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Die moralische Asymmetrie zwischen dem Westen und seinen Feinden

In projektiver Verkehrung wird dem Westen vorgeworfen, was dessen Feinde praktizieren
In projektiver Verkehrung wird dem Westen vorgeworfen, was dessen Feinde praktizieren (© Imago Images / Sipa USA)

All jene, die mit einer mentalen Weltkarte umherlaufen, in der der Westen im Voraus als Täter identifiziert ist und die Gegner des Westens per definitionem als Opfer dargestellt werden, leben entfremdet von der Wirklichkeit. Diktatoren oder Terrorgruppen zu entschuldigen, nur weil sie in einem Land herrschen, das einmal eine Kolonie war, stärkt unmoralischen Eliten den Rücken.

Ronald S. Stade

Tausende bewaffneter Männer griffen Dörfer und Städte an und folterten und töteten Kinder, Frauen und Männer. Manche Frauen wurden mehrmals vergewaltigt, bevor sie umgebracht wurden. Manche Eltern und Kinder wurden zusammengebunden und in Brand gesteckt. Manchen Säuglingen schoss man ins Gesicht. Es waren geplante, absichtliche und strategische Gräueltaten gegen unschuldige Zivilisten in Israel, ausgeführt von palästinensischen Dschihadisten.

Vielerorts wurden diese abscheulichen Schandtaten gefeiert. Im Berliner Bezirk Neukölln verteilten muslimische Einwanderer und Deutsche sowie propalästinensische Aktivisten zum Beispiel Süßigkeiten, um das Blutbad des 7. Oktober 2023 zu zelebrieren. Ähnliche Aktionen gab es auch andernorts. In Jordanien eröffnete man beispielsweise ein Restaurant mit dem Namen »7 October«.

Die Unmoral des Angriffs

Grausamkeit zu feiern ist ein Zeichen von Unmoral (siehe dazu Stade 2016 und Stade/Rapport 2023). Der Angriff war eine Kriegserklärung. Darüber sollte es keine Zweifel geben. Als das israelische Militär reagierte, gingen Tausende von Menschen auf die Straße, um gegen Israel, nicht aber gegen die Anstifter des Kriegs, die Hamas, zu protestieren. Die Tatsache, dass die Schreckenstaten geopolitisch motiviert waren, schien den Demonstranten unbekannt zu sein oder nicht in ihr Weltbild zu passen.

Am 7. Oktober des vergangenen Jahres wurden die denkbar grausamsten Taten aus reinem Kalkül begangen. Es ging dem Iran darum, dem Normalisierungsprozess im Nahen Osten ein Ende zu setzen. Nach dem Sechstagekrieg, bei dem arabische Armeen 1967 wieder einmal Israel überfielen und wieder einmal gegen Israel verloren, trafen sich die arabischen Führer in Khartum und beschlossen dort mit den berühmt-berüchtigten »Drei Nein von Khartum«, dass niemand von ihnen ein Friedensabkommen mit Israel unterzeichnen noch weder mit Israel verhandeln bzw. den israelischen Staat anerkennen durfte.

Der ägyptische Präsident Anwar as-Sadat verstieß als erster gegen dieses Abkommen. Er schloss Frieden mit Israel und wurde daraufhin von seinen eigenen Offizieren ermordet. Jahre später wurde Jordanien die zweite arabische Nation, die gegen das Khartum-Abkommen handelte, indem sie mit dem Staat Israel offizielle diplomatische Verbindungen etablierte und einen Friedensvertrag mit ihm unterschrieb.

Als vier weitere arabische Staaten – Marokko, Sudan, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate – im Rahmen der Abraham-Abkommen ihre Beziehungen zu Israel normalisierten und es sich abzeichnete, dass Saudi-Arabien diesem Beispiel demnächst folgen würde, reichte es den Theokraten in Teheran. Es galt, diesen Friedensprozess mit allen Mitteln zu verhindern. Und so provozierte man auf grausamste Weise einen Krieg, von dem man wusste, dass er im Westen verdammt werden würde.

Asymmetrie der Kriegsführung

Seit die vom Iran abhängigen Terroristen der Hamas und des Palästinensischen Islamischen Dschihads den Krieg begannen – und schon viele Jahre davor –, benutzen die Terroristen palästinensische Zivilisten als menschliche Schutzschilde. Die dschihadistischen Terroristen verstecken sich und ihr Waffenarsenal in und unter Wohnhäusern und zivilen Einrichtungen wie Krankenhäusern, Moscheen und Schulen. Gibt es dann im Laufe der Kämpfe zivile Opfer unter den Palästinensern, berichtet die Hamas darüber mit einer Mischung aus Schadenfreude und gespielter Empörung. Je mehr zivile Opfer es in Gaza gibt, desto besser für die iranischen Stellvertreter.

Dabei könnten die Terroristen jederzeit den Krieg beenden. Würde man die verschleppten Israelis freilassen und hätte man kapituliert sowie um freies Geleit in den Iran oder nach Katar oder in die Türkei (Katar und die Türkei sind die hauptsächlichen Sponsoren der Muslimbruderschaft, deren palästinensischer Ableger die Hamas ist, während der Palästinensische Islamische Dschihad zwar auch als solch ein Ableger gegründet wurde, seitdem aber als direkten Arm des Irans fungiert) gebeten – was mit Sicherheit gewährt würde –, wäre der Krieg zu Ende. Stattdessen setzen die iranischen Stellvertreter in Gaza, im Libanon, Jemen und Irak den Krieg fort und versichern, dass sie auch in Zukunft Tausende von Gräueltaten in Israel und an Israelis verüben werden.

Das israelische Militär benutzt seinerseits vielfältige Mittel, um die Zivilbevölkerung in Gaza zu schützen. Das erste Mittel, das man in Gaza einsetzte, war das sogenannte »Anklopfen«: Die israelische Luftwaffe warf schwere Gegenstände auf Wohnhäuser ab, die demnächst von Raketen oder Bomben getroffen werden sollten. Der Lärm und das Beben des »Anklopfens« sollte die Bewohner zum Verlassen des Gebäudes auffordern.

Darüber hinaus rief man die Handys von palästinensischen Zivilisten an, um vor bevorstehenden Angriffen zu informieren. Flugblätter wurden abgeworfen, auf denen Tage im Voraus vor größeren Operationen der israelischen Truppen gewarnt wurde. Und so weiter. Dagegen feuern der Iran und seine Stellvertreter ziellos in Richtung Israel in der Hoffnung, irgendjemanden oder irgendetwas zu treffen. Ob dabei israelische oder arabische Zivilisten umkommen, ist den unmoralischen Tätern im Iran, im Libanon, dem Jemen und dem Irak völlig gleichgültig.

Wollte, wie behauptet wurde und wird, Israel einen Völkermord an den Palästinensern verüben, wäre dies ein Leichtes gewesen. Die israelische Luftwaffe hätte einfach einen Bombenteppich über Gaza legen können, am besten mit reichlich Brandbomben, um so alles Leben in Gaza auszulöschen. Ganz Gaza wäre in Brand gesteckt worden und sogar die Terroristen, die sich im Tunnelsystem, das weiter reicht als das Netz der Londoner U-Bahn, verstecken, würden wegen Sauerstoffmangels umkommen.

Stattdessen schickte man Bodentruppen in den Gazastreifen, obwohl sicher war, dass dadurch viele Soldaten ihr Leben verlieren würden. Wie viele palästinensische Terroristen dem Krieg zum Opfer gefallen sind, ist unbekannt, denn die Hamas weigert sich, zwischen Zivilisten und Terroristen zu unterscheiden. Deshalb ist es auch unklar, wie viele zivile Todesopfer es unter den Bewohnern Gazas gegeben hat.

Die Todeszahlen zu verschleiern ist Teil der dschihadistischen Propaganda. Der Iran, seine Stellvertreter sowie Sympathisanten in den Medien, Hilfsorganisationen und der UNO verbreiten diese und ähnliche Propaganda. Das unterstützt und ermutigt das unmoralische Handeln der Terroristen. Wenn Propagandistinnen wie Francesca Albanese, ihres Zeichens UN-Sonderberichterstatterin für Palästina, die Verbrechen des 7. Oktober 2023 leugnen, erinnert das an das Leugnen des Holocaust. Albanese ist eine von vielen, die alle Gräueltaten der Terroristen leugnen oder sich irrsinnigen Konspirationstheorien hingeben, in denen Israel und »die Juden« nicht nur der Gewalt gegen sie selbst, sondern letztlich an allem Elend der Welt schuld sind.

Moralische Asymmetrie

Es herrscht ein moralisches Ungleichgewicht zwischen dem Westen und seinen Feinden. Im Westen kommen keine Massendemonstrationen vor, bei denen der Tod von Säuglingen und Kleinkindern in Gaza gefeiert wird. In Neukölln und anderswo in Berlin teilt niemand Süßigkeiten aus, um zu feiern, dass der Krieg, den palästinensische Dschihadisten angezettelt haben, zivile Todesopfer gefordert hat.

Das israelische Militär foltert, verstümmelt und vergewaltigt keine palästinensische Zivilisten in Gaza; und eventuelle Kriegsverbrechen einzelner Soldaten werden genau als das behandelt, was sie sind, nämlich als Kriegsverbrechen, die verfolgt und geahndet werden müssen. Gefangene Mitglieder von Hamas und Palästinensischem Islamischen Dschihad werden nicht in den Straßen Tel Avivs vorgeführt und dort von israelischen Zivilisten blutig geschlagen. Es herrscht eine moralische Asymmetrie zwischen Israel und seinen Feinden.

Diese Feststellung lässt sich auf den moralischen Unterschied zwischen dem Westen und seinen Feinden erweitern. Während im Westen Tausende auf die Straße gehen, um gegen das Sterben seiner Feinde, also gegen das Sterben von Menschen, die geschworen haben, Juden und andere Ungläubige umzubringen, zu protestieren, gilt das nicht für die Feinde des Westens.

In mehrheitlich muslimischen Ländern fanden keine Massenproteste gegen die Gräueltaten des 7. Oktober und die vielen Terroranschläge in westlichen Ländern statt. Ebenso protestieren Russen nicht massenhaft gegen den Angriffskrieg auf die Ukraine, ganz im Gegenteil: Massenproteste in Russland, mehrheitlich muslimischen Ländern und anderen Regionen der Welt, die dem Westen feindlich gegenüberstehen, richten sich immer gegen den Westen, nie gegen die iranischen Ayatollahs, die Muslimbrüder, Wladimir Putin oder andere gewissenlose Herrscher.

All jene, die mit einer mentalen Weltkarte im Kopf umherlaufen, in der der Westen immer schon im Voraus als Täter identifiziert ist und die Gegner des Westens per definitionem als Opfer dargestellt werden, sind dazu verurteilt, entfremdet von der Wirklichkeit zu leben. Korrupte, brutale Diktatoren zu entschuldigen, nur weil sie in einem Land herrschen, das einmal eine Kolonie war, oder Terrorgruppen wie die Huthi im Jemen, die homosexuelle Männer tatsächlich kreuzigen, von Schuld freizusprechen, stärkt grausamen, unmoralischen Eliten den Rücken.

Egal, welche Gründe für absichtliche und zweckmäßige Grausamkeit vorgeschoben werden (wovon unabsichtliche Geschehnisse wie Eigenbeschuss, Kollateralschäden, Traumata usw. auszunehmen sind), bleibt sie das Summum malum, das Böse schlechthin (Shklar 1982). Im gegenwärtigen globalen Konflikt zwischen dem Westen und seinen Feinden ist offensichtlich, dass eine Seite von Gewissensbissen geplagt ist, während die andere im Leiden des Feindes schwelgt und Grausamkeit feiert. Darüber hinaus ist diese andere Seite bereit, die eigene Bevölkerung zur Schlachtbank zu führen, so wie Putin es in der Ukraine, Irans Stellvertreter im Nahen Osten und die Rebellen im Sudan tun.

Wir sollten, nein, wir dürfen nicht vergessen, dass im Iran-Irak-Krieg in den 1980er Jahren Tausende von Kindern von den iranischen Theokraten in die Minenfelder geschickt wurden, um für die Truppen den Weg zu räumen. Jedes Kind hatte einen Schlüssel bekommen, um, wenn es auf eine Mine trat, sofort ins Paradies zu kommen. Die Männer, die eine solche zynische Schandtat begingen, sind immer noch an der Macht. Sie sind unmoralische, grausame Feiglinge. Dennoch erheben sich moralische Menschen im Westen zu ihrer Verteidigung.

Literatur:

Shklar, Judith (1982): Putting cruelty first. In: Daedalus, Vol. 111. No. 3, S. 17–27.

Stade, Ronald (2016). Cruelty. In: Conflict and Society, No. 2, S. 6–8.

Stade, Ronald / Rapport, Nigel (2023). An anthropological investigation of cruelty and its contrasts. In: Philosophy and Social Criticism, Vol. 49. No.10, S. 1262–1285.

Ronald Stade ist emeritierter Professor für Friedens- und Konfliktforschung mit Spezialisierung auf Anthropologie an der Universität Malmö. Er war an der Universität Stockholm, dem Swedish Collegium for Advanced Study und der Hitotsubashi University in Tokio tätig und lebt seit 2016 im Nahen Osten; zunächst im Libanon und seit 2018 in Jordanien.

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