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Erste Täter-Opfer-Umkehr-»Erfolge«: Israel selbst schuld am Terrorangriff

Von Hamas überfallener Kibbuz in Israel: Täter-Opfer-Umkehr versucht aus Angegriffenen die Schuldigen zu machen
Von Hamas überfallener Kibbuz in Israel: Täter-Opfer-Umkehr versucht aus Angegriffenen die Schuldigen zu machen (Imago Images / Kyodo News)

Ein Muster in der öffentlichen Debatte, das sich schon jetzt, nur Tage nach dem Terroranschlag, abzeichnet, ist die von Politikern, Journalisten und angeblichen Experten viel bemühte Täter-Opfer-Umkehr.

Die Ereignisse überschlagen sich. Kommentare und Analysen donnern im Sekundentakt aus allen Kanälen und reagieren auf Fakten und »alternative Fakten«. Bevor ich mich in dieser akuten Situation auf ein paar zentrale und belegte Punkte konzentriere – was »sehr kompliziert« ist, um einen der gebildeteren österreichischen Bundeskanzler zu zitieren –, drei Basisbanalitäten vorweg: Mörder sind Täter. Ermordete sind Opfer. Und nicht umgekehrt.

Fakten des Terroranschlags:

Reaktionen auf den Terroranschlag:

  • Seitdem die Hamas in den palästinensischen Autonomiegebieten an der Macht ist, gab es dort keine Wahlen mehr. Der offizielle Vertreter der Palästinensischen Autonomiebehörde in Österreich verurteilt den Terrorangriff der Hamas nicht. Er findet nicht, dass die Hamas eine Terrororganisation ist und sagt, Israel habe kein Recht, sich zu verteidigen.
  • Nicht nur im arabischen Raum und im Iran, sondern auch in den Straßen der sich als zivilisiert verstehenden Welt applaudieren, jubeln und tanzen Hamas-Sympathisanten als Reaktion auf den Terroranschlag und skandieren Aufrufe, es ihren gefeierten Hamas-Vorbildern gleichzutun.

Israelis und Juden anderswo:

  • Der Staat Israel hat das Recht sich zu wehren.
  • Das vorrangige Ziel des Staates Israel ist die Wahrung seiner Existenz und der Schutz und Rettung seiner Bürger. Das erklärte Ziel Israels ist die Zerschlagung der Hamas und nicht die der palästinensischen Zivilbevölkerung.
  • Juden auch außerhalb Israels werden bedroht und sorgen sich um ihre Sicherheit und ihr Leben. 

Kontaminierte Fakten

Was guter Journalismus und solide Wissenschaft gemeinsam haben, ist jederzeit klar und erkennbar Fakten und Meinungen auseinanderzuhalten. Idealerweise. In der Praxis ist das natürlich nicht so. Und zwar nicht nur bei Manifesten von Terroristen und in U-Bahn-, Partei- und Boulevardmedien, sondern auch bei weithin respektierten, etablierten Institutionen, Staaten, Individuen, Medien.

Es kann sein, dass durchaus ehrliches, aber gescheitertes Bemühen um Ausgewogenheit und Fairness dahintersteht. Da sich allerdings sofort die Frage stellt, wie es eine Äquidistanz zwischen einer islamistischen Terrororganisation und einem Staat und seiner Armee geben kann, die gegen diese Terrororganisation kämpfen, die gerade ein brutales Massaker verübt hat, ist gut gemeint hier allerdings oft das Gegenteil von gut gemacht. Das ist im Moment aber nicht wichtig, sondern das, was das Vergiften von Fakten zur Folge hat.

Ein Muster in der öffentlichen Debatte, das sich schon jetzt, nur Tage nach dem Terroranschlag, abzeichnet, ist der Sog der Täter-Opfer-Umkehr. Das ist eine in der »politischen Kommunikation« überaus beliebte Technik, derer sich Macht- und Mordbegierige ebenso bedienen wie es Menschen und Institutionen tun, die zwar von sich behaupten, es doch nur gut zu meinen, die aber – warum auch immer – zu Propagandisten von Zerstörern mutiert sind.

Es ist mehr als das, was wir in der Alpenrepublik als »SNU, strategisch notwendiger Unsinn« kennenlernen durften. Die Täter-Opfer-Umkehr ist ein mächtiges Werkzeug, denn es bedient auch das zentrale psychische Bedürfnis, kognitive Dissonanz, Ambivalenzen und Wertekonflikte aufzulösen, sich aus Grauzonen davonzustehlen und diese selbstherrlich in eindeutiges glitzerndes Weiß oder auch finsteres Schwarz kleiden zu können.

Fallbeispiel

Nehmen wir ein konkretes und vergleichsweise noch subtiles Beispiel dafür, es gibt viele mehr und drastischere, quer durchs ideologische Spektrum. Aber nehmen wir einmal das etablierte und, vorsichtig formuliert, nicht gerade linksextreme Wall Street Journal, eine der reichweitenstärksten Zeitung in den USA.

Dort fand sich am Freitag, den 13. Oktober, ein Artikel über die in der Falle sitzenden Zivilisten in Gaza, so die Schlagzeile. Israel hat die Grenze zu Gaza gesperrt. Ägypten, das ebenfalls an Gaza grenzt, genauso. Zivilisten in Gaza sind in einer schrecklichen Situation. Stimmt alles.

Was macht Israel? Es warnt die palästinensische Zivilbevölkerung vor bevorstehenden Kämpfen und empfiehlt ihr, die gefährlichsten Gebiete in Gaza zu evakuieren. Faktencheck: stimmt.

Was macht die Hamas? Sie erlaubt keine Evakuierung ihrer eigenen Leute, die sie angeblich vertritt, da sie befürchtet, diese würden nicht mehr zurückkehren. Faktencheck: stimmt.

Was macht Ägypten? Es lässt seine Grenzen zu Gaza ebenfalls gesperrt. Hundertausende palästinensische Flüchtlinge sind nämlich in Ägypten nicht willkommen. Faktencheck: stimmt.

Die Perfidie hier und bei vielen anderen, zuweilen sicherlich auch gut gemeinten Bemühungen, die Gräuel des Hamas-Terroranschlags und seiner Folgen einzuordnen, ist aber die mehr oder weniger implizite oder explizite Wertung in Richtung einer Schuldzuweisung an Israel. Sprich: Täter-Opfer-Umkehr.

In dem Artikel des Wall Street Journals steht nämlich auch, gestützt auf Zitate offizieller Staatsrepräsentanten, Ägypten könne ohne Absegnung seitens Israel seine ebenfalls gesperrten Grenzübergänge zu Gaza leider nicht für Palästinenser öffnen. Man hätte sich doch ohnehin bemüht, Staatsbürger vieler Länder sicher aus Gaza herauszubekommen. Berufsunschuldige vom Dienst, ganz ohne Eigeninteressen.

Den Artikel ziert ein Bild, das Palästinenser vor einem zerstörten Gebäude in Gaza zeigt; die Bildunterschrift spricht vom Hamas-Israel-Konflikt. Impliziert ist also: Hamas ist gleich Gaza ist gleich Opfer, und Israel ist gleich Täter. Sonst hat niemand etwas damit zu tun oder irgendeine Verantwortung. Und das stimmt eben nicht.

Es geht jeden an

Der Punkt ist, dass es Situationen gibt, in denen es einfach keine anständige Option ist, sich abzuputzen oder keine Stellung zu beziehen. Es ist kein Zeitpunkt für Zögern, Wegschauen oder ein »egal, was geht uns das an«. Es ist auch nicht die Zeit für »ja, aber, die haben ja auch …«, »wir haben ja nicht …«, »man muss doch auch …« oder »ja, aber dann haben ja wir selbst …«. Jetzt nicht.  

Es ist nicht die Schuld der Frau auf dem Friedensfestival, wenn sie vergewaltigt wird, auch nicht, sollte sie einen Minirock getragen haben. Es ist nicht die Schuld aller anderen, sondern der Wähler, wen sie wählen, egal, ob AfD, »Volkskanzler«-Aspiranten oder das sich gegen die Interessen und das Leben der eigenen Leute stellende Hamas-Terrorregime. Es ist nicht die Schuld der Geiseln, dass sie verschleppt wurden. Es ist nicht die Schuld der Ermordeten, dass sie ermordet wurden.

Man kann sich Schuld und Sühne nicht aussuchen, nur weil die eigene Situation die Position definiert. Es gibt so etwas wie Verantwortung dafür, sich in Situationen großer Ambivalenz – so ist das Leben – um Klarheit über Prioritäten zu bemühen, zu Schlüssen und Entscheidungen zu kommen und dazu zu stehen. Es gibt keine Entscheidung, die keine Konsequenzen hat. Nichts tun, nichts sagen und/oder nicht denken ist auch eine Entscheidung. Schicksalsschläge sucht sich niemand aus, aber jeder kann so oder so damit umgehen. Wenn Viktor Frankl zu dem Schluss kommen konnte, wieso können es in bequemen Sesseln sitzende Meinungsinhaber, die gerade nicht attackiert werden, nicht?

Betrifft die Versuchung zur Täter-Opfer-Umkehr nur die aktuelle Situation in Gaza? Nein. Betrifft sie »nur« Juden? Nein. Aber mitten in den Folgen des verheerenden Terroranschlags auf Israel ist es besonders auffällig. Und historisch betrachtet ist es ein besonders häufiges Wiederholungsmuster. 

»An allem sind die Juden schuld!
Die Juden sind an allem schuld!
Wieso, warum sind sie dran schuld?
Kind, das verstehst du nicht, sie sind dran schuld.«

Das ist nicht nur ein Couplet von Friedrich Holländer aus den 1930er Jahren. Das war vorher und nachher schon eine beliebte Attitüde, die unmissverständlich dokumentiert ist und historisch immer wieder und jetzt auch zu Pogromen, versuchten Endlösungen und Terrormorden geführt hat.

So subtil dies auch in diesem beispielhaften Artikel des Wall Street Journals verpackt sein mag, es ist ein Muster, das weder neu noch selten ist.

Solche Beispiele gibt und gab es natürlich zur Genüge auch im deutschsprachigen Raum. Der Mythos, selbst Opfer gewesen zu sein, hat in Österreich Täter und Nachfolgegenerationen viele Jahrzehnte lang getröstet. Dem Psychoanalytiker Zvi Rix wird die pointierte Formulierung zugeschrieben, die Deutschen würden den Juden Auschwitz nie verzeihen – das ist ihm nicht durch Zufall eingefallen.

Sind denn alle so? Nein. Zunächst haben Politik und große Teile der Zivilgesellschaften in vielen Ländern klar mit Entsetzen über die unerträglichen Gräueltaten der Terroristen und mit viel Empathie für Israel reagiert. Vorläufig ist das auch noch billig, macht sogar einen schlanken Fuß im Vorfeld diverser Wahlen. Welche produktive Handlungen genau den Lippenbekenntnissen folgen werden, wird man noch sehen. Es sollen schon ein paar Opportunisten wieder zurück unter ihre Steine gekrochen sein, aber das ist nur ein Gerücht.

Man kann das, wie alles, auch anders sehen. Das ist in demokratischen Gesellschaften erlaubt und definiert sie. Aber eines ist sicher: Terroristen suchen sich ihre Opfer nicht nach ihren humanitären Werten aus, sondern zerstören und morden wild und überall. Das ist ihre Erfolgsstrategie.

Israel ist weit weg? Nein. Je suis Israel. Wir alle sind Israel. Es kann jeden treffen. Es würde nicht zum ersten Mal geschehen, und es war ganz sicher nicht das letzte Mal. Und wer sind dann die Opfer und wer die Täter? Auch jene, die sich, solange es sie nicht selbst betrifft, gewunden haben, Mörder und Ermordete auseinanderzuhalten und sie klar als solche zu benennen?

Gibt es, nur Tage nach dem Massaker der Hamas-Terroristen, wirklich Zweifel? Zum Mitschreiben: Die Opfer sind die Entführten, Gefolterten, Vergewaltigten, Verstümmelten, Ermordeten.

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