Omri Boehms obsessive Angriffe auf das Holocaust-Gedenken dienen einem einzigen Zweck: der Zerstörung Israels als jüdischem Staat den Weg zu ebnen.
Im vorangegangenen Teil haben wir uns mit Boehms Toben gegen die israelische Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem beschäftigt. Ferner haben wir anhand von Beispielen seine Behauptung widerlegt, „dass Israel in den ersten dreizehn Jahren seines Bestehens so gut wie kein Interesse am Holocaust-Gedenken“ gezeigt habe. In seinem Buch Israel – eine Utopie verknüpft Boehm diese Behauptung mit der These, dass die Beschäftigung mit dem Holocaust in Israel erst dann (und deshalb) begonnen habe, als (bzw. weil) Ben-Gurion 1961 gesehen habe, dass sich der Eichmann-Prozess in Jerusalem für politische Zwecke nutzen lasse. Die angeblich desinteressierte Haltung der israelischen Öffentlichkeit habe sich laut Boehm dann „mehr oder weniger über Nacht“ verändert:
„Die Gefangennahme Adolf Eichmanns 1960 und sein Gerichtsprozess im darauffolgenden Jahr dienten nicht in erster Linie dazu, den SS-Obersturmbannführer zur Rechenschaft zu ziehen, sondern dazu, den Holocaust schließlich doch in die jüdische Geschichte einzuschreiben. Und nicht nur einzuschreiben, sondern in den primären einigenden Grundsatz der nationalen israelischen Identität zu verwandeln und entsprechend zur Geltung zu bringen.“
Der Prozess sei „als eine Art Nationaltheater inszeniert“ worden, so Boehm,
„eine Zielsetzung, aus der Ben-Gurion auch keinen Hehl machte. Wie er der israelischen Tageszeitung Jedi’ot Acharonot sagte, ‚interessiert mich das Schicksal der Person Eichmann nicht im Geringsten. Was zählt, ist das Spektakel‘.“
Keinen Boehm-Zitat einfach glauben
Hat Ben-Gurion das wirklich gesagt – und wenn ja, was meinte er damit? Da man nichts von dem glauben darf, was Boehm schreibt – schon gar nicht, wenn es um Zitate von Persönlichkeiten aus der Geschichte des Zionismus geht –, bat ich den israelischen Historiker Moran Fararo, das Zitat zu prüfen. Fararo hat einen Master of Arts-Abschluss in Middle Eastern Studies der Hebräischen Universität Jerusalem und recherchiert beruflich historische Fakten für Dokumentarfilme und Fernsehserien. Die Ausgabe der Zeitung, aus der das Zitat stammt, fand Fararo im Jedi’ot-Acharonot-Archiv der Beit-Ariela-Shaar-Zion-Bücherei in Tel Aviv. Er übersetzt den ersten Teil des Zitats Ben-Gurions wie folgt:
„Das Schicksal von Eichmann, der Person, hat überhaupt keine Bedeutung.“
„Interessiert mich nicht im Geringsten“ – wie Boehm das Zitat wiedergibt – habe Ben-Gurion hingegen nicht gesagt. Der zweite Teil sei schwierig zu übersetzen, sagt Fararao. Wo laut Boehm von „Spektakel“ die Rede ist, stehe im hebräischen Original das Wort Hizayon. Fararo erklärt, dass der Begriff laut Wörterbuch mit Schauspiel, Anblick, Show; (blumiger) Traum, Vision übersetzt werden könne – oder tatsächlich auch mit Spektakel. Er werde aber im modernen Hebräisch kaum mehr verwendet und sei eher aus der Bibel bekannt: „Dort steht Hizayon immer in Zusammenhang mit Prophezeiungen oder, was in der Bibel das Gleiche ist, mit Träumen.“ Ich bitte Fararo, mir eine Stelle der Bibel zu nennen, wo der Begriff auftaucht, damit ich sie in einer deutschen Bibelübersetzung nachschlagen kann. Er nennt Sacharja 13, 4. In der Luther-Bibel lautet der Vers:
„Und es soll zu der Zeit geschehen, dass die Propheten in Schande dastehen, ein jeder wegen seiner Gesichte [Hizayon], die er weissagt. Und sie sollen nicht mehr einen härenen Mantel anziehen, um zu betrügen.“
In der Elberfelder Übersetzung steht:
„Und es wird geschehen an jenem Tag, da werden die Propheten sich schämen, jeder über seine Vision [Hizayon], dass er als Prophet aufgetreten ist, nie mehr werden sie einen härenen Mantel anlegen, um zu lügen.“
Was also meinte Ben-Gurion, als er sagte, es gehe beim Eichmann-Prozess um Hizayon? Meinte er ein„Spektakel“ – im Sinne einer bombastischen Unterhaltung –, oder eine von Gott gesandte Vision? Ersteres ist, wie für Boehm typisch, die böswillige Interpretation; Letzteres ist nicht plausibel bei jemandem, der so antireligiös war wie Ben-Gurion. Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte. Der Historiker Moran Fararo erklärt:
„Die wichtigste Sache, die Ben-Gurion an dem Prozess interessierte, ist die moralische und historische Bedeutung des Verfahrens. Es musste etwas sein, dass Leute mit ihren eigenen Augen ansehen können, damit die Jugend Israels etwa über den Holocaust lernen wird. In Ben-Gurions Vision des Prozesses war Eichmann ein Werkzeug. ‚Hizayon‘ ist eine erstaunliche Sache, sie kann gut oder schlecht sein, abhängig vom Zusammenhang; doch der wichtigste Aspekt ist, dass es ein erstaunlicher Anblick ist, etwas, das man mit seinen eigenen Augen sieht.“
Freilich sieht man auch ein Theaterstück mit seinen eigenen Augen; aber indem Boehm behauptet, es sei Ben-Gurion um ein Spektakel gegangen und er den Eichmann-Prozess als ein Theater bezeichnet, wählt er absichtlich eine Interpretation, die ein schlechtes Licht wirft auf Ben-Gurion, auf die Staatsanwälte, Richter und Zeugen im Eichmann-Prozess – und nicht zuletzt auf die israelischen Juden, die sich angeblich kaum für den Holocaust interessiert hätten, bis Ben-Gurion ihnen dieses „Spektakel“ bzw. „Theater“ vorgesetzt habe. Halten wir fest:
- Boehms Behauptung, „dass Israel in den ersten dreizehn Jahren seines Bestehens so gut wie kein Interesse am Holocaust-Gedenken zeigte“ ist falsch.
- Boehm übersetzt und interpretiert Ben-Gurions Äußerung über die Bedeutung des Hizayon absichtlich so, dass sie eine eindeutige Tendenz bekommt, die sie im Original nicht hat.
Beides zusammen soll den Eindruck erwecken, als habe das Holocaust-Gedenken in Israel seine Ursprünge in dem Kalkül von Ben-Gurion, der im Zuge des Eichmann-Prozesses erkannt habe, dass sich daraus politisches Kapital schlagen ließe – indem man den Holocaust mittels eines „Spektakels“ zum„primären einigenden Grundsatz der nationalen israelischen Identität … verwandel[t].“
„Pilgerfahrten zu Konzentrationslagern“
Andere angebliche Belege, die Boehm anführt, um zu zeigen, dass sich die Juden in Israel nur auf eine höchst oberflächliche – und interessengeleitete – Weise mit dem Holocaust befassten, sind noch trivialer. Als einen Beleg dafür, dass den Israelis der Holocaust lange Zeit egal gewesen sei, führt Boehm etwa „ein israelisches Lehrbuch zur jüdischen Geschichte von 1948“ an, in dem der Holocaust „auf einer Seite“ behandelt worden sei, die Napoleonischen Kriege hingegen auf „zehn“. Erstaunlich sollte man finden, dass im Jahr 1948 (!), als im Mandatsgebiet Palästina bzw. dem Staat Israel 366 Tage lang Krieg herrschte, überhaupt ein Verlag es auf sich nahm, in ein – wahrscheinlich damals bereits in Schulen verwendetes – Schulbuch eine Seite zum Holocaust einzufügen, was für den Autor, der diesen Text schreiben musste, eine sehr schwierige und emotional belastende Aufgabe gewesen sein muss. Boehm hat dafür nur Missbilligung übrig.
Eine deutlich antisemitische Tendenz bekommt Boehms Hass auf das Holocaust-Gedenken, wo er dieses als „goldenes Kalb“ bezeichnet. Das goldene Kalb war bekanntlich laut der Bibel ein Götzenbildnis, das Moses’ Bruder Aaron und die Israeliten aus Ohrringen schmiedeten, während Moses auf dem Berg Sinai die Zehn Gebote in Empfang nahm. Es steht in der Bibel für den Abfall von Gott und die Hinwendung zum Götzendienst. Tatsächlich spricht Boehm in diesem Zusammenhang davon, dass das Gedenken der Shoah von „Gedächtnisagenten“ zu einer „Götzenverehrung“ „aufgeblasen“ werde. Er schreibt:
„Als eine angeblich heilige Pflicht ist das Holocaust-Gedenken zu einem goldenen Kalb geworden – anders lassen sich die rituellen Pilgerfahrten israelischer Gymnasiasten zu Konzentrationslagern oder die Flugmanöver von F-15-Kampfjets der israelischen Luftwaffe über Auschwitz nicht beschreiben.“
Die Flugmanöver über Auschwitz? Boehm meint den kurzen Überflug dreier israelischer Piloten über die Gedenkstätte Auschwitz – für den Bruchteil einer Sekunde – im Jahr 2003, also vor fast 20 Jahren. Man kann die Idee zum damaligen Flug gut oder schlecht finden oder man kann neutral sein – in jedem Fall war er eine einmalige Sache. Es waren gewiss keine „Manöver“ und der Flug fand zu einem Zeitpunkt statt, als viele der heutigen israelischen Rekruten noch nicht einmal geboren waren. Boehm aber erweckt den Eindruck, es flögen regelmäßig israelische F-15-Jets „Manöver“ über Auschwitz. Denn er hat so wenige Belege für seine Hypothesen, dass er alles aus ihnen herausquetschen muss.
Boehms F-15-Beispiel ist nur läppisch. Gravierender ist seine Diffamierung der Gedenkstättenbesuche von Schulklassen als „rituelle Pilgerfahrten“. Vielen jüdischen und nichtjüdischen Schülern sind solche Besuche wertvoll und wichtig. Als ich 2019 für Mena Watch über den Schüleraustausch der Freien Christlichen Schule Ostfriesland in Moormerland im Kreis Leer berichtete, erzählte mir der pensionierte Lehrer Ingo Carl, dass ein Programmpunkt beim Besuch der israelischen Schüler in Deutschland stets der Besuch einer Holocaust-Gedenkstätte sei, etwa des ehemaligen Konzentrationslager Esterwegen. Auf Anregung der israelischen Seite werde dort auf eine besondere Weise gedacht: „Die Schüler bringen Kerzen und Gedichte mit und veranstalten eine gemeinsame Gedenkzeremonie“, so Carl. „Das schweißt sie zusammen. Die liegen sich weinend in den Armen und man steht in positiv betroffener Sprachlosigkeit daneben.“
Menschen gehen auf verschiedene Arten mit der Shoah und dem Gedenken um. Manche Menschen entscheiden für sich, dass sie keine KZ-Gedenkstätte besuchen wollen. Das ist legitim. Aber nur, weil Boehm das Gedenken an den Holocaust abstoßend findet, sollte er seine eigene Haltung nicht zum Maßstab für andere machen, nicht die Aufrichtigkeit ihrer Trauer und ihres Gedenkens in Frage stellen, sie verunglimpfen und verhöhnen.
Warum macht Omri Boehm das?
Es stellt sich die Frage, warum er das macht. Die Antwort liefert er selbst. Boehm hält nicht den Zionismus – den Wunsch des jüdischen Volkes nach einem selbstbestimmten Leben in seiner alten Heimat Eretz Israel – für das Fundament des Staates Israel; das wahre Fundament sei das Holocaust-Gedenken, glaubt er. Die Idee von Israel als dem Staat der Juden sei „holocaustbasiert“. Diese Idee müsse zugunsten der von Boehm angestrebten binationalen „Republik Haifa“ aufgegeben werden. Doch das Gedenken der Shoah – der „Holocaust-Messianismus“, wie Boehm es nennt – sei die „wesenhafte Verbindung zwischen Zionismus und souveränem jüdischen Staat“. Darum müsse man es auslöschen. Um „die kompromisslose gemeinsame jüdisch-palästinensische Föderation aufzubauen“, müsse der Holocaust „mit der Wurzel ausgerissen“ und „vergessen“ werden. Boehm hasst also das Holocaust-Gedenken und Holocaust-Gedenkstätten, weil er Israel hasst – und weil er dem Wahn anhängt, der Holocaust und das Gedenken an ihn seien Geheimwaffen israelischer Politik.
Bisher erschienen:
Die Methode Omri Boehm (Teil 1): Juden als Täter
Die Methode Omri Boehm (Teil 2): Geschichtsklitterung
Die Methode Omri Boehm (Teil 3): Unsichtbarmachen arabischer Akteure
Die Methode Omri Boehm (Teil 4): Haifa 1948 und die Vertreibung der Araber, die es nicht gab
Die Methode Omri Boehm (Teil 5): Auslassen von Zusammenhängen, am Beispiel der Schlacht von Lydda 1948
Die Methode Omri Boehm (Teil 6): Die Erfindung eines Vertreibungsplans
Die Methode Omri Boehm (Teil 7): Feldzug gegen das Holocaust-Gedenken
Die Methode Omri Boehm (Teil 8): Yad Vashem als Schaltzentrale des Bösen
Die Methode Omri Boehm (Teil 9): Das Holocaust-Gedenken „mit der Wurzel ausreißen“
Die Methode Omri Boehm (Teil 10): Boehms »Weimar-Moment«
Die Methode Omri Boehm (Teil 11): Pappkameraden aufbauen
Die Methode Omri Boehm (Teil 12): Gegen das »sakralisierte Holocaust-Gedenken«
Die Methode Omri Boehm (Teil 13): Des Großmuftis neue Kleider
Die Methode Ullstein: Nachtrag zu unserer Reihe »Die Methode Omri Boehm«