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Schließt sich in Israel der politische Kreis?

Israelische Polizei geht gegen Anti-Regierungs-Demonstranten in Tel Aviv vor
Israelische Polizei geht gegen Anti-Regierungs-Demonstranten in Tel Aviv vor (© Imago Images / Sipa USA)

Es muss alles getan dafür werden, dass die Polarisierung in Israel nicht zu einer völligen Spaltung des Landes führt.

Benjamin Kerstein

»Das hätte mit Mord enden können«, sagte Sara Netanjahu letzte Woche, nachdem sie mehrere Stunden lang in ihrem Tel Aviver Friseursalon von linken Demonstranten belagert wurde. Die Ehefrau von Premierminister Benjamin Netanjahu, die zwar für ihre Marie-Antoinette-Haltung berüchtigt ist, war in diesem Fall jedoch einmal zu Recht verängstigt, obwohl es zweifelhaft erscheint, dass die Demonstranten sie tatsächlich getötet hätte. Nichtsdestotrotz erschien ihre Bemerkung wie eine schmerzhafte Ironie, denn etwas Ähnliches wurde schon einmal gesagt, als Israel das letzte Mal von vergleichbaren Unruhen erschüttert wurde.

Vor dreißig Jahren war es die Rechte, welche die Straßen in Brand setzte und zu Hunderttausenden gegen die Osloer Abkommen und den Friedensplan von Premierminister Yitzhak Rabin mit der PLO und Jassir Arafat demonstrierten. Die Hetze gegen Rabin war überwältigend, er wurde als Verräter und Mörder gebrandmarkt, und laut Ehud Baraks Autobiografie schlug der damalige Wohnungsbauminister Binyamin Ben-Eliezer einmal auf den Tisch des Kabinetts und brüllte: »Das wird mit einem Mord enden!« Tatsächlich wurde Rabin von einem Rechtsextremisten erschossen.

Auf den Kopf gestellt

Heute ist die Ironie des Ganzen kaum noch zu ertragen. Rabins Attentäter war ein Bewunderer von Baruch Goldstein, dem Kahanisten, der 1994 das Massaker in der Höhle der Patriarchen in Hebron verübte. Heute ist ein anderer Bewunderer Goldsteins – oder ehemaliger Bewunderer, wie er selbst behauptet, nämlich Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit, an der Spitze der Macht.

Die Massen auf den Straßen sind nicht mehr rechte Aktivisten, sondern die behäbige bürgerliche Linke, welche die letzten zwanzig Jahren weitgehend verschlafen hat – mit Ausnahme der Proteste für soziale Gerechtigkeit im Jahr 2011, die offiziell jedoch unpolitisch waren. Und es ist die Frau des erfolgreichsten rechten Politikers in der Geschichte Israels, die auf den Tisch schlägt und erklärt, alles werde mit einem Mord enden.

All dies erweckt den Eindruck, dass sich der Kreis geschlossen hat. Die Geschichte ist voller Ironie, und so ist jetzt die Rechte – und nicht die Linke der Arbeitspartei –, das Establishment und die geradezu natürlich erscheinende Regierungspartei, die Israel die meiste Zeit der letzten drei Jahrzehnte regiert hat.

In Rabins Regierung waren die am äußersten Rand angesiedelten Parteien, die auf einen radikalen Wandel in der Gesellschaft drängten, linke Post-Zionisten wie Meretz. Heute ist es die religiöse Rechte in Gestalt von Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich. Und das Objekt der Wut der Straße ist nicht ein ehrwürdiger Vertreter der Arbeitspartei, sondern der Fürst des revisionistischen Zionismus, der ehedem die Opposition gegen Rabins Friedensbemühungen angeführt hat und dabei nach Ansicht einiger zu weit gegangen ist.

All dies ist zweifellos besorgniserregend. Das letzte Mal, als Israel so leidenschaftlich gespalten war und die Straßen von den Empörten beherrscht wurden, wurde ein Premierminister ermordet. Wir sollten beten, dass Sara Netanjahu sich irrt. Nichtsdestotrotz bleibt der allgemeine Eindruck bestehen, dass Israels soziales Gefüge stark gespalten ist und auseinanderzubrechen droht.

Geteiltes Israel?

Kürzlich fragte ich einen befreundeten Linken, was passieren würde, käme die Justizreformen durch. Er zuckte mit den Schultern und sagte: »Vielleicht werden wir uns trennen.« Mit anderen Worten: Das säkulare, gemäßigte Mittelklasse-Israel auf der einen und diejenigen, die sich hinter der Grünen Linie im Westjordanland verschanzen, auf der anderen Seite. Das Israel der Start-up-Nation solle sich einfach von den umstrittenen Gebieten trennen und den national-religiösen Israelis überlassen, die sie besiedeln und annektieren wollen. So würde es einen säkular-demokratischen Staat Israel neben einer Art »Staat Judäa« geben, der nach dem Gesetz der Tora regiert wird.

Diese Fantasie ist bemerkenswert, nicht so sehr, weil sie unrealistisch ist, sondern eher wegen der Gleichgültigkeit meines Freundes gegenüber der Möglichkeit, sie könne wahr werden. Sollen sie doch ihren eigenen Weg gehen, sagte er. Solange sie uns in Ruhe lassen, wen kümmert es?

Mit anderen Worten, die Dinge haben einen Punkt erreicht, an dem eine Seite der israelischen Kluft relativ hoffnungsfroh ist, sich von der anderen Seite abspalten zu können – und die andere Seite könnte die Dinge genauso sehen. Es gebe, so der Inhalt der Fantasie, jetzt zwei Arten von Israelis, und vielleicht können sie nicht miteinander leben, sodass eine einvernehmliche Scheidung einem möglichen Bürgerkrieg vorzuziehen sei.

Doch zumindest aus meiner Perspektive im berühmt-berüchtigt linken Tel Aviv, wo die Menschen eigentlich wütend sein sollten, hat Israel nicht das Gefühl, am Rand eines solchen Bruchs zu stehen. Auf der alltäglichen Ebene funktioniert das Land noch immer, die Menschen gehen ohne großen Groll miteinander um, und die tägliche Mühsal der Existenz geht weiter. Spricht man die politische Situation an, erntet man in der Regel einen langgezogenen jüdischen Seufzer und ein Winken mit der Hand: Am besten, man spricht nicht darüber.

Man hat das Gefühl, die schweigende Mehrheit möchte einfach nur, dass sich die beiden Seiten zusammensetzen, einen Kompromiss aushandeln und damit abschließen; aber auch weiß, dass dies höchst unwahrscheinlich ist.

Besteht Israel die Prüfung?

Wir müssen also mit der Ironie leben. Das letzte Mal, als solch eine Situation herrschte, gab es schreckliche Folgen, aber die Gesellschaft hat die Prüfung bestanden und überlebt. Heute geschieht etwas Ähnliches, wenn auch mit umgekehrten Rollen, und es könnte durchaus zu schrecklichen Dingen führen, aber die Gesellschaft scheint wieder einmal die Probe zu bestehen.

Wenn wir Glück haben, wird es vielleicht nicht mit einem Mord enden, sondern mit der Rückkehr zu einer gewissen Vernunft. Die Linke und die Rechte könnten einen Kompromiss zur Justizreform akzeptieren. Netanjahu, der aufgrund des innenpolitischen Chaos und seiner abtrünnigen Koalitionspartner nicht regierungsfähig ist, könnte zurücktreten und einen neuen Likud-Chef einsetzen, der in der Lage ist, mit der Opposition zusammenzuarbeiten. Die Protestbewegung könnte einfach verpuffen, erschöpft von ihrer eigenen Empörung.

Es besteht also zwar die Gefahr, dass sich in Israel der Kreis schließt, aber beten wir, dass es dieses Mal nicht so enden wird.

Benjamin Kerstein ist Schriftsteller und Redakteur und lebt in Tel Aviv. Lesen Sie mehr von ihm auf Substack, auf seiner Website oder bei Twitter @benj_kerstein. (Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)

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