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Umstrittenes Kirkuk

Die umstrittene Stadt Kirkuk im Nordirak
Die umstrittene Stadt Kirkuk im Nordirak (© Imago Images / imagebroker)

Jüngste Ausschreitungen in der multiethnischen Stadt Kirkuk erinnern daran, dass im Irak die Zugehörigkeit zahlreicher Gebiete immer noch ungeklärt ist.

Kirkuk im Norden des Iraks ist eine Vielvölkerstadt, in der neben Kurden und Arabern auch Angehörige der turkmenischen Minderheit leben. Für die Sicherheit ist das sogenannte Gemeinsame Einsatzkommando der irakischen Streitkräfte (JOC) zuständig – ein Zusammenschluss aus Armee, irakischen und kurdischen Sicherheits- und Geheimdiensten und schiitischen Milizen. Ende August forderte der irakische Premierminister Mohammed Shia al-Sudani, dieses Einsatzkommando abzuziehen und die Büros in Kirkuk der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) zu übergeben. Seitens der Regierung war die Entscheidung als Geste des guten Willens gegenüber dem Koalitionspartner KDP gedacht.

Allerdings stieß al-Sudani damit bei ethnischen und religiösen Gruppen in Kirkuk auf heftigen Widerstand. Turkmenen, Araber und Schiiten lehnen einen verstärkten Einfluss der kurdischen KDP ab. Es folgten tagelange Proteste und kurdische Gegenproteste, mindestens vier Kurden wurden von den Sicherheitskräften erschossen. Angesichts der Gewalttätigkeiten beschloss das irakische Bundesgericht am 3. September, die Umsetzung von al-Sudanis Anordnung zu stoppen, bis die rechtlichen Grundlagen geprüft sind. Doch was ist eigentlich der Grund für die Spannungen in Kirkuk?

Unklare Machtverhältnisse

Nach dem Ende des Osmanischen Reichs teilten sich die Siegermächte das ehemalige Imperium untereinander auf, wobei Großbritannien Kirkuk in den neu gegründeten Staat Irak eingliederte. Die Entdeckung von Erdöl in den 1920er Jahren machte die Stadt zum Motor des landesweiten wirtschaftlichen Wachstums.

Kirkuk lag an der Grenze zwischen den mehrheitlich kurdischen Gebieten im Norden und den arabisch dominierten Regionen im Zentrum und Süden des Landes. Als das Baath-Regime 1968 an die Macht kam, reagierte es auf die Unabhängigkeitsbestrebungen der Kurden durch eine Politik der Arabisierung: Kurden und in geringerem Maße auch Turkmenen wurde aus der Provinz zwangsumgesiedelt und durch arabische Familien aus dem Süden ersetzt. Diese wurden von der Regierung mit Geld unterstützt, um in Kirkuk Häuser und Land erwerben zu können.

Die Arabisierung betraf nicht nur Kirkuk, sondern auch Teile der Provinzen Nineveh, Salahaddin und Diyala – ein Landstreifen, der sich von der syrischen Grenze im Westen bis zur iranischen im Osten Iraks erstreckt. Nach dem Sturz des Regimes 2003 erlangten die Kurden die Kontrolle über zahlreiche dieser Gebiete, die sie als ihr traditionelles Siedlungsgebiet ansahen und daher als Teil von Irakisch-Kurdistan beanspruchten, allerdings ohne gesetzliche Grundlage.

In der Verfassung von 2005 wurde zwar die föderale Region Kurdistan innerhalb der nördlichen Provinzen Erbil, Dohuk und Suleimaniya geschaffen. Die Ansprüche der Kurden auf andere Gebiete, darunter Kirkuk, als Teil der Region Kurdistan wurden jedoch nicht geregelt. Stattdessen erhielten sie den Status »umstrittene Gebiete«.

Der ursprüngliche Plan sah vor, den Status dieser Gebiete in einem dreistufigen Prozess bis Ende 2007 zu klären. Dem sollte eine Rückgängigmachung der durch die Arabisierung verursachten demografischen Veränderungen vorangehen, gefolgt von einer Volkszählung und einem Referendum. Dieser Prozess ist jedoch bis heute nicht abgeschlossen.

Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen geht es um die reichen Ölvorkommen in der Region Kirkuk, die aus nachvollziehbaren Motiven sowohl die Regierung des Autonomen Kurdistan als auch die Zentralregierung in Bagdad ausbeuten möchte. Zum anderen gibt es den Widerstand von Minderheiten, die ihre ethnische Identität durch eine mögliche Eingliederung ihrer Dörfer und Städte in die Autonome Region Kurdistan bedroht sehen.

Unterdrückte Identitäten

Seit dem Sturz von Saddam Hussein dominierten kurdische Parteien die Verwaltung von Kirkuk. Als im Sommer 2014 der Islamische Staat (IS) den Irak überrannte, zog sich die irakische Armee aus der Ölstadt zurück, die daraufhin in die Hände der Terrormiliz fiel. Wenige Tage später konnte Kirkuk aber von den Peshmerga zurückerobert werden, die seitdem für die Sicherheit in der Stadt zuständig waren.

Die Kurden nutzten ihre Position, um die Rückkehr Tausender kurdischer Familien in die Provinz zu ermöglichen. Unklar war allerdings, ob es sich dabei ausschließlich um Familien und deren Nachkommen handelte, die das Regime Saddam Husseins vertrieben hatte. Araber und Turkmenen behaupten, dass ebenso Familien angesiedelt wurden, die nicht aus Kirkuk stammten.

Auch in anderen umstrittenen Gebieten wird kurdischen Sicherheitskräften vorgeworfen, die Bevölkerungsverhältnisse zugunsten der Kurden ändern zu wollen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtet, dass Bewohner gezwungen wurden, sich als Kurden zu identifizieren.

Laut einem Bericht der Minority Rights Group beschuldigten turkmenische Organisationen die kurdischen Behörden, turkmenische Zivilisten nicht zu schützen und ihre Vertreibung zu fördern.

Gescheiterte Unabhängigkeit

Die Lage in Kirkuk änderte sich ein weiteres Mal, als die Autonome Region Kurdistan unter Regionalpräsident Masud Barzani im Herbst 2017 ein Unabhängigkeitsreferendum in Kurdistan und den umstrittenen Gebieten abhielt. Inwieweit diese Wahlen korrekt abliefen, ist umstritten. So sollen Wähler mehrfach oder ohne ordnungsgemäße Registrierung abgestimmt haben. Turkmenen und Araber hatten zum Boykott der Abstimmung aufgerufen. Laut Angaben der Wahlkommission entschieden sich am Ende 92 Prozent der Einwohner für eine Unabhängigkeitserklärung.

Die Zentralregierung in Bagdad erkannte die Abstimmung wie zu erwarten nicht an. Auch Washington, Ankara und Teheran stellten sich gegen die Volksabstimmung. Innerhalb kürzester Zeit eroberten irakische Streitkräfte mit Unterstützung schiitischer Milizen die gesamte Provinz Kirkuk. Nach Abzug der KDP wurde das Gemeinsame Einsatzkommando eingerichtet, das fortan für die Sicherheit in der Stadt zuständig ist.

Der Plan von al-Sudani sah vor, diese Entwicklung umzukehren und die KDP zurück nach Kirkuk zu holen. Und damit sind wir wieder bei den Protesten von Anfang September: Turkmenen und andere Gruppen in Kirkuk befürchten, dass die KDP bei einer Rückkehr ihre pro-kurdische Identitätspolitik fortsetzen wird, zumal im Dezember Provinzwahlen bevorstehen.

Keine Stabilität ohne Konsens

Die geschilderten Probleme betreffen nicht nur die Region Kirkuk – dort steht wegen der reichen Ölvorkommen nur besonders viel auf dem Spiel. Sämtliche umstrittene Gebiete werden von halb-staatlichen, bewaffneten Akteuren kontrolliert.

Kurdische Sicherheitskräfte ebenso wie schiitische Milizen, aber auch ausländische Akteure wie der Iran und die Türkei nutzen ethno-nationalistische Rhetorik und klientelistische Beziehungen, um miteinander zu konkurrieren und unterstützende Wählergruppen aufzubauen. Es ist kein Wunder, dass die Terrororganisation IS nach dem Ende des Kalifats im Irak vor allem in den umstrittenen Gebieten nach wie vor aktiv ist.

Das alles geschieht auf Kosten der Bürger, die unter der prekären Sicherheitslage zu leiden haben. Jedes Mal, wenn sich die Machtverhältnisse verschieben, ist deren religiöse und ethnische Identität bedroht. Für den konkreten Fall Kirkuk müsste daher ein Gleichgewicht gefunden werden, das die drei wichtigsten ethnischen Gruppen – Kurden, Araber und Turkmenen – zufriedenstellt und gleichzeitig gewährleistet, dass keine von ihnen den Sicherheitsapparat auf Kosten der anderen dominiert. Nur so kann eine friedliche Koexistenz und damit Stabilität in der Region gewährleistet werden.

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