Seit den Morgenstunden des heutigen 7. Oktober 2023 ist der Süden Israels nicht nur Ziel von unzähligen Raketensalven aus dem Gazastreifen. Auch Stunden nach den ersten Sirenen suchen Sicherheitskräfte weiter nach bewaffneten Hamas-Terroristen auf israelischem Hoheitsgebiet.
Es ist Shabbat und zudem Feiertag. In Israel wird heute das Thora-Freudenfest begangen, an dem der Zyklus des Lesens der Wochenabschnitte der Fünf Bücher Mose neu beginnt. Um 6.25 am Morgen lockte mein Balkon in Israels Negev-Hauptstadt Be´er Sheva nicht nur mit dem Blick in die Wüste, sondern auch mit angenehmer Temperatur und himmlischer Stille.
Der richtige Ort für die erste Tasse Kaffee des Tages. Kaum einen Schluck genossen, störten dumpfe Geräusche, die sich wie Beschuss anhörten, die Ruhe. Eine Übung? Am Feiertag? Nein, unwahrscheinlich, ging sicherlich auch anderen Einwohnern meiner Region durch den Kopf. Zu meinem zweiten Schluck Kaffee kam ich nicht mehr, denn es wurde Raketenalarm ausgelöst, also ab in den Schutzraum.
Anhaltender Überraschungseffekt
Seither sind fast elf Stunden vergangen. Bis 10.30 Uhr an diesem Morgen, also rund vier Stunden nach den ersten Angriffswarnungen, wurden 2.200 auf Israel abgefeuerte Raketen registriert. Die Raketenangriffe gegen seither unaufhörlich weiter. Die Mehrheit der aus dem Gazastreifen abgefeuerten Raketen gilt Israels Süden, dem Negev.
Doch auch die Zivilisten in der Region Tel Aviv und nördlich davon ebenso wie im Zentrum des Landes Richtung Jerusalem hörten bereits die ohrenbetäubenden Sirenen und bimmelnden Smartphones, die alle aufrufen, sofort Schutz zu suchen. Das Eisenkuppel-Raketenabwehrsystem leistet bislang gute Arbeit, auch bei Salven von zeitgleich mehreren Raketen im Anflug. Dennoch gab es hier und da einige wenige Treffer in zivilen Wohngebieten.
Nur schleppend kam das Zivilschutzkommando in Schwung. Es wurden Anweisungen herausgegeben, die allen Israelis bestens bekannt sind und ohnehin längst befolgt wurden. Zu diesem Zeitpunkt von keinem Angehörigen der Regierung auch nur ein einziges Wort. Premier Netanjahu gehüllt in Schweigen, kein Verteidigungsminister zu vernehmen, und sei es auch nur mit Floskeln.
Schlimmer als Raketenangriffe
Die Raketenangriffe rückten bereits zwei, drei Stunden nachdem sie eingesetzt hatten, in den Hintergrund. In den sozialen Medien tauchten Berichte auf, dass in mehreren Ortschaften im Süden des Landes schwer bewaffnete Terroristen gesichtet wurden. Die Gerüchteküche, erst recht, was die Kanäle der sozialen Medien angeht, hatte Hochkonjunktur. Das griffen die Nachrichten nach und nach auf. Es dauerte bis zum späten Vormittag, bis Israels Bürgerinnen und Bürger von der Leitung der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) offiziell bestätigt bekamen: Terror-Kommandos der Hamas sind auf israelisches Hoheitsgebiet vorgedrungen.
Die schlechten Nachrichten rissen nicht ab: Ein Videoclip aus dem Gazastreifen tauchte auf. Darauf sieht man einen Jeep der israelischen Armee, gefahren von Hamas-Kämpfern mit jubelnden Kollegen im hinteren Wagenteil, die ihre Waffen siegreich schwingen. Weitere Clips mit israelischen Militärfahrzeugen in den Straßen von Gaza tauchten auf; keineswegs gefahren von israelischen Soldaten. Meldungen über gekidnappte israelische Soldaten begannen sich zu mehren.
In einem anderen Clip sieht man, wie ein Bulldozer genutzt wird, um die Grenzanlagen zu zerstören, damit Dutzende junge Männer in Zivil vom Gazastreifen Richtung Israel strömen können. Von einer Nature-Party, an der Tausende junge Israelis in der Region des Kibbuz Be´eri, rund neun Kilometer Luftlinie vom Gazastreifen entfernt, kamen erschütternde Hilferufe. Die jungen Leute sahen sich bewaffneten Hamas-Kämpfern gegenüber.
Als um 10.30 Uhr in den Nachrichten gemeldet wurde, dass der Bürgermeister der Regionalverwaltung Sha´ar HaNegev Ofir Libstein von Terroristen getötet wurde, war allen Israelis klar: Der Mord an diesem Mann, dessen Zuhause der Kibbuz Kfar Aza in unmittelbarer Gaza-Grenznähe ist, kündet von dem, was sich in den Kibbuzim und in den landwirtschaftlichen Dörfern der Grenzregion abspielt, die Nachrichten allerdings noch nicht verkünden: Tote, Verletzte, Geiseln und vermutlich längst in den Gazastreifen verschleppte Israelis.
Um Mittag bestätigte Israels Armee endlich, dass sich Spezialeinheiten zu rund zehn Ansiedlungen direkt am Gazastreifen vorarbeiten. Mit anderen Worten: In diesen Ansiedlungen haben bewaffnete Hamas-Kämpfer eher die Oberhand als Israels Sicherheitskräfte auf eigenem Territorium. Das blieb bis in den Nachmittag hinein unverändert der Fall.
Die Sachlage gegen Abend
Natürlich sind die israelischen Kampfjets am Himmel nicht zu überhören. Israel fliegt seit Stunden Gegenangriffe auf Hamas-Stellungen im Gazastreifen und so, wie sie lokalisiert sind, ist auch die Zivilbevölkerung des Gazastreifens davon betroffen. Selbstverständlich wurde schon in Israel am Mittag ein »Vor-Kriegszustand« ausgerufen und die Mobilisierung einer nicht bekannt gegebenen Anzahl von Reservisten lief an. Mittags hörte man Premier Netanjahu statuieren: »Wir befinden uns im Krieg und werden siegen.«
Auch gegen 16.00 Uhr, satte zehn Stunden nach Beginn dieses Übergriffs aus dem Gazastreifen, wurde aus einer Negev-Stadt wie Ofakim, die immerhin fünfundzwanzig Kilometer Luftlinie vom Gazastreifen entfernt ist, weiterhin über in ihren Wohnungen verschanzte Zivilisten berichtet. Die Nachrichten kündeten inzwischen von Straßenkämpfen, denn israelische Spezialtruppen hatten begonnen, den infiltrierten Hamas-Terroristen nachzusetzen. Aus Sderot, fünf Kilometer vom Gazastreifen entfernt, und anderen Ortschaften wurde Ähnliches vermeldet.
Während die Moderatoren und Kommentatoren der unterschiedlichen israelischen TV-Sender so langsam einen Schichtwechsel vornehmen und oben rechts im Bild weiterhin die unaufhörlichen Raketenangriffe verzeichnet werden, kündeten die gegen 16.30 Uhr eingeblendeten Zeilen von 40 Toten und 800 Verletzten.
Schock wird noch zunehmen
Dies ist ein Zwischenstand, mehr nicht. Das Bild ist immer noch unklar. Israels Zivilisten haben keinen Gesamtüberblick und fragen sich seit Stunden, ob denn Armee und politische Leitung den Überblick haben. Es fällt schwer, das zu glauben. Um 16:00 Uhr erfolgte ein Treffen von Premier Netanjahu mit Oppositionschef Yair Lapid, um 17:00 Uhr eine Sitzung des Sicherheitskabinetts. Warum sind so viele Stunden bis dahin verstrichen? Einige vermuten, dass Premier Netanjahu mit einem vorgefertigten Aktionsplan auf der Sitzung erscheinen will, um unsäglichen Diskussionen vorzubeugen.
Blicke ich zum Morgen zurück – etliche Tassen Kaffee später und nach unzähligen Malen wegen eines Raketenalarms im Schutzraum abwartend –, so fällt mir wieder ein, was ich um 7.50 Uhr am Morgen, keine anderthalb Stunden nachdem dieses Kriegsszenario begann, einem guten Freund schrieb: »Es fühlt sich an wie Yom-Kippur 2.0.« Das keineswegs nur bezüglich des wie 1973 erfolgten überraschenden und massiven Angriffs.
Damals gab es Warnungen, welche die Nachrichtendienste in den Wind schrieben. Gab es dieses Mal Anzeichen, die fehlinterpretiert wurden? Natürlich wird in den Medien bereits festgehalten: Nachrichtendienstlich hat Israel nur wenige Tage nachdem sich die Schlappe jährte, wegen der fünfzig Jahre zuvor in der Stille des Yom-Kippur-Tags unvermittelt die Sirenen schrillten, erneut kläglich versagt. Viele Israelis fragen sich: Und was ist mit den nachrichtendienstlichen Erkenntnissen bezüglich der Hisbollah? Wann erwartet uns ein ähnliches Szenario im Norden des Landes?
Inmitten von Kampfhandlungen sollte man nicht über politische Konstellationen spekulieren, aber das wird kommen; vermutlich schon sehr bald und ähnlich wie beim Yom-Kippur-Krieg beeinflusst von dem Preis, den Soldaten und Zivilisten gezahlt haben. Bis jetzt sind hundert tote und neunhundert verletzte Israelis zu beklagen.
Ohne jede Frage werden wir in den nächsten Stunden mehr über schreckliche Szenarien in den Kibbuzim und Dörfern entlang der Gaza-Grenze erfahren. Noch haben wenige das Wort in den Mund genommen, doch wir sollten auf Szenarien vorbereitet sein, die man als Massaker bezeichnen muss. Schreckensszenarien werden sich wohl auch um Israelis entspannen, die in den Gazastreifen verschleppt wurden.
Und auf noch etwas müssen wir uns vorbereiten: Die Geschichte der Beziehungen zwischen Israel und dem Gazastreifen, genauer gesagt zur Hamas – ob in ruhigen oder weniger ruhigen Zeiten – hat einen Wendepunkt erreicht. Eine Rückkehr zum Status quo, der bis zum heutigen Morgen bestand, dürfte vom Tisch sein; die Terroristen, auf alle Fälle die Hamas, wenn nicht auch andere im Gazastreifen aktive Terrorvereinigungen, haben in den letzten Stunden eindrücklich unter Beweis gestellt, dass sie Israel nie an ihrer Seite akzeptieren werden.