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IS-Khorasan in Moskau: Anschlag mit Ansage

Crocus City Hall: Gedenken für die Opfer des Terroranschlags in Moskau
Crocus City Hall: Gedenken für die Opfer des Terroranschlags in Moskau (Imago Images / ZUMA Wire)

In Russland hat ein Feind zugeschlagen, an den Moskau offenbar nicht mehr gedacht hat. Wie es den Terroristen gelang, durch das engmaschige Netz russischer Geheimdienste zu schlüpfen, ist bisher unklar. Überraschend kam der Terrorangriff jedenfalls nicht.

Am Abend des 22. März drang ein dschihadistisches Terrorkommando in die vollbesetzte Crocus City Hall nahe der russischen Hauptstadt ein und schoss mit Sturmgewehren und Pistolen auf die Konzertbesucher. Dabei wurden nach aktuellem Stand mindestens 140 Menschen getötet. Noch am selben Abend bekannte sich die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu dem Anschlag.

Nach dem Fall der letzten IS-Bastion im syrischen Baghuz im Jahr 2019 galt der IS als besiegt, und tatsächlich büßte die Terrororganisation nach dem Verlust ihres Kalifats erheblich an militärischer Schlagkraft ein. Das Ende der Dschihadisten war dies freilich nicht. Wer genauer hinsah, erkannte rasch, dass der IS als Guerillaverband weiterhin im Irak und in Syrien Operationen durchführte.

Auch in anderen Regionen blieb die Terrororganisation aktiv. In Afghanistan agiert der lokale Ableger unter dem Namen Islamischer Staat – Provinz Khorasan (ISPK), auch IS-K genannt. Der Name ist ein Verweis auf die historische Region Khorasan, die einst Gebiete der heutigen Staaten Afghanistan, Iran, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan umfasste. Auf das Konto dieser Gruppe geht eine Reihe internationaler Terroranschläge, von denen der letzte die Crocus City Hall bei Moskau zum Ziel hatte.

Operationsbasis Afghanistan

Die Gruppe IS-K wurde im Jahr 2014 in Afghanistan gegründet, wo die Miliz zunächst kleine Gebiete im Osten und Norden des Landes eroberte. Der Islamische Staat wollte dadurch seine Expansion in Süd- und Zentralasien vorantreiben. Zum ersten Mal ins mediale Licht rückte die Khorasan-Gruppe während ihres Einsatzes in Syrien. Im September 2014 bombardierte die US-Luftwaffe deren Stellungen westlich von Aleppo, allerdings nur mit begrenztem Erfolg.

In Afghanistan griff der IS-K regelmäßig internationale Streitkräfte, die Taliban und religiöse Minderheiten an. Einen der bekanntesten Anschläge verübte er im August 2021 am Flughafen von Kabul, bei dem eine Bombe 170 afghanische Zivilisten und dreizehn Mitglieder des US-Militärs tötete.

Nachdem die NATO-Allianz im Sommer 2021 aus Afghanistan abzogen war, hofften die USA, dass die Taliban den IS-K in Schach halten würden. Tatsächlich bekämpften die Islamisten die Khorasan-Miliz in ihrer Hochburg Konar im östlichen Afghanistan und erhielten dabei Unterstützung durch die US-Luftwaffe.

Obwohl Hunderte ihrer Kämpfer von den Taliban getötet oder verhaftet wurden, blieb der IS-K einsatzfähig, mehr noch: Die multiethnische Gruppe mit Kämpfern aus Pakistan, Iran, Aserbaidschan, Türkei, Russland, Tadschikistan, Usbekistan und Syrien verfügt über ein weitreichendes Netzwerk, das ihr erlaubt, Terroranschläge auf internationaler Ebene durchzuführen.

Anschlag mit Ansage

Im Februar 2022 startete der Propagandaapparat des Islamischen Staates eine auf den Ukraine-Krieg ausgerichtete Medienkampagne in seinem wöchentlichen Newsletter Al-Naba. Unter der Überschrift »Kreuzfahrer gegen Kreuzfahrer-Kriege« interpretierte der IS den Krieg als einen, bei dem sich seine Widersacher, die USA und Russland, gegenseitig schwächen. Im Newsletter hieß es, dass es bei dem Konflikt um Macht und »eine Manifestation des eskalierenden Wettbewerbs zwischen Amerika und Russland um die Kontrolle der osteuropäischen Länder« gehe. Der Artikel schloss mit einem Appell: »Oh Allah, mache ihre Kriege blutig und säe Zwietracht in ihren Herzen; schütte deinen Zorn und deine Pein über sie aus.«

Im August 2022 feierte der IS-K in seiner englischsprachigen Zeitschrift Voice of Khurasan den Ukraine-Krieg als »eine große, gewaltige frohe Botschaft für die Muslime weltweit«. Der »Krieg, der unter den Kuffar [Ungläubigen] ausbricht«, sei ein »großes Zeichen von Allah dem Allmächtigen«. In Bezug auf die beiden Großmächte USA und Russland, die einen Stellvertreterkrieg führen würden, erklärte der Artikel: »Amerika war das ganze letzte Jahrhundert über ein erbitterter Feind des Islams, und Russland hat sich nicht anders verhalten.«

Ebenfalls im August 2022 erschien ein Beitrag im von der Terrorgruppe geleiteten TV-Kanal Al-Fursan Media. Dieser forderte die Muslime auf, geduldig zu sein und auf eine Gelegenheit zu warten, ihre Feinde, einschließlich Russland, anzugreifen, indem sie die anhaltenden Unruhen ausnutzen. Diesem Aufruf folgten Taten: Im darauffolgenden September verübte ein Selbstmordattentäter einen Anschlag auf die russische Botschaft in Kabul, bei dem zwei Mitarbeiter und vier afghanische Zivilisten getötet wurden. Der Terroranschlag in Moskau kam daher alles andere als überraschend.

Warum Russland?

Für sunnitische Dschihadisten gibt es mehrere Gründe, Russland ins Fadenkreuz zu nehmen. Nicht vergessen ist der sowjetische Einmarsch in Afghanistan im Jahr 1979, dem ein zehnjähriger, blutiger Krieg folgte, in dem Russland mit aller Härte gegen den sunnitischen Widerstand kämpfte.

Hinzu kommen die von Russland in den 1990er Jahren brutal geführten Kriege in Tschetschenien und die andauernde Unterstützung des Kremls für Diktator Bashar al-Assad in Syrien. In seiner Propaganda verweist der IS-K auch auf Moskaus aktuelle Beziehungen zu den Taliban, die erklärte Feinde von IS-K sind.

Doch Russland und die USA sind nicht die einzigen Ziele. In den vergangenen Jahren wurden weltweit mehrere Anschlagspläne mit Bezug zum IS-K bekannt; vielfach deshalb, weil sie durch Sicherheitsbehörden verhindert werden konnten. Der Terrorismusforscher Aaron Zelin zählt seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan elf internationale Terrorplots mit Verbindungen zur Khorasan-Miliz, davon fünf im Jahr 2022 und sechs 2023. Diese verhinderten Attentate hätten Ziele in Indien, im Iran, in der Türkei und Deutschland im Visier gehabt.

Und auch heuer setzen sich die Anschläge fort. Als im Januar Tausende iranische Regimeanhänger bei Trauerfeierlichkeiten dem von den USA im Jahr 2020 getöteten Kommandanten der Al-Quds Brigaden, Qasem Soleimani, gedachten, sprengten sich Selbstmordattentäter der Khorasan-Miliz während der Massenveranstaltung in die Luft und töteten neunzig Menschen. Basierend auf der Dienstvorschrift »Duty to Warn« sollen US-Geheimdienste iranische Behörden kurz zuvor vor einer solchen Terrorgefahr durch den IS-K gewarnt haben.

Ähnlich verhielt es sich bei dem jüngsten Attentat in Moskau. Auch hier warnten US-Dienste den Kreml vor einer drohenden Gefahr durch Terroristen. Ergänzt wurde die Nachricht durch einen Aufruf der amerikanischen Botschaft in Moskau, wonach US-Bürger Menschenansammlungen in Russland meiden sollten. Offiziell nahm Präsident Putin diese Warnung zunächst nicht ernst. Ob die Sicherheitsdienste hinter den Kulissen ihre Arbeit taten, aber möglicherweise die Hinweise zu vage waren, um den Anschlag zu verhindern, bleibt unklar.

Tatsache ist, dass die globale Bedrohung, die von der IS-K-Basis in Afghanistan ausgeht, sehr real ist. Die Khorasan-Miliz verfügt über die Mittel und Netzwerke, um direkte Anschläge durchzuführen und Einzelpersonen online zu lenken oder diese durch Propaganda zu Mord und Terror zu inspirieren. Mit Blick auf die Fußball-Europameisterschaft in Deutschland und die Olympischen Sommerspiele in Frankreich ist die Terrorgefahr daher ernst zu nehmen.

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