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Die »jüdische Nakba« (Teil 4): Das Ende der jüdischen Gemeinde im Irak 

Der Farhud in Iraks Hauptstadt Bagdad: einer der größten Pogrome der Geschichte
Der Farhud in Iraks Hauptstadt Bagdad: einer der größten Pogrome der Geschichte (Quelle: Beit Hatfutsot, Oster Visual Documentation Center The Otniel Margalit Collection, Yad Yitzhak Ben Zvi Archive)

Die jüdische Gemeinde im Irak, eine der ältesten der Welt, schrumpfte aufgrund von Verfolgung und Vertreibung von 135.000 Mitgliedern in den 1930er Jahren auf fünf im Jahre 2016.

Flucht und Vertreibung der Juden aus arabischen Ländern im 20. Jahrhundert waren nahezu total und können nicht bloß mit der Entstehung des Staates Israel in Verbindung gebracht werden. Der sich in der »jüdischen Nakba« manifestierende Antisemitismus hatte seine Ursachen im Judenbild des Korans und dem Export des europäischen Antisemitismus. Die Errichtung des Staates Israel war damit der Anlass, aber nicht der Grund für die Auslöschung der jüdischen Gemeinden in der arabischen Welt.

Babylon und Osmanisches Reich

Die jüdische Gemeinde im Irak hat eine mehr als zweieinhalbtausendjährige Geschichte seit der Zerstörung des ersten jüdischen Tempels im Jahr 597 v.d.Z. und dem darauffolgenden babylonischen Exil, aus dem unter der Patronage des persischen Königs Kyros II. nur ein Teil der Verschleppten im Jahr 539 v.d. Z. unter Esra und Nehemia zurückkehrten. Die Bedeutung des babylonischen Judentums stieg im Laufe der Zeit, während jene des Judentums im Land Israel im 3. Jahrhundert n.d.Z. unter christlicher Herrschaft zurückging.

Nach der muslimischen Eroberung Babylons um 640 n.d.Z. wurden nichtmuslimische Untertanen zu Dhimmis, zu Schutzbefohlenen mit eingeschränkten Rechten. Unter dem Statthalter Umar II. verschlechterte sich in den Jahren 717 bis 720 die Lage der Juden weiter, während sie sich nach der Eroberung Bagdads durch die Mongolen im Jahr 1258 zwar vorübergehend verbesserte, um sich nach dem Tod des Großkhans dann wieder zu verschlechtern. 1534 begann schließlich die Herrschaft der türkischen Osanen. 

Unter der Herrschaft des osmanischen Statthalters Dawud Pasha von 1816 bis 1831 waren viele Juden gezwungen, das Land zu verlassen. Vermögende Gemeindemitglieder wie die Sassoons, Ezras, Eliases, Gubbays und Judahs flohen nach Singapur, Hongkong und Schanghai, von wo aus sie in der Folge die im Land verbliebenen Juden finanziell unterstützen. 

Durch die Tanzimat-Edikte, mit denen Mitte des 19. Jahrhunderts eine Reihe tiefgreifender Reformen durchgeführt wurde, wurde die Einrichtung der Dhimma, der Status der diskriminierten Schutzbefohlenen, im Osmanischen Reich zwar formell abgeschafft, insbesondere durch den Reformerlass Hatt-ı Hümâyûn von 1856, was an Diskriminierung und Verfolgung de facto aber nicht viel änderte. So kam es am 15. September 1889 zu einem Pogrom mit mehreren Toten in Bagdad.

Der Fahrhud

Als nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs das Mandatsgebiet des Iraks gebildet wurde, ersuchten die Juden in den Jahren 1918, 1919 und 1920 bei den Briten um die Verleihung der britischen Staatsbürgerschaft an, die ihnen aber verwehrt wurde. Eine kurze Blüte des irakischen Judentums folgte dennoch. Gebildete Juden spielten eine wichtige Rolle; so war der erste Finanzminister des Iraks in den Jahren 1921 bis 1927, Sir Sassoon Eskell, jüdischer Herkunft.

Doch schon 1929 wurde der zionistischen Bewegung die Tätigkeit im Irak untersagt und ab 1932, dem Jahr von Iraks Unabhängigkeit, begann der deutsche Botschafter Fritz Grobba in Zeitungen Übersetzungen von Auszügen aus Hitlers Mein Kampf zu platzieren. Durch den deutschen Propagandasender Radio Zeesen erfolgte ab 1933 obendrein antisemitische Hetze in arabischer Sprache

In der Folge wurden der Unterricht von Bibelkunde, jüdischer Geschichte und Hebräisch verboten. Zwischen 1934 und 1936 wurden Juden aus dem Staatsdienst entlassen. 1934 mussten Juden eine Ausreisesteuer hinterlegen, und 1936 wurden jüdische Unternehmen gezwungen, einen muslimischen Partner aufzunehmen. Am Jom-Kippur desselben Jahres kam es zu mehreren Anschlägen, bei denen drei Juden in Bagdad und ein Jude in Basra ermordet wurden.

Am 1. April 1941 putschte sich der nazifreundliche Politiker Rashid al-Kilani an die Macht, woraufhin einen Tag später militärische Auseinandersetzungen mit den britischen Truppen begannen. Genau einen Monat später, zwischen dem 1. und 2. Juni, kam es nach dem Sieg der Briten im Anglo-Irakischen Krieg zu einem der größten antijüdischen Pogrome der Geschichte: dem Farhud

Die Unruhen in Bagdad geschahen in einem Kräftevakuum nach dem Zusammenbruch der nazifreundlichen Regierung und dem Aufkommen antisemitischer Gerüchte, die Juden hätten die britische Armee unterstützt. Im Zuge der Ausschreitungen wurden 180 Juden ermordet, 1.000 verletzt und 900 jüdische Häuser zerstört. Nach dem Massaker bildete sich eine zionistische Untergrundbewegung, da die meisten Juden im Irak keine Zukunft mehr für sich sahen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg

Am 28. November 1947 drohte der irakische Außenminister Muhammad Fadhel al-Jamali, ein Teilungsbeschluss der UNO für Palästina, der die Errichtung eines jüdischen und eines arabischen Staates auf dem Territorium des britischen Mandats empfehlen würde, hätte für die Juden in der gesamten arabischen Welt sehr negative Folgen.

Im Zuge der israelischen Staatsgründung rief der Irak 1948 den Ausnahmezustand aus. 310 Juden wurden vor Militärgerichte gestellt und jüdische Beamte aus dem Staatsdienst entlassen. Zionistische Aktivitäten wurden strafrechtlich verfolgt und mit mindestens sieben Jahren Zuchthaus geahndet.

Im September 1948 wurde Shafiq Ades, der reichste Jude im Irak und Gegner der zionistischen Bewegung, am Galgen vor seiner Villa in Basra aufgehängt. Jüdische Unternehmen verloren ihre Lizenzen, und die irakischen Juden wurden zur Entrichtung einer Steuer für den Kampf gegen Israel verpflichtet. Im Jahr 1949 kamen erneut 100 Juden wegen (angeblicher) zionistischer Tätigkeit vor Gericht.

Im März 1950 gestattete das irakische Parlament Juden für ein Jahr unter Verzicht auf ihr Eigentum die Ausreise. Einer der Beweggründe der irakischen Behörden war der hohe jüdische Anteil unter den Mitgliedern und Funktionären der kommunistischen Partei, die man auf diese Weise loswerden wollte – und die Hoffnung, durch die erzwungene Aufnahme völlig mittelloser Juden die israelische Wirtschaft zu überfordern und zum Kollaps zu bringen. 

Nachdem es zu Bombenanschlägen in Synagogen gekommen war, verließen im Zuge der Evakuierungsoperation »Ezra und Nehemia« 121.633 Juden das Land.

Nach der Machtübernahme der Ba‘ath Partei im Jahr 1963 erhielten die zurückgebliebenen Juden gelbe Identitätskarten. Im Rahmen einer erneuten Verfolgungswelle im Jahr 1968 wurden neun Juden zum Tode verurteilt und ein Jahr später zusammen mit anderen Verurteilten öffentlich gehängt. Zwischen 1970 und 1972 erfolgten weitere 18 Hinrichtungen.

1970 flüchteten 900 Juden über das Kurdengebiet aus dem Irak. Im Jahr 2005 lebten nur noch 76 Juden im Irak, 2016 sind es nur noch fünf gegenüber 135.000 in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts.

Empfohlene weitergehende Literatur:

 

In der Reihe erschienen:

Die »jüdische Nakba« wird verschwiegen
Die »jüdische Nakba« (Teil 2): Geschichte der muslimischen Judenfeindschaft
Die »jüdische Nakba« (Teil 3): Die Vertreibung aus Ägypten 
Die »jüdische Nakba« (Teil 4): Das Ende der jüdischen Gemeinde im Irak 
Die »jüdische Nakba« (Teil 5): Das Verschwinden der jüdischen Gemeinde in Marokko
Die »jüdische Nakba« (Teil 6): Der Libanon, Syrien und die Ritualmordlegende zwischen 1840 und heute
Die »jüdische Nakba« (Teil 7): Die Juden des Jemen
Die »jüdische Nakba« (Teil 8): Die Flucht der Juden aus Algerien, Tunesien und Libyen
Die »jüdische Nakba« (Teil 9): Die Verfolgung der Juden im Iran
Die »jüdische Nakba« (Teil 10): Abschließende Zusammenfassung

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