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Führt anhaltender Terror in der Westbank zu israelischer Militäraktion?

Israelische Soldaten bei einer Anti-Terror-Razzia in Al-Yamun, in der Nähe von Dschenin in der nördlichen Westbank
Israelische Soldaten bei einer Anti-Terror-Razzia in Al-Yamun, in der Nähe von Dschenin in der nördlichen Westbank (Quelle: JNS)

Die Palästinensische Autonomiebehörde ist in den Krisengebieten weitgehend irrelevant geworden, wodurch eine größere israelische Militäroperation wahrscheinlich unvermeidlich ist. 

Yaakov Lappin

Die Sicherheitslage im Westjordanland ist nach wie vor beunruhigend instabil. Immer wieder werden Terroranschläge auf israelische Zivilisten und militärische Stellungen verübt, insbesondere im auch als Samaria bekannten nördlichen Teil der Westbank. So wurde am 30. Mai der 32-jährige, zweifache Familienvater Meir Tamari in der Nähe von Hermesh westlich von Dschenin bei einem Drive-by-Shooting ermordet. In den Tagen vor diesem Anschlag feuerten palästinensische Bewaffnete auf die Siedlung Mevo Dotan und das Dorf Gan Ner in der Region Gilboa.

Als Reaktion auf eine Reihe tödlicher Terroranschläge leiteten die israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) Anfang April 2022 die Operation Break the Wave ein. Obwohl diese nach Schätzungen des Verteidigungsapparats Hunderten von Israelis das Leben gerettet hat, konnte sie den von der nördlichen Westbank ausgehenden Terrorismus nicht eindämmen, weswegen israelische Beobachter gegenüber Jewish News Syndicate meinten, eine größere Militäroperation könnte unvermeidlich werden.

Intifada-Realität

Kobi Michael, leitender Forscher am Institute for National Security Studies (INSS) in Tel Aviv und ehemaliger Leiter des Palästina-Referats im Ministerium für strategische Angelegenheiten, sagte, die Palästinensische Autonomiebehörde sei fast bedeutungslos geworden und habe in der nördlichen Westbank de facto aufgehört zu existieren. In der Zwischenzeit habe der Palästinensische Islamische Dschihad (PIJ) mit Unterstützung des Irans und der Hisbollah im letzten Jahr das Vakuum genutzt, um seine Präsenz in diesem Gebiet zu verstärken. Seitdem habe sich die Lage weiterhin verschlechtert.

Aktuell habe man es vor allem mit Terrororganisationen zu tun, »die nicht etabliert sind, also nicht die Hamas oder der PIJ, sondern eher lokale Gruppen wie Die Höhle der Löwen«. Diese seien nicht direkt mit den üblichen Gruppen verbunden, »werden aber von diesen unterstützt, und zwar durch Waffen, Geldmittel und politische Unterstützung. Es herrscht ein Gefühl der Einheit in den Reihen«, analysiert der Experte.

Michael erklärte weiter, ihm seien etwa zwanzig lokale Terrororganisationen bekannt, die in dem Gebiet aktiv seien und sehr motiviert sind, Israelis anzugreifen und Konfrontationen mit den IDF zu provozieren. »Die Tatsache, dass die IDF nicht in der Lage sind, das Ausmaß des Terrors einzudämmen, jüdische Zivilisten in der Westbank bedroht werden, Gruppen weiterhin versuchen, Anschläge in Israel zu verüben und letztlich die israelische Armee hineinziehen können, all das ist ein großer Erfolg für sie.«

Und die Vorfälle weiten sich auf andere Gebiete aus, so auf Jericho, Ramallah, Hebron und den Umkreis von Jerusalem. »Wir befinden uns in einer Intifada-Realität, auch wenn wir dies bislang leugnen. Ich glaube nicht, dass es so weitergehen kann«, ist Kobi Michael pessimistisch.

Keine zweite Operation Defensive Shield

Moshe Elad, ehemaliger IDF-Oberst und einer der Begründer der Sicherheitskoordination zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde und Dozent am Western Galilee College in Nordisrael, sagte, die Lösung werde »in einer Operation gegen die Terrororganisationen liegen, aber dafür sind nachrichtendienstliche Erkenntnisse erforderlich, und das ist etwas, das abgewartet werden muss. In der Zwischenzeit werden die Maßnahmen punktuell sein und auf bestimmte Zellen und Terroristen abzielen.«

Elads Ansicht nach mache es entgegen den Erwartungen der Öffentlichkeit wenig Sinn, eine zweite Operation Defensive Shield zu starten, womit er sich auf die groß angelegte IDF-Offensive im Jahr 2002 in der Westbank bezog, mit der eine Welle tödlicher Selbstmordattentate und Schussangriffe unterbunden wurde. »Die Operation Defensive Shield gab den IDF die Möglichkeit, an Terrorgruppen heranzukommen, etwas, das bis dahin aufgrund des gescheiterten Osloer Abkommens versperrt war«, sagte er. Heute gebe es ein solches Problem nicht mehr, weswegen auch kein Bedarf für eine zweite Operation dieser Art bestehe.

Für Kobi Michael wäre der Juni 2022 der optimalere Zeitpunkt für eine größere Operation in der nördlichen Westbank gewesen. »Sie hätte damals eingeleitet werden sollen, aber sie wird wahrscheinlich jetzt stattfinden müssen, allerdings mit höheren Kosten, größerem Aufwand und mehr Problemen mit der internationalen Legitimität.« Dabei müsse es sich um eine umfangreiche Aktion handeln, die sich gegen die terroristische Infrastruktur in der Region richtet. Sie könnte große Wirkung haben, was wiederum die Herrschaft der Palästinensischen Autonomiebehörde stärken könnte, indem sie in die Lage versetzt wird, das Vakuum wieder zu füllen, so Michael. Dessen Einschätzung, die nächste Militäroperation werde schwieriger sein und einen weltweiten Sturm der Entrüstung auslösen, der auch internationalen Druck für einen schnellen Abschluss mit sich bringen wird, wird von Moshe Elad geteilt.

Da das infrage kommende Zeitfenster wahrscheinlich nicht sehr groß sein wird, könnte Israel in zeitliche Bedrängnis kommen, um mit dieser Bedrohung fertig zu werden, meinte Elad: »Insgesamt gibt es drei bis vier Zentren im Westjordanland, in denen gezielte Operationen durchgeführt werden können, aber das bekannte Problem, in dicht besiedelten, zivilen Gebieten agieren zu müssen, könnte zu kollateralen Opfern führen und in der Folge den Druck erhöhen, die Operation zu beenden. Dies ist ein komplexes Problem, für das es keine einfache Lösung gibt.«

Festgefahren

Laut Michael arbeite Israel nach einer Strategie, »die auf präzisen Geheimdienstinformationen und Razzien von Elitetruppen beruht«, die aber auch »neben den Erfolgen der Sicherheitskräfte – verhaftete und getötete Terroristen – zu einem sehr hohen Maß an Reibung mit den Palästinensern führt«. Jede Aktion, bei der ein Palästinenser getötet wird, verschaffe der palästinensischen Führung einen neuen Nationalhelden, nach dem ein Platz oder vielleicht eine Schule benannt wird. »Es verbreitet sich in den sozialen Medien und wird zu einem großen palästinensischen Ereignis.«

Nach Michael gebe es eine neue Generation von Palästinensern, die den Status quo ablehnt, »der sowohl die israelische Präsenz als auch die der Palästinensischen Autonomiebehörde umfasst, die als Kollaborateurin Israels betrachtet wird« und »gegen die bestehende Ordnung [kämpft] und versucht, diese zu zerstören«.

Diesem Befund stimmt Elad zu, indem er die allgemeine Situation als »äußerst festgefahren« beschrieb. Mit der Zeit, so Elad, werde immer deutlicher, dass die Palästinensische Autonomiebehörde nicht funktioniere und auch für eine diesbezügliche Änderung nicht motiviert ist. Die lokale palästinensische Bevölkerung spreche unterdessen zunehmend von einem binationalen Staat, »was die israelische Führung ablehnt und verhindern will«, sagte er unter Bezug auf die Mitte-Links- als auch Mitte-Rechts-Parteien. »Die Frage ist, wann die Palästinensische Autonomiebehörde zusammenbrechen wird.«

Ein weiteres Phänomen bestünde, so der ehemalige IDF-Oberst, im Fehlen einer dritten Partei, die als Vermittler auftreten könnte. Da die USA »hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt sind und arabische Staaten wie Saudi-Arabien unzumutbare Bedingungen für Verhandlungen wie etwa die arabische Friedensinitiative von 2002 stellen, »stecken wir fest«, resümierte Moshe Elad resignierend.

Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.

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