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Die »jüdische Nakba« (Teil 5): Das Verschwinden der jüdischen Gemeinde in Marokko

Alte Synagoge in der Mellah, dem ehemaligen jüdischen Viertel, in der Altstadt von Fes in Marokko
Alte Synagoge in der Mellah, dem ehemaligen jüdischen Viertel, in der Altstadt von Fes in Marokko (© Imago Images / Robert Fishman)

Die Lage der Juden in Marokko unterschied sich von der in den orientalischen osmanischen Ländern, und sie befanden sich in einer ähnlichen Situation wie die Juden im christlichen Europa. 

Flucht und Vertreibung der Juden aus arabischen Ländern im 20. Jahrhundert waren nahezu total und können nicht bloß mit der Entstehung des Staates Israel in Verbindung gebracht werden. Der sich in der »jüdischen Nakba« manifestierende Antisemitismus hatte seine Ursachen im Judenbild des Korans und dem Export des europäischen Antisemitismus. Die Errichtung des Staates Israel war damit der Anlass, aber nicht der Grund für die Auslöschung der jüdischen Gemeinden in der arabischen Welt.

Zeit der islamischen Herrschaft

Die Juden Marokkos haben eine jahrhundertelange Tradition des Zusammenlebens mit den – lange unter der als abwertend verstandenen Fremdbezeichnung »Berber« bekannten – Amazigh, der Urbevölkerung Nordafrikas. Zwei jüdische Amazigh-Stämme, die Dscharawa und die Nefuka, leiteten im 7. Jahrhundert unter der Königin Kahina gemeinsam mit christlichen Amazigh-Stämmen den Widerstand gegen die islamischen Eroberer. 

Nach der Islamisierung des Landes verschlechterte sich der Status der Juden. Im Zuge von Auseinandersetzungen zwischen den beiden der Amazigh-Stammesgruppe der Zenata angehörenden Stämmen der Banu Ifran und der Maghrawa kommt es 1033 zu einem Pogrom in Fez, bei dem sechstausend männliche Juden ermordet und die Frauen geraubt wurden.

Besonders unter der Dynastie der Almohaden zwischen 1147 und 1269 wurden die Juden bisweilen massiv verfolgt. Anders als in anderen islamischen Ländern, in denen sie nur eine von mehreren religiösen Minderheiten waren, stellten sie in Marokko die einzige religiöse Minderheit dar, wodurch wurden sie zum einzigen Ziel religiöser Intoleranz und religiösen Hasses wurden. Vergleichbar schlecht war ihre Stellung nur in Persien – nicht zufällig dem anderen Randbereich des osmanischen Reiches, unter dessen dessen Einfluss im Marokko im 16. Jahrhundert geriet, auch wenn es sich als einziger arabischer Staat erfolgreich gegen die Osmanen behaupten konnte.

Marokko war das einzige Land der arabischen Welt, in dem Juden in eigenen Wohnvierteln, den Mellahs, leben mussten, ähnlich den Ghettos in Europa, und die diskriminierenden Bestimmungen der Dhimma – des Status als diskriminierte Schutzbefohlenen – wurden weitaus in dem nordafrikanischen Land strenger gehandhabt als anderswo. Dementsprechend hebt der Historiker Bernard Lewis in seiner Untersuchung Die Juden in der islamischen Welt hervor, die marokkanischen Juden befanden in dieser Hinsicht »in einer ähnlichen Lage wie die Juden in der mittelalterlichen Christenheit und unterschieden sich von den jüdischen Gemeinden in den orientalischen osmanischen Ländern«.

Der 1465 erfolgte Aufstand der islamisch-arabischen Lokaldynastie der Idrisiden in Fez gegen ihre Nachfolger an der Macht, die islamische Amazigh-Dynastie der Meriniden, war ein Aufstand gegen den Sultan von Marokko, Abd al-Haqq ibn Uthman Abu Muhammad, und seinen jüdischen Wesir (Regierungsbeauftragten) Harun ibn Batash, der die Meriniden-Herrschaft beendete, allerdings nicht die Restauration jener der Idrisiden brachte. Stattdessen konnte sich in den folgenden Machtkämpfen die Amazigh-Dynastie der Wattasiden unter Muhammad asch-Schaich al-Mahdi durchsetzen.

Französische Rechte und marokkanischer Nationalismus

Auch in den folgenden Jahrhunderten kam es immer wieder zu Verfolgungen und Pogromen. So wurden 1864 in Fez und Marrakesch 500 und 1875 in Demnat zwanzig Juden getötet. 1912 wurden in Fez bei einem Pogrom erneut 45 Juden ermordet. Die Errichtung des französischen Protektorats im selben Jahr beendete den Dhimmi-Status als rechtlich diskriminierte »Schutzbefohlene« von 230.000 Juden, die französische Staatsbürgerschaft wurde ihnen jedoch verwehrt.

In den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts verband sich in Marokko der Antisemitismus der französischen Rechten mit dem der marokkanischen islamischen Nationalisten. 1934 ersuchte der Wesir die französischen Behörden, Juden aus Teilen Casablancas zu verbannen. 1937 kam es in Meknes zu einem Pogrom, bei dem vierzig jüdische Geschäfte zerstört wurden.

Am 3. Oktober 1940 untersagte ein Gesetz der französischen Vichy-Regierung die Beschäftigung von Juden im öffentlichen Dienst und in den Medien, worauf am 31. Oktober 1940 weitere antijüdische Gesetze folgten. Wohlhabende Juden mussten in die ghettoähnliche »Mellah« umziehen. Der Großwesir (Regierungschef) Mohammed el Mokri fiel immer wieder durch antisemitische Äußerungen auf. Bis 1941 erfolgten weitere antijüdische Gesetze nach französischem Muster, die vom Sultan unterschrieben wurden.

Israels Staatsgründung, Marokkos Unabhängigkeit und das Abraham-Abkommen

1948 kam es zu Pogromen in den Städten Oujda und Jerada im Nordosten Marokkos, bei denen 47 Juden durch Muslime getötet und schätzungsweise über 150 weitere verletzt wurden. Infolgedessen verließen zwischen 1949 und 1957 110.000 Juden das Land.

1953 wurden in Oujda neuerlich vier, 1954 in Sidi Qasam sieben Juden ermordet. Ein Jahr später kam es zu einem Pogrom in El Jadida im Zuge dessen 1.700 Juden in den europäischen Teil der Stadt flohen. 1955 wurden in Wadi Zem sieben Juden ermordet.

1956 erließ das unabhängig gewordene Marokko ein Auswanderungsverbot nach Israel, weswegen zwischen November 1961 und Frühling 1964 ca. 80.000 marokkanische Juden in einer Geheimaktion des Mossads namens Operation Jachin außer Landes gebracht werden mussten. Neben Israel war Kanada das zweite Land, das eine große Zahl dieser Menschen aufnahm. Insgesamt verließen zwischen 1948 und 1967 237.813 Juden Marokko, nur wenige tausend blieben zurück.

Durch die Verfassung von 2011 wurde erstmals der Beitrag der Juden für die kulturelle Entwicklung Marokkos offiziell anerkannt. Im Zuge des Abraham-Abkommens, mit dem bislang vier islamische Staaten ihre Beziehungen zu Israel normalisierten, erfolgte ab Dezember 2020 eine weitere Annäherung. So nahm Marokko jüdische Geschichte in den Lehrplan auf und restaurierte Hunderte jüdische Kultusstätten und Friedhöfe. Im November 2021 richtete Marokko Direktflüge nach Israel ein und unterzeichnete kurz drauf ein umfassendes Verteidigungsabkommen mit dem jüdischen Staat – eine Zusammenarbeit, die seitdem ebenfalls weiter vertieftwurde.

Empfohlene weitergehende Literatur:

In der Reihe erschienen:

Die »jüdische Nakba« wird verschwiegen
Die »jüdische Nakba« (Teil 2): Geschichte der muslimischen Judenfeindschaft
Die »jüdische Nakba« (Teil 3): Die Vertreibung aus Ägypten 
Die »jüdische Nakba« (Teil 4): Das Ende der jüdischen Gemeinde im Irak 
Die »jüdische Nakba« (Teil 5): Das Verschwinden der jüdischen Gemeinde in Marokko
Die »jüdische Nakba« (Teil 6): Der Libanon, Syrien und die Ritualmordlegende zwischen 1840 und heute
Die »jüdische Nakba« (Teil 7): Die Juden des Jemen
Die »jüdische Nakba« (Teil 8): Die Flucht der Juden aus Algerien, Tunesien und Libyen
Die »jüdische Nakba« (Teil 9): Die Verfolgung der Juden im Iran
Die »jüdische Nakba« (Teil 10): Abschließende Zusammenfassung

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