Wer den skandalösen Völkermordvorwurf an Israel nicht bekämpft, sollte am 27. Januar nicht scheinheilig der Befreiung von Auschwitz gedenken.
Ariel Muzicant / Yonathan Arfi
Unter den gegen Israel erhobenen Vorwürfen sind der Vergleich zwischen dem Schicksal der Palästinenser heute und jenem der Juden während der Shoah, aber auch die falsche Anschuldigung des Völkermords ein verwerflicher Höhepunkt.
Die Formel ist bekannt: »Die Dinge falsch zu benennen bedeutet, das Unglück dieser Welt zu vergrößern«, schrieb Albert Camus im Jahr 1944. Während die Anhörung Israels gegen Südafrika vor dem Internationalen Strafgerichtshof stattfindet, gibt es viele Akteure in der öffentlichen Debatte, die auf diese falschen Anschuldigungen zurückgreifen – vom wegen seines Antisemitismus abgewählten Labourchefs Jeremy Corbyn bis zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der Israels Premier Benjamin Netanjahu mit Adolf Hitler vergleicht, von den zahlreichen Hamas-Unterstützern, die auf Demonstrationen »Vom [Jordan-]Fluss bis zum [Mittel-]Meer« rufen, bis hin zu bestimmten internationalen Gremien.
Ohne das berechtigte Mitgefühl für das Leid sowohl der palästinensischen Zivilbevölkerung als auch der israelischen Opfer und Geiseln dieses von der Hamas begonnenen Kriegs zu schmälern, müssen die Völkermord-Anschuldigungen Südafrikas entschieden und ohne Wenn und Aber zurückgewiesen werden.
Was bedeutet dieser Vorwurf des Völkermords? Was bedeutet diese Nazifizierung Israels? Indem man dem Krieg in Gaza das Bild des Völkermords überstülpt, soll dem Staat Israel das Etikett des ultimativen Verbrechens angehängt werden. Dieser Vorwurf ist materiell und rechtlich unbegründet, er stellt eine Perversion der Ereignisse dar und zielt tatsächlich auf andere, politische Ziele ab.
Erstens verwandelt diese Umkehrung den Zufluchtsstaat für die Opfer der Shoah und all jene, die bis heute vor dem Antisemitismus fliehen, in einen Staat der Täter. Zweitens zielt sie darauf ab, den moralischen Kompass der Öffentlichkeit zu ändern. Die symbolische Bezeichnung Israels als Nazi- und Apartheidstaat entlastet das europäische Gewissen von der Schuld an der Shoah.
Schließlich minimiert die Anschuldigung durch die Maximierung der moralischen Schuld Israels die Schwere der Massaker, Massenvergewaltigungen, Brandschatzungen und Geiselnahmen durch die Hamas. Israel des Völkermords zu beschuldigen ist im Grunde die wirksamste Strategie, um die Pogrome vom 7. Oktober und den Vernichtungsimpuls zu ignorieren, der die Hamas-Terroristen zu ihren Massenmorden, Vergewaltigungen und Folterungen an der israelischen Zivilbevölkerung motivierten.
Nicht neu
Diese anklagende Täter-Opfer-Umkehr ist nicht neu. Die Palästinenser haben oft die jüdischen Geschichte als Spiegel genutzt, um ihre eigene Erzählung zu formulieren. So entspricht etwa die Wahl des Wortes »Nakba« (»Katastrophe« auf Arabisch) zur Beschreibung des historischen Datums der Unabhängigkeit des Staates Israel und der Flucht und Vertreibung eines Teils der damals auf dem Territorium lebenden jüdischen und arabischen Bevölkerung der Bedeutung des Wortes hebräischen »Shoah« für die Vernichtung der europäischen Juden durch den Nationalsozialismus.
Aber vor allem enthemmt die anklagende Täter-Opfer-Umkehr jegliche Gewalt gegen Juden weltweit. Israel zu beschuldigen, einen Völkermord zu begehen und der neue Nazi-Staat zu sein, soll die radikalsten Reden rechtfertigen und sogar soweit gehen, die Forderung nach der Zerschlagung Israels als gerechtfertigt erscheinen zu lassen. Welche Gewalt wäre angesichts eines angeblich völkermörderischen Staates nicht legitim?
Seien wir nicht naiv: Diejenigen, welche diese Terminologie verwenden, tun dies nur, um Israel anzugreifen. Ihre selektive Empörung verschont die schlimmsten autoritären Verbrecherregime der Welt und ignoriert Opfer wie die Uiguren in China, die Rohingya in Burma oder die Christen in Nigeria, um nur einige zu nennen. Und natürlich haben diejenigen, die Israel nun einen Völkermord vorwerfen, nie westliche Militäroperationen gegen den Islamischen Staat in Mossul und Raqqa oder solche gegen die Al-Qaida in Afghanistan kritisiert, obwohl es auch dort zahlreiche zivile Opfer gab.
Die anklagende Umkehr der Tatsachen ist daher in der Tat eine gewollte und kalkulierte Stigmatisierung allein des jüdischen Staates. Leider wissen wir, dass die resultierende Beschuldigung automatisch auf alle Juden ausgeweitet wird, wo auch immer sie leben.
Wir, die Juden in Österreich und Europa, haben die Verantwortung, diese gefährlichen Entwicklungen anzuprangern, solange noch Zeit dazu ist. Wer diesen Skandal nicht bekämpft, sollte nicht am 27. Januar scheinheilig der Befreiung von Auschwitz gedenken, denn nein: Gaza ist nicht Auschwitz.
Ariel Muzicant ist Präsident des European Jewish Congress (EJC). Yonathan Arfi ist Präsident des Conseil Représentatif des Institutions Juives de France (CRIF).