wahn ist es nicht entscheidend, ob ein Staat involviert und wer in der Mehrheit oder Minderheit ist.

Aber nehmen wir kurz an, es handelte sich um sinnvolle Kriterien: Sind die Juden in der Region etwa nicht in der Minderheit? Hinsichtlich der Terroranschläge vom 7. Oktober ist zudem die Verbindung Iran – Hamas – Hisbollah nicht zu vernachlässigen. Mit dem Iran war und ist eine Staatsmacht in die gegenwärtige Bedrohung Israels eingebunden. Hier hat man es mit staatlichem und parastaatlich organisiertem Antisemitismus zu tun. Hamas, Hisbollah, Al-Aqsa Brigaden, Palästinensischer Islamischer Dschihad, Höhle der Löwen, Dschenin-Bataillon und Konsorten wären ohne massive israelische Schutzmaßnahmen zudem sehr wohl in der Lage, die Juden Israels zu vertreiben oder gar zu vernichten. Wenn der Iran mit der Entwicklung der Atombombe erfolgreich ist, wird er dazu ohne jeden Zweifel in der Lage sein.

Dass dieser Genozid sich nicht über einen ganzen Kontinent erstrecken würde, liegt schlicht daran, dass es außerhalb Israels in der Region kaum noch Juden gibt. Sie sind seit den 1940er Jahren zu Hunderttausenden aus den islamischen Staaten vertrieben worden oder freiwillig in den einzigen Staat emigriert, der ihnen Sicherheit und Freiheit bietet.

Israel als Täter – die Erste

Die oben genannte Bestimmung des Holocaust erfüllt für die Verfasser des Briefes noch eine weitere Funktion. Sie dient nicht nur der Kritik historischer Bezüge, sondern implizit auch der Anklage Israels. Der offene Brief suggeriert, es könne deshalb keinen weiteren Holocaust geben, weil sich Israel, anders als die damaligen Juden, verteidigen kann und selbst nicht mehr als unschuldiges Opfer gelten könne.

Zum einen könne, wer keinen Staat habe, keinen solchen Genozid begehen. Und wer hat keinen Staat? Die Palästinenser. Zum anderen werden Aussagen zweier führender israelischer Politiker über einen angeblichen Kampf »zwischen den Kindern des Lichts und den Kindern der Dunkelheit« sowie gegen »menschliche Tiere«, die unter dem unmittelbaren Eindruck des 7. Oktober getätigt wurden und explizit gegen die Hamas, nicht gegen die Zivilbevölkerung in Gaza gerichtet waren, in die Nähe genozidaler Intentionen gerückt. Diese Aussagen, so heißt es nämlich, würden »ein Echo historischer Massengewalt hervorrufen«.

Einer der Unterzeichner, Raz Segal, nennt die israelische Kriegsführung auch offen einen »Fall von Völkermord wie aus dem Lehrbuch«. Die Holocaustforscher Jeffrey Herf und Norman Goda kommentieren einen solchen Umgang mit Zitaten wie folgt: »Aber im Gegensatz zum langjährigen [genozidalen] Dogma der Hamas spiegeln solche Kommentare das Gefühl des Schocks und der Wut wider, das die Israelis nur wenige Tage nach dem schlimmsten Massaker in der turbulenten Geschichte ihres jungen Landes empfanden.« Noch wichtiger sei, dass sie »nicht die Politik der israelischen Regierung gegenüber Zivilisten widerspiegeln«.

Offene Flanken und Auslassungen bestimmen in dem offenen Brief auch den Umgang mit Antisemitismus, der doch eigentlich Hauptpunkt jeder Holocaustanalyse sein müsste. Der Antisemitismus der Hamas wird lediglich vage angedeutet oder erscheint als numinose Bedrohung ohne Benennung seiner Akteure. Einmal heißt es sogar: »Antisemitismus, Islamophobie und antiarabischer Rassismus nehmen in Zeiten der Krise in Israel-Palästina häufig zu.« So, als ob der Antisemitismus Folge der – wie wir sehen werden, angeblich ausschließlich durch Israel ausgelösten – Krise und nicht vor allem deren Ursache wäre.

Im offenen Brief erfährt man auch nirgends, was Antisemitismus ist. Man erhält lediglich die Erklärung, man brauche »Klarheit über Antisemitismus, damit wir ihn richtig erkennen und bekämpfen können«. In welche Richtung das Antisemitismusverständnis vieler der Unterzeichner (zum Beispiel Dirk Moses, Raz Segal, Stefanie Schüler-Springorum, Omer Bartov, Michael Rothberg, Alon Confino, Amos Goldberg) geht, kann man sich höchstens indirekt durch deren Unterschrift unter das wissenschaftlich höchst fragwürdige Pamphlet der Jerusalem Declaration on Antisemitism erschließen, das es sogar erlaubt, die Dämonisierung Israels als »nicht per se antisemitisch« zu titulieren – und zwar unter anderem mit dem Verweis auf vermutete Intentionen und Erfahrungen von Palästinensern.

Verflechtungen von Nationalsozialismus und Hamas-Ideologie

Kommen wir auf das Thema zu sprechen, dem die Verfasser des Briefes mit ihrer Holocaust-Bestimmung glaubten aus dem Weg gehen zu können: Die Hamas-Schergen sind zwar keine klassischen Nazis und das Hamas-Pogrom war nicht der Holocaust. Selbstverständlich kann man auch über die theoretischen Differenzen des islamischen und des NS-Antisemitismus diskutieren.

Die Institution des Dhimmitums, des Status als Schutzbefohlene, im traditionellen Islam erlaubte es den Juden meist zu überleben und ihrem Glauben nachzugehen, solange sie sich im Status demütiger Unterwerfung unter den islamischen Suprematieanspruch stellten und sich als Menschen zweiter Klasse bei Zahlung einer Sondersteuer der Gnade einer islamischen Dominanzgesellschaft unterordneten. Das schloss der Antisemitismus der Nationalsozialisten aus.

Allerdings hat sich die Hamas mit ihrer Gründungscharta [1] explizit in die Tradition des eliminatorischen Erlösungsantisemitismus gestellt. Sie hat dabei den apokalyptischen Hadith des Abu Huraira reaktiviert, der prophezeit, der jüngste Tag werde erst kommen, wenn die Muslime die Juden töten. Sie kombiniert diese im traditionellen Islam eher marginale Idee zudem mit den Protokollen der Weisen von Zion, einem der prominentesten Dokumente des modernen europäischen Antisemitismus, in dem die Juden als weltverschwörerische Strippenzieher hinter Kriegen, Krisen und modernen Medien präsentiert werden, und das den Nationalsozialisten als wichtiger Bezugspunkt galt.

Seit die Juden sich in den Augen der Islamisten zur Staatsgründung auf islamischem Boden erdreisteten und gleiche Rechte erkämpften, ist die Differenz in der Vernichtungsabsicht ohnehin nur noch eine theoretische, weil die Juden Israels für Hamas und Co. damit zum Massenmord freigegeben sind: So heißt es beim Hamas-Prediger Yunis al-Astal: »Wir müssen [die Juden] massakrieren […], um sie daran zu hindern, Verderben in der Welt zu säen […]. Wir müssen sie in den Zustand der Demütigung zurückversetzen, der ihnen auferlegt wurde […]. Sie müssen die Dschizya-Sicherheitssteuer zahlen, während sie in unserer Mitte leben […]. Allerdings, in Palästina, wo sie Besatzer und Eindringlinge sind, können sie nicht den Status von Dhimmis haben.« [2]

In einem Brief, in dem die Verbindung von Hamas und Nazi-Antisemitismus vehement bestritten wird, muss all dies nicht nur verschwiegen werden, sondern darüber hinaus die Verbindung von führenden Akteuren der palästinensischen Nationalbewegung der 1930er und 1940er Jahre wie des damaligen Großmufits von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, mit dem Nationalsozialismus Anathema bleiben.

Zu erwähnen wären nicht nur die Kollaboration al-Husseinis mit den Nazis im Holocaust, nicht nur seine offene Erklärung, man versuche nun gemeinsam mit Deutschland, »die jüdische Frage aus der Welt zu schaffen« [3], nicht nur von ihm inspizierte muslimische SS-Einheiten im Zweiten Weltkrieg oder seine judenfeindliche Propaganda für die islamische Welt, sondern auch bereits die durch den Terror des Muftis in den 1930er Jahren im palästinensischen Mandatsgebiet und die britische Appeasementpolitik bewirkte Schließung der Tore Palästinas für vor den Nationalsozialisten fliehende Juden.

Auch von den Faschismusbezügen der Muslimbruderschaft, deren palästinensischer Ableger die Hamas ist, und ihrer damit einhergehenden umma-sozialistischen Dritter-Weg-Ideologie der islamischen Volksgemeinschaft gegen Zins, Materialismus und Säkularismus, verrät uns der offene Brief der Holocaustforscher nichts. Die sozialpsychologischen Mechanismen der Schiefheilung kollektiv narzisstischer Kränkungen durch antisemitische Verschwörungstheorien ähneln sich bei Adolf Hitler und Sayyid Qutb, einem Vordenker der Muslimbrüder, bis aufs Haar: Hinter allen ›gemeinschaftszersetzenden‹ materialistischen, feministischen und individualistischen Einflüssen werden die Juden vermutet: »Hinter der Doktrin des atheistischen Materialismus stand ein Jude; hinter der Doktrin der animalischen Sexualität stand ein Jude; und hinter der Zerstörung der Familie und der Zerrüttung der heiligen Beziehungen in der Gesellschaft […] stand ein Jude.« [4]

Die Hakenkreuze auf den Feuerdrachen der als »Grenzzaun-Proteste« verharmlosten Aufmärsche der Hamas von 2018 waren ebenso wenig ein antifaschistischer Protest wie die Hasspredigten des Muslimbruders Yusuf al-Qaradawi, der auf dem katarischen Sender Al-Jazeera jahrelang unzählige Millionen Menschen erreichte und 2009 die Muslime als ›gemäßigtere‹ Vollender des Holocausts der Nazis fantasierte: »Im Laufe der Geschichte hat Allah den [Juden] Menschen auferlegt, die sie für ihre Verderbtheit bestrafen sollten. Die letzte Bestrafung wurde von Hitler vollzogen. Durch all das, was er ihnen angetan hat – auch wenn er es übertrieben hat –, hat er es geschafft, sie in ihre Schranken zu weisen. Dies war eine göttliche Strafe für sie. So Allah will, wird es das nächste Mal durch die Hand der Gläubigen geschehen.«

Volksgemeinschaft gegen Israel

Geflissentlich wird auch übergangen, dass ebenso die Führung der vermeintlich moderaten PLO Antisemitismus und Hass auf Israel propagiert, nicht nur in Gestalt von Terrorrenten und öffentlichen Statements, sondern auch in Schulbüchern und Jugendcamps.

Man sollte zur Kenntnis nehmen, dass aufseiten der Palästinenser seit Jahrzehnten eine totale Mobilmachung gegen Israel in Gang gesetzt wurde, die darauf abzielt, den jüdischen Staat zu vernichten, keinen Staat neben Israel, sondern anstelle Israels zu haben. Adi Schwartz und Einat Wilf betonen zu Recht, dass es sich bei der palästinensischen Nationalbewegung nicht um einen Nationalismus handelt, der primär einen Staat für das eigene Volk will, sondern um einen, der den Staat eines anderen, den des jüdischen Volkes, verhindern oder vernichten will – das haben die Reaktionen der PLO auf die weitestgehenden Friedensangebote Israels in der Geschichte des Konflikts in den Jahren 2000 und 2008 gezeigt. [5]

Der Angriff der Hamas am 7. Oktober ist ebenso ein Ausdruck davon wie die überwältigende Zustimmung, die Palästinenser in Gaza und im Westjordanland für die eine oder andere Variante israeleliminatorischer Gruppen und ihren Terror gegen Juden und israelische Zivilisten zu erkennen geben.

So stimmten im Jahr 2014 93 Prozent der Befragten in den palästinensischen Gebieten offen antisemitischen Statements zu und befürworteten einer Umfrage vom November 2023 zufolge 83,1 Prozent der Bewohner des Westjordanlands und 63,6 Prozent der Gazaner das Massaker der Hamas vom 7. Oktober. 77,7 Prozent im Westjordanland und 70,4 Prozent in Gaza stimmten einer rein palästinensischen Einstaatenlösung zu, also einer, die einen Staat für zwei Völker und die Zweistaatenlösung ausschließt. Der Historiker Benny Morris nennt diese nicht erst heute zutage tretende Haltung eine »Vertreibungsmentalität«. [6] Einer Umfrage vom Juni 2023 zufolge befürworten 66 Prozent in der Westbank und 79 Prozent in Gaza die Formierung terroristischer Gruppen wie der Höhle der Löwen oder des Dschenin-Bataillons.

Jeffrey Herf und Norman Goda fragen daher zu Recht, ob es sich hier nicht um das klassische Phänomen einer auf einem antisemitischen Feindbild beruhenden Volksgemeinschaft handelt, womit das von den Autoren des offenen Briefes angeführte vermeintliche Differenzkriterium der »willigen Zivilgesellschaft« als erfüllt gelten könnte.

Das Genozid-Gerücht

Sicherlich rechtfertigt das keine »Kollektivbestrafung«, die der offene Brief im Angriff auf den Gazastreifen zu sehen meint. Solche Bestrafung findet aber gar nicht statt. Israel führt einen Krieg, in dem es die Zivilbevölkerung vor Kampfhandlungen warnt, ihr Fluchtkorridore in den Süden Gazas ermöglicht und nicht gezielt gegen Zivilisten vorgeht (sowohl Blockaden als auch Angriffe auf militärisch missbrauchte zivile Infrastruktur sind zudem nicht per se völkerrechtswidrig).

Erst vor Kurzem bescheinigte einer der führenden deutschen Völkerrechtler der israelischen Armee, »sich ihrer Verpflichtungen aus dem humanitären Völkerrecht sehr wohl bewusst« zu sein. »Vor Beginn der Luftschläge«, so Matthias Herdegen, »gab es Warnungen an die Bewohner bedrohter Zonen, etwa durch Meldungen in mobilen Netzen oder durch das sogenannte ›roof knocking‹ […]. Im Vorfeld des Bodenkriegs gab es wochenlange Evakuierungsaufforderungen, denen inzwischen immer mehr Zivilisten folgen, obwohl die Hamas sie anfangs zurückhalten wollte. Wir sehen also ein deutliches Bemühen auf israelischer Seite, die Zivilbevölkerung im Sinne des Völkerrechts zu schonen. Auf der Seite der Hamas ist es genau umgekehrt.«

Dagegen ist es ist den Autoren des offenen Briefs keine Erwähnung wert, dass die Hamas den Gazastreifen seit Jahren mit Geldern, die man auch in zivile Infrastruktur hätte stecken können, zu einer Festung ausgebaut hat, und Zivilisten, ob sie nun die Hamas unterstützen oder nicht, völkerrechtswidrig als Schutzschilde benutzt. Dass es der Hamas nicht um einen Schutz ihrer Zivilbevölkerung geht, hat sie mehrfach seitens führender Vertreter kundgetan – nichts davon im offenen Brief.

Nichts über die Tatsache, dass die israelische Zivilbevölkerung seit dem 7. Oktober unter einem Raketenhagel überleben muss und Teile Israels (sowohl im von der Hamas überfallenen Süden als auch im von der Hisbollah im Libanon bedrohten Norden) evakuiert wurden. Der antisemitische Massenmord der Hamas wird von den Autoren in eine »Attacke« und eine anonyme »Krise« verwandelt, bei der zudem die qualitative Differenz zwischen antisemitischem Pogrom und Israels Kriegsführung gegen den Terror durch die nonchalante Aufzählung, »die Angriffe vom 7. Oktober und die andauernden Luftangriffe und die Invasion des Gazastreifens« eingeebnet wird.

Israel als Täter – die Zweite

Den »Ursachen der Gewalt in Israel-Palästina« wollen die Historiker nun nachgehen, wobei ihre ›Kontextualisierung‹ ein Musterbeispiel von Einseitigkeit und Auslassung entscheidender Zusammenhänge ist, indem Israel (und Israel allein) beschuldigt wird, für die Gewalt der Hamas verantwortlich zu sein. Diese Täter-Opfer-Umkehr, die einem simplifizierenden und manichäischen Bild des arabisch-israelischen Konflikts entspringt, ist unter antizionistischen Agitatoren insbesondere des postkolonialen Milieus weit verbreitet. Sie auch von manchen seriösen Historikern wie Omer Bartov oder Christopher Browning zu hören, muss jeden Beobachter der gegenwärtigen Diskussion mit Sorge erfüllen.

Die vorgebrachte Einschätzung der Ursachen ist eindeutig: »Fünfundsiebzig Jahre Vertreibung, sechsundfünfzig Jahre Besatzung und sechzehn Jahre Blockade des Gazastreifens haben zu einer immer schlimmer werdenden Spirale der Gewalt geführt, die nur durch eine politische Lösung gestoppt werden kann.« Dass das palästinensische Flüchtlingsproblem die Folge des verlorenen arabischen Angriffs- und Vernichtungskriegs gegen den Jischuw und das neu gegründete Israel ist und es längst einen palästinensischen Staat sowie friedliche Beziehungen zwischen Palästinensern und Israelis geben könnte, hätte die arabische Seite die Beschlüsse für eine Zwei-Staaten-Lösung aus den Jahren 1937 durch die britische Peel-Kommission und 1947 durch die UNO oder dieisraelischen Friedensangebote der Jahre 1967, 2000 oder 2008 angenommen, wird geflissentlich verschwiegen.

Dass das Massaker des 7. Oktober längst vor dem Jahr 2023 stattgefunden hätte, hätte Israel den Verkehr zum Gazastreifen nicht minutiös kontrolliert und reglementiert, kommt den Unterzeichnern offenbar ebenfalls nicht in den Sinn. Auch hier zeigen sie, dass sie selbst offenen, eliminatorischen Antisemitismus, wenn er nur von Palästinensern geäußert wird, nicht ernst nehmen – eine »paternalistische und sogar neokoloniale Haltung […], die sich weigert, die Palästinenser beim Wort zu nehmen«, wie Adi Schwartz und Einat Wilf dieses als Analyse getarnte »Westplaining« beschreiben. [7]

Die Autoren des offenen Briefs konstatieren: »Die Behauptung, dass ›die Hamas die neuen Nazis sind‹, während die Palästinenser kollektiv für die Aktionen der Hamas verantwortlich gemacht werden, unterstellt denjenigen, welche die Rechte der Palästinenser verteidigen, verhärtete, antisemitische Motive.«

Man würde sich Belege dafür wünschen, dass es eine auch nur annähernd relevante palästinensische oder pro-palästinensische politische Bewegung gäbe, die nicht die Existenz Israels negiert und die den jüdischen Staat nicht vernichten will. Gemäßigte palästinensische Kräfte wurden bereits im sogenannten Arabischen Aufstand zwischen 1936 und 1939 von den Fanatikern des Muftis von Jerusalem mundtot gemacht oder buchstäblich hingerichtet.

Eine enorme historische Bürde für die palästinensische Gesellschaft, die zudem mit Unterstützung des UNO-Palästinenserhilfswerks UNRWA spätestens seit den 1960er Jahren ideologisch mit dem revanchistischen Narrativ des angeblichen Rückkehrrechts der 1948er-Flüchtlinge indoktriniert wird. Mit Ausnahme vereinzelter Dissidenten wie Mosab Hassan Yousef, Bassem Eid oder Ahmad Mansour, die ohne Einfluss in der Community sind, schaffen es die allermeisten öffentlich wahrnehmbaren palästinensischen Stimmen nicht, den jüdischen Staat anzuerkennen, den Terror der Hamas ohne Wenn und Aber [8] zu verurteilen und oft nicht einmal, die Parole »Free Gaza from Hamas« zu unterstützen, oder sie verherrlichen gar den Terror der Islamisten, so geschehen bei der selbsternannten »progressiven Grassroot-Bewegung« Palästina spricht.

Verflechtungen gerne, aber nicht, wenn es um Antisemitismus geht

Mitunterzeichner des offenen Briefs wie Dirk Moses oder Michael Rothberg arbeiten seit Jahren an der Relativierung des Holocaust, indem sie ihn in das »biopolitische Kontinuum« staatlicher Flüchtlingspolitik sowie kolonialer Herrschaft und Massenverbrechen einordnen. Dabei soll die Erinnerung an die Shoah mit allen möglichen Erinnerungen von Massenverbrechen ›multidirektional verflochten‹ werden. Am Ende ist es frappierend, dass ausgerechnet die Vertreter solcher Positionen den größten antisemitischen Massenmord seit dem Holocaust, verübt von einer Organisation, die sich in die Tradition des eliminatorischen Judenhasses stellt, von jeder Verbindung mit dem Holocaust und dem Nationalsozialismus trennen wollen.

Anmerkungen:

[1] Dazu, dass die auch als Zweite Charta der Hamas bezeichnete »Prinzipienerklärung von 2017 nichts als ein strategisches PR-Manöver für das westliche Publikum ist und keineswegs die erste Charta außer Kraft setzt, vgl. https://www.mena-watch.com/friede-mit-der-hamas-aussichtslos/ und https://www.mena-watch.com/kein-schwenk-der-hamas/ sowie https://www.hagalil.com/2023/10/zweite-charta-der-hamas/ und https://www.spiegel.de/international/world/ex-hamas-head-meshal-on-trump-s-mideast-peace-initiative-a-1150471.html.

[2] Zitiert nach Landes, Richard (2016): Jihad. In: C. Nelson: Dreams Deferred. A Concise Guide to the Israeli-Palestinian Conflict & the Movement to Boycott Israel. Bloomington, S. 219.

[3] Zitiert nach Mallmann, Klaus-Michael/Cüppers, Martin (2011): Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina. 3. Aufl., Darmstadt, S. 115.

[4] Qutb, Sayyid (2008): Our Struggle with the Jews. In: A. G. Bostom (ed.): The Legacy of Islamic Antisemitism. From Sacred Texts to Solemn History. Amherst/New York, S. 359 f.

[5] Vgl. Schwartz, Adi/Wilf, Einat (2022): Der Kampf um Rückkehr. Wie die westliche Nachsicht für den palästinensischen Traum den Frieden behindert hat. Leipzig, S. 21 und Kapitel 5.

[6] Morris, Benny (2008): 1948. The First Arab-Israeli War. New Haven/London, S. 409.

[7] Schwartz/Wilf (2022): Der Kampf um Rückkehr. Leipzig, S. 215.

[8] Selbst der als ›Stimme des Friedens‹ gefeierte palästinensische Philosoph Sari Nusseibeh verharmlost das Massaker der Hamas zum »Kriegsakt« und rechtfertigt den Terror der Hamas, wenn er auf die Aussage der Interviewerin, »aber nichts rechtfertigt den Terror der Hamas?«, antwortet: »Außer der Terror Israels.«

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