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Israel ist kein »siedlerkolonialistisches Projekt«

Israels Vorgeschichte: Eine Gruppe irakischer Juden die nach dem »Farhud« genannten Pogrom im Bagdad im Jahr 1941 ins britische Mandatsgebiet Palästina flohen
Israels Vorgeschichte: Eine Gruppe irakischer Juden die nach dem »Farhud« genannten Pogrom im Bagdad im Jahr 1941 ins britische Mandatsgebiet Palästina flohen (Quelle: JNS)

Die Geschichte der Juden im Nahen Osten vor und nach der Gründung Israels ist noch immer nicht allgemein bekannt.

Paul Schneider

Antizionisten im Allgemeinen und (pro-)palästinensische Aktivisten im Besonderen versuchen oft, Israel zu delegitimieren, indem sie es als ein weißes, suprematistisches Siedlerkolonialprojekt europäischen Stils bezeichnen. In der Palästinensischen Nationalcharta von 1964 heißt es etwa:  »Der Zionismus ist in seinen Anfängen eine kolonialistische Bewegung, aggressiv und expansionistisch in seinen Zielen, rassistisch und segregationistisch in seinen Strukturen und faschistisch in seinen Mitteln und Zielen.« Der israelische Historiker Benny Morris bringt die mit solchen Ausführungen verbundene Vorstellung auf den Punkt, wenn er sagt, laut ihr rührten aus der unterstellten »Erbsünde« alle weiteren »Übel des Zionismus und alles palästinensisches Leid« her.

Kein Kolonialismus

Die Behauptung der Siedlerkolonialität ist besonders bei palästinensischen Thinktanks wie Al Shabaka beliebt. Und sie steht im Mittelpunkt der Arbeit von Akademikern und Autoren wie Rashid Khalidi, Professor an der Columbia University. Khalidi betitelte sein 2020 erschienenes Buch The Hundred Years’ War on Palestine: A History of Settler Colonialism and Resistance, 1917–2017. Er bezeichnet den Zionismus als »klassisches europäisches Kolonialunternehmen des 19. Jahrhunderts«. Doch es gibt mehrere Probleme mit diesem Argument.

In seiner Antwort auf Khalidi stellt der bereits zitierte Benny Morris fest, dass »Kolonialismus allgemein definiert wird als die Politik und Praxis einer imperialen Macht, die politische Kontrolle über ein anderes Land zu erlangen, es mit ihren Söhnen zu besiedeln und wirtschaftlich auszubeuten. Nach jedem objektiven Maßstab entspricht der Zionismus nicht dieser Definition.«

Die europäischen Juden, die Palästina besiedelten, waren Flüchtlinge, keine Kolonisten. Sie kamen, um der Unterdrückung und Verfolgung zu entkommen und nicht, um die Interessen eines Mutterlandes zu fördern. Sie kamen auch, um in ihrer historischen Heimat zu leben und dort ein Gemeinwesen aufzubauen, und nicht, um die Grenzen des europäischen Einflusses auszuweiten. Selbst Rashid Khalidi anerkennt die historische jüdische Verbindung zu Palästina.

Khalidi und andere führen die Balfour-Erklärung von 1917 als Auslöser des arabisch-zionistischen Konflikts und den Beginn des jüdischen Siedlerkolonialismus an, was ihnen erlaubt, Großbritannien als koloniales Mutterland des Jischuw zu bezeichnen. Aber die zionistischen Einwanderer waren weder britisch noch waren sie wirtschaftlich an Großbritannien gebunden. Außerdem waren die jüdische Einwanderung nach Palästina und der daraus resultierende Konflikt älter als das britische Mandat. Auf jeden Fall war die britische Unterstützung des Zionismus nur von kurzer Dauer. Im Laufe der Zeit wurde Großbritannien sogar zum Hauptgegner der zionistischen Einwanderung.

Wie Morris hervorhebt, begann »die Geschichte des Zionismus und seines Konflikts mit den Arabern eigentlich schon 1882 mit der Ankunft der ersten Zionisten in Palästina.« Zu diesem Zeitpunkt hatten die Juden bereits die Bevölkerungsmehrheit in Jerusalem wiedererlangt. Und es war eine Gruppe dieser Jerusalemer Juden und keine europäischen Flüchtlinge, die 1878 die erste jüdische landwirtschaftliche Siedlung, Petach Tikvah, gründeten. Im Jahr 1914 lebten zwischen 90.000 und 100.000 Juden in Palästina.

Zionismus nicht der Beginn

Ein wesentlicher Bestandteil der Behauptung eines Siedlerkolonialismus ist das Argument, die Juden seien im Gegensatz zu den Arabern nicht in Palästina heimisch. Doch das stellt die Geschichte auf den Kopf. Juden besiedelten Palästina mehr als ein Jahrtausend vor dem Aufkommen des Islams und der anschließenden arabischen Eroberung. Seitdem haben sie dort ununterbrochen gelebt.

Außerdem zeigt der Bericht Land Ownership in Palestine, 1880–1948 von Moshe Aumann, dass die palästinensischen Araber mit dem Land nicht so heimatlich oder historisch verbunden sind, wie Leute wie Khalidi uns glauben machen wollen. Aumann zitiert Studien, aus denen hervorgeht, dass die meisten palästinensischen Araber die Nachkommen von Einwanderern aus anderen Ländern sind, die nach 1882 in die Region kamen, wozu auch die massive arabische Einwanderung nach Palästina zwischen den beiden Weltkriegen gehörte. Die Hauptursache dafür war »die jüdische Entwicklung, die nicht nur neue und attraktive Arbeitsmöglichkeiten schuf, sondern ganz allgemein auch einen Lebensstandard, wie er im Nahen Osten zuvor unbekannt war«.

Aumann kommt zu dem Schluss: »Der ständige Zustrom nicht-palästinensischer Menschen, arabischer und nicht-arabischer Herkunft, schon vor 1882 und erst recht danach, lässt das angebliche und weitgehend angenommene ›Alteingesessen-Sein‹ des arabischen Faktors in der Bevölkerung Palästinas in einem ganz anderen Licht erscheinen.«

Aber das größte Problem mit dem Argument des Siedlerkolonialismus ist, dass mindestens die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels aus Mizrachim besteht, deren Familien vor und unmittelbar nach der Gründung Israels aus arabischen Ländern vertrieben wurden. Sie sind nicht europäisch und im Nahen Osten genauso heimisch wie jeder Araber.

Vertreibungen aus dem arabischen Raum

Lyn Julius legt in ihrem bahnbrechenden Buch Uprooted ausführlich die Geschichte dieser Vertreibungen dar. Sie schreibt, dass »nach dem Zweiten Weltkrieg die arabischen Staaten Gesetze im Stil von Nürnberg verabschiedeten, um ihre jüdischen Bürger im großen Stil zu vertreiben und ihr Eigentum zu rauben«. Hunderttausende Juden wurden daraufhin aus Algerien, Ägypten, Irak, Libanon, Libyen, Marokko, Syrien, Tunesien und Jemen vertrieben. In jedem dieser Länder gab es bereits Jahrhunderte vor der arabischen Eroberung eine jüdische Gemeinde. Insgesamt wurden 850.000 Juden vertrieben. Mehr als eine halbe Million floh nach Israel.

Diese Vertreibungen wurden größtenteils durch den Andtisemitismus des Nazi-Kollaborateurs und Propagandisten Amin al-Husseini, zu dieser Zeit Anführer der palästinensischen Nationalbewegung, ausgelöst. Daher können sich die Araber kaum darüber beschweren, dass Mizrachim in Israel Zuflucht suchten oder behaupten, die Einwanderung von Mizrachim nach Palästina sei ein Siedlerkolonialprojekt gewesen.

Die Geschichte der Juden im Nahen Osten ist noch immer nicht allgemein bekannt. Wie Julius feststellt, »wird die Geschichte der vergessenen jüdischen Flüchtlinge in der westlichen Berichterstattung über den israelisch-arabischen (oder landläufiger: israelisch-palästinensischen) Konflikt ausnahmslos ausgelassen«. Außerdem »nutzen Propagandisten diese Unwissenheit bereitwillig aus, um die Lüge aufrechtzuerhalten, alle israelischen Juden stammen aus Europa und Amerika«.

Rashid Khalidi ist ein gutes Beispiel dafür. In seinem Buch erwähnt er zweimal ganz kurz die Mizrachim, bezieht sich dabei aber nur auf die in Palästina ansässigen Juden. Diejenigen, die aus arabischen Ländern geflüchtet sind, erwähnt er nicht. So kann er die Unwahrheit aufrechterhalten, Israel sei ein europäisches Siedlerkolonialprojekt. Das hilft ihm nicht zuletzt dabei, die Tatsache zu umgehen, dass die Hälfte der »Kolonisten« wegen des arabischen Antisemitismus in Israel ist. Was Khalidi macht, ist keine historische Analyse. Es ist intellektuelle Unredlichkeit.

Paul Schneider ist Rechtsanwalt, Schriftsteller und Mitglied des Vorstands des American Jewish International Relations Institute (AJIRI), einer Mitgliedsorganisation von B’nai B’rith International. (Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)

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