Interview mit dem pensionierten Richter und Professor der Rechtswissenschaft an der Universität Gießen, Wolfgang Bock, über Muriel Asseburgs Behauptungen zu einem angeblichen Widerstandsrecht der Hamas. Bock ist Co-Autor des Buches Two States for Two Peoples? (eine deutsche Zusammenfassung findet sich hier), das sich mit den völkerrechtlichen Grundlagen des Staates Israel beschäftigt und Möglichkeiten zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts untersucht.
Stefan Frank (SF): Wie beurteilen Sie den Kern der Äußerungen von Muriel Asseburg und die Reaktion der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), bei der sie beschäftigt ist?
Wolfgang Bock (WB): Es ist ein Skandal, dass Frau Asseburg den Terrorismus der Hamas und damit wohl auch anderer Gruppen für rechtlich erlaubt hält. Ihre politische Distanzierung hebt das nicht auf. Das ist eine unglaubliche Verdrehung des Rechts und widerspricht völlig den Positionen der Bundesregierung und der EU. Dass die Stiftung Wissenschaft und Politik derartige Aussagen toleriert, zeigt, wie tief sie unter ihrem ehemaligen Leiter Volker Perthes hinsichtlich Israels und des von den Palästinensern ausgehenden Konflikts gesunken ist. Wie reagiert angesichts dieser zum Himmeln schreienden Positionierung der SWP die Bundesregierung? Die SWP ist ein Forschungsinstitut der Bundesregierung und unterminiert deren Politik, indem sie Terrorismus rechtlich legitimiert.
SF: Bitte erzählen Sie uns etwas zu Ihrem beruflichen und akademischen Werdegang.
WB: Ich habe insgesamt zwanzig Jahre lang als Richter gearbeitet, u. a. am Landgericht in Frankfurt a. M. im Zivilrecht und im Strafrecht und am Verwaltungsgericht Wiesbaden im öffentlichen Recht. Von 1989 bis 2007 war ich rein wissenschaftlich tätig. Seit 2005 habe ich an der Universität Düsseldorf und seit 2007 an der Universität Gießen öffentliches Recht gelehrt. Von 2012 bis 2017 war ich an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, einer Bildungseinrichtung der Bundesregierung in Berlin, für den Nahen und Mittleren Osten, für Islam und Islamismus zuständig.
SF: Sie befassen sich auch mit Völkerrecht und islamischem Recht, ist das richtig?
WB: Ja, das ist richtig. Ich habe dazu veröffentlicht und Vorträge gehalten.
SF: In welchen Zusammenhängen?
WB: Das erste Mal hatte ich mit dem Problem »Israel und die Palästinenser« zu tun, als ich 1993/94 an einer Studie über den Friedensprozess mitwirkte. Damals kamen gerade die ersten Osloer Vereinbarungen zustande. Dem folgte von 1996 bis 2001 eine Studie über Menschenrechte und die Rechtskulturen islamisch geprägter Gesellschaften. Danach kam es zu der 2006 veröffentlichten Studie mit dem Titel »Islamischer Religionsunterricht?«.
Diese Forschungsprojekte führten zu einer engen Zusammenarbeit mit vielen Islamwissenschaftlern, Arabisten und Spezialisten für den Nahen Osten. Durch all das bin ich so tief in den Islam hineingestiegen, dass ich über islamisches Recht vor deutschen Gerichten, über Staat und Recht im Islam, sowie über islamisch geprägte Rechtskulturen des Nahen und Mittleren Ostens und die dortigen politischen Kräfteverhältnisse publiziert habe.
Recht auf »Widerstand«?
SF: Muriel Asseburg behauptet, die Hamas könne ein Recht auf »Widerstand« in Anspruch nehmen und dürfe rechtmäßig israelische Soldaten angreifen. Was sagt das Völkerrecht in Wirklichkeit?
WB: Den Hintergrund für Frau Asseburgs Behauptungen bildet das Problem, dass sie unbesehen und ohne genaue völkerrechtliche Analyse die Behauptung der deutschen Bundesregierung und der EU übernimmt, Israel sei in der Westbank, in Ostjerusalem und im Gazastreifen eine Besatzungsmacht. Was den Gazastreifen betrifft, ist die Lächerlichkeit der Behauptung offensichtlich, wird aber dennoch von einigen Völkerrechtlern vertreten. Die Realität des Völkerrechts sieht so aus, dass ein Staat nur dann eine Besatzungsmacht sein kann, wenn das Land, in dem er die Hoheit ausübt, einem anderen Staat gehört.
Jemand anders muss einen besseren Rechtstitel auf das Land haben als die Besatzungsmacht. Das ist bei der Westbank und bei Ostjerusalem nicht der Fall. Der Staat Israel ist 1948 in der Folge des Völkerbundmandats gegründet worden. Dieses Mandat sprach allein dem jüdischen Volk die Möglichkeit zu, dort eine »nationale Heimstatt«, also einen Staat zu gründen. Dennoch haben die Israelis den Arabern, die sich seit Mitte der 1960er Jahre Palästinenser nennen, immer das Recht eingeräumt, dort eine eigene, friedliche, politisch selbstverwaltete Einheit aufzubauen. Sie haben damit ihre möglichen Rechtsansprüche zwar nicht vollständig aufgegeben, aber vielfach gezeigt, dass sie in Verhandlungen zu Entgegenkommen und zu einer Einigung bereit sind.
SF: Die Palästinenser haben eine Einigung immer abgelehnt.
Schon seit den 1930er Jahren, bevor es den Staat Israel gab. Die Begründung war, dass die Juden kein Recht hätten, irgendein Stück Land zu besitzen, um dort einen Staat zu gründen. Der Kampf gegen den Staat Israel war für die damaligen Araber und die heutigen Palästinenser immer wichtiger als das Erreichen einer eigenen Autonomie. Das setzt sich bis heute fort. Zieht man völkerrechtlich Bilanz, muss man sagen: Israel hatte das Recht, dort einen Staat zu gründen. Das wurde auch anerkannt.
Israel könnte, wenn es wollte, sein Staatsgebiet auch auf die Westbank erstrecken, müsste dann aber alle Palästinenser zu Staatsbürgern machen. Auch das wäre vom Völkerrecht gedeckt. Die Israelis wollen das offensichtlich nicht. Die Palästinenser wollen keinen friedlichen Staat in der Westbank errichten, weil sie ganz Israel zerstören wollen. Insofern ist die Position von Frau Asseburg, aber auch der deutschen Bundesregierung und der EU, Israel herrsche dort als eine Besatzungsmacht, völkerrechtlich gesehen unzutreffend. So wird das nicht nur in Israel gesehen, sondern auch in den USA, sei im Senat oder im Abgeordnetenhaus, aber auch von Völkerrechtlern und in anderen Ländern außerhalb der EU.
SF: Frau Asseburg bezieht sich auf die Resolution der UN-Generalversammlung vom 29. November 1947, in der diese sich für den Teilungsplan der UN-Mission UNSCOP und die Gründung zweier Staaten – eines jüdischen und eines arabischen – aussprach. Frau Asseburg behauptet, dass dies Israel ins Unrecht setze, weil der arabische Staat ja bis heute nicht gegründet worden sei.
WB: Da zeigt sich die völkerrechtliche Ahnungslosigkeit von Frau Asseburg. Der Beschluss der UN-Generalversammlung von 1947 enthielt ein Angebot an beide Parteien. Wenn beide Parteien dieses Angebot angenommen hätten, wäre daraus eine Rechtsgrundlage für zwei Staaten entstanden. Anders als die jüdische Seite lehnte aber die arabische Seite dieses Angebot ab. Die arabische Ablehnung machte dieses rechtliche Angebot – und mehr als ein Angebot war es nicht – null und nichtig. Rechtlich ergeben sich aus diesem vorgeschlagenen und abgelehnten Teilungsplan keine weiteren Konsequenzen. Wenn man das Völkerrecht kennt, ist das völlig unbestreitbar.
SF: Sie sagten eben, auch die USA seien der Meinung, dass Israel im ganzen ehemaligen Mandatsgebiet Palästina einen Staat gründen dürfe …
WB: Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte, dass Israel ein Recht dazu hätte, wenn es das wollte.
SF: Aber die USA fordern doch Israel immer wieder dazu auf …
WB: Die rechtliche Lage so zu sehen, bedeutet nicht, dass man deswegen politisch sagen muss, Israel sollte oder müsste dort einen Staat gründen. Recht und Politik sind hier wie auch sonst zu unterscheiden. Weder die USA noch Israel noch die EU sind bislang der Auffassung, dass Israel die Westbank insgesamt zum Teil seines Staatsgebiets erklären sollte. Denn niemand will angesichts der heute schon bestehenden Konflikte, dass die Mehrzahl der in der Westbank lebenden Palästinenser Bürger des israelischen Staates werden sollen. Insofern ist zu unterscheiden zwischen den rechtlichen Möglichkeiten und den politischen Realitäten und Wünschen.
SF: Die rechtlichen Möglichkeiten gehen für Israel also viel weiter als das, was politisch sinnvoll zu realisieren ist?
WB: Genau. Das haben Israel und die USA immer anerkannt. Das ist die Grundlage dafür, dass man die Palästinenser immer wieder auffordert, dort einen friedlichen Staat oder eine friedliche politische Selbstverwaltung zu errichten. Die Palästinenser weigern sich kontinuierlich und haben alle Angebote – selbst über hundert Prozent der Westbank – abgelehnt, mit der Begründung, dass der Staat Israel nicht existieren dürfe und sie diesen bekämpfen müssten.
Israelische Menschenrechtsverletzungen?
SF: Muriel Asseburg argumentiert nicht nur mit dem Völkerrecht, sondern auch mit Menschenrechtsverletzungen, die Israel angeblich verübt und die ihrer Meinung nach der Hamas ein Recht auf »Widerstand« geben – also darauf, israelische Soldaten anzugreifen. Sie vergleicht das mit dem Widerstand der Ukraine gegen die russischen Invasoren. Das dürfen palästinensische Gruppen ihrer Ansicht nach auch.
WB: Hier muss man zweierlei unterscheiden. Erstens ist die Behauptung, die Hamas würde gegen Menschenrechtsverletzungen Israels vorgehen, eine unglaubliche Umkehrung der Tatsachen. Vielmehr ist die Hamas einer der größten Menschenrechtsverletzer gegenüber den Palästinensern. Alles, um Israel anzugreifen. Das steht in ihrer Charta und in den politischen Aussagen, die von ihr jeden Tag zu hören sind. Das heißt, die Hamas will Krieg gegen Israel führen und zählt das zu ihren obersten Aufgaben. Wenn Frau Asseburg meint, dies sei durch Menschenrechtsverletzungen Israels gerechtfertigt, so soll sie doch bitte zeigen, welche Menschenrechtsverletzungen das sein sollen. Israel ist nicht im Gazastreifen tätig, solange die Hamas Frieden hält und nicht angreift. Dass Israel völkerrechtlich ein Recht auf Selbstverteidigung hat, ist unbestritten.
Zweitens würde es zu keinem einzigen Toten im Gazastreifen kommen, wenn die Hamas und der von ihr mindestens tolerierte Islamische Dschihad ihre Angriffe auf Israel einstellten und Frieden halten würden. Darum ist mir nicht klar, worin Frau Asseburg Menschenrechtsverletzungen Israels sehen will. Die Hamas schreitet nicht gegen Menschenrechtsverletzungen ein – weder gegen ihre eigenen noch gegen die der Palästinensischen Autonomiebehörde. Im Gegenteil, beide verletzen regelmäßig die Menschenrechte von Palästinensern, ganz zu schweigen von denen israelischer Bürger.
SF: Wie wäre die Rechtslage im Fall einer illegalen Besatzung, wie z.B. der türkischen in Nordzypern? Wenn man Muriel Asseburg hört, könnte man auf die Idee kommen, es gäbe ein Recht, türkische Soldaten totzuschießen. Das kann doch wohl ebenfalls nicht vom Völkerrecht gedeckt sein, oder?
WB: In dem Moment, wo die Regierung Zyperns sagen würde: Wir befinden uns im Kriegszustand mit der Türkei, würde man darüber reden können, welche Form von Widerstand in welcher Weise erlaubt wäre. Das ist bislang nicht der Fall. Die zyprische Regierung versucht friedlich, unter Protest gegen den türkischen Rechtsbruch, dieses Besatzungsregime rückgängig zu machen. Das wird sehr lange dauern. Nichtsdestoweniger hat nicht jeder das Recht zum Krieg auf eigene Faust, nur weil ein anderer Staat ein Gebiet besetzt hat. Erst wenn durch die Besetzung ein Kriegszustand entstanden ist oder wenn durch die gegen Besetzung kämpfende staatliche Kraft der Krieg erklärt worden ist und so ein Kriegszustand entstanden ist, wäre das möglich.
SF: Wenn jetzt eine griechische Zypriotin oder ein griechischer Zypriot einen türkischen Soldaten umbringen würde …
WB: Dann würde das auch auf Zypern unter den jetzigen Bedingungen als ein kriminelles Vergehen verfolgt werden – von der zyprischen Regierung. Das heißt, wir haben keinen Kriegszustand und demzufolge sind auch keine Gewalttaten erlaubt. In einem Kriegszustand wäre das anders.
SF: Etwa in der Ukraine.
WB: In der Ukraine haben sowohl die Soldaten als auch die Bevölkerung ein Recht auf Widerstand gegenüber dem russischen Überfall. Ein solches Recht haben auch die Tschechen – freilich in friedlicher Weise – ausgeübt, als die Russen 1968 in die Tschechoslowakei einmarschiert sind. Sie haben den friedlichen Widerstand gewählt, der gegenüber einer überlegenen Militärmacht in der Regel das bessere, effektivere Mittel ist, weil er nicht sämtliche Wege verbaut, zu Lösungen zu kommen. Im Fall des Angriffs von Russland auf die Ukraine ist das natürlich nicht möglich, weil Russland die ukrainische Kultur zerstören will. Unter dieser Bedingung wäre auch der Widerstand der Bevölkerung, wenn es kein ukrainisches Militär gäbe, völkerrechtlich zu rechtfertigen.
SF: In einem Krieg müssen aber ja die Sphären des Militärischen und des Zivilen getrennt werden, oder? Man darf nicht so tun, als wäre man ein Zivilist und dann feindliche Soldaten angreifen.
WB: Das ist richtig. Um einen militärischen Status zu haben, ist es notwendig, dass sich auch Zivilisten, die am Kampf teilnehmen, als Kombattanten ausweisen, dass man sie erkennen kann.
SF: Also etwa durch eine Armbinde.
WB: Genau. Das ist eine Forderung des Völkerrechts.
SF: Es ist also falsch, wenn Thilo Jung und Muriel Asseburg sagen, die »ukrainische Oma« könne einfach Molotowcocktails auf russische Soldaten werfen.
WB: Prinzipiell ist das völkerrechtlich nicht möglich. Eine Ausnahme wäre Notwehr, etwa im Fall einer drohenden Vergewaltigung, Tötung oder eines ähnlichen Angriffs. Dann wäre das erlaubt. In einer Notwehrsituation ist vieles erlaubt, gerade in der Ukraine, wenn man sieht, welche Untaten die russischen Streitkräfte dort von Anfang an begangen haben. Aber das ist dann eben die Frage der Notwehr.
Dass muss man strikt von dem Fall trennen, wo einfach Zivilisten auf Soldaten losgehen. Das entspräche nicht den völkerrechtlichen Regeln der Kriegsführung. Es gibt aber, das muss man sagen, eine komplizierte Situation dadurch, dass es Guerillastreitkräfte in den von Russen besetzten Gebieten gibt. Wenn sich diese Guerillastreitkräfte mit Bändern kennzeichnen würden, würden sie natürlich sofort erschossen werden. Hier haben wir also eine Grauzone des völkerrechtlichen Kriegsrechts, die im Grunde genommen wohl kaum zu beseitigen sein wird.
SF: Aber auch eine ukrainische Guerilla dürfte nicht aus einer Zivilbevölkerung heraus den Feind angreifen, oder?
WB: Richtig. Das Kriegsvölkerrecht verbietet es, von zivilen Einrichtungen aus anzugreifen, um unter dem Schutz von Zivilität kriegerische Handlungen zu begehen – sei es aus Schulen oder aus Krankenhäusern heraus. Das, was die Hamas im Gazastreifen regelmäßig macht, ist kriegsvölkerrechtlich verboten und auch insofern kriminell.
SF: Dann dürfte die Hamas von Gaza-Stadt oder Khan Yunis oder einer anderen urbanen Region aus keine Raketen auf Israel schießen, weder auf zivile noch militärische Einrichtungen?
WB: Abgesehen von der prinzipiellen Illegalität von Angriffen auf Israel darf sie zudem nicht aus Wohnvierteln, Schulen oder Krankenhäusern heraus Waffen abschießen, sondern dürfte das im Fall eines Krieges nur von dort aus tun, wo sie nicht mitten in der zivilen Bevölkerung sitzt und diese als Schutzschild benutzt.
SF: Und dann kommt noch hinzu, dass die Hamas ohnehin keinerlei Legalität beanspruchen kann.
WB: Das ist das Zentrale, dass jeglicher Angriff der Hamas auf Israel, egal auf wen, illegal und nicht erlaubt ist – und Israel folglich in jeder Hinsicht das Recht auf Selbstverteidigung hat, Das gilt auch gegenüber der Westbank. Das sehen übrigens auch Deutschland und die EU genau so. Das hat zur Folge, dass das Eindringen in Gebiete, wo sich Terroristen zum Angriff organisieren, völkerrechtlich erlaubt ist, anders als Frau Asseburg das darstellt. Wenn sie behauptet, israelische Sicherheitskräfte dürften nicht dorthin gehen, dann ist das schlichtweg falsch. Das Gegenteil ist der Fall: Sie müssen es tun, um die israelische Bevölkerung, den Staat Israel zu schützen.
Völkerrechtlerin?
SF: Muriel Asseburg wird von Journalisten gelegentlich als »Völkerrechtlerin« bezeichnet. Ist das aus Ihrer Sicht korrekt?
WB: Meines Wissens nach kann man sie nur in dem Sinne als Völkerrechtlerin bezeichnen, indem auch Frau Baerbock sich als Völkerrechtlerin bezeichnet hat. Sie haben beide nicht Jura studiert, sondern während ihres Studiums der Politikwissenschaft Kurse über Völkerrecht belegt. Dadurch wird man nicht zu einem ausgebildeten Juristen. Nach meinem Verständnis des Völkerrechts und des öffentlichen Rechts bedarf es einer Ausbildung als Jurist, um zu einem vollständigen Völkerrechtler zu werden. Insofern könnte man Frau Asseburg als eine Amateurvölkerrechtlerin bezeichnen, nicht aber als eine ausgebildete Völkerrechtlerin. Sie hat meines Wissens kein juristisches Staatsexamen abgelegt und wohl auch kein völkerrechtliches Diplom erworben.
SF: Sie haben vorhin mit der Resolution von San Remo (1920) argumentiert, der völkerrechtlichen Grundlage des britischen Palästina-Mandats und damit auch der Gründung des Staates Israel. Welche anderen Dokumente sind dafür relevant?
WB: Entscheidend ist die tatsächliche Gründung des Staates Israel selbst. Wenn ein Staat gegründet wird, sind dazu erforderlich ein Gebiet, eine Bevölkerung und eine organisierte Staatsgewalt, die in der Lage ist, das eigene Volk zu schützen – zum Beispiel durch den Aufbau einer eigenen Rechtsordnung – und friedliche Beziehungen zu anderen Staaten zu garantieren. Das ist die Grundvoraussetzung für eine Staatsgründung. Das hat das jüdische Volk 1947/48 erreicht und das wurde von der Staatengemeinschaft anerkannt.
Die Staatsgründung ist der entscheidende Punkt. Dann kommt hinzu, dass eine Staatsgründung in dem Gebiet rechtmäßig ist, das vorher schon durch gegebene Grenzen umrissen war. In dem Moment also, wo es einen jüdischen Staat gab, hatte er prinzipiell, vom Völkerrecht her gesehen, das Recht, sich im gesamten Staatsgebiet, also vom Jordan bis zum Mittelmeer, auszubreiten. Da der Staat Israel und die Juden das nicht getan haben, ist klar, dass sie das grundsätzlich nicht wollten.
SF: Und die Palästinenser?
WB: Dass ein Raum für eine palästinensische Selbstverwaltung bestehen bleiben würde, das war immer klar. Die Frage ist: Wo ist dieser Raum, wie groß soll er sein, wie groß kann er sein, und wie soll er gefüllt werden? Das ist eine Frage politischer Verhandlungen, aber die dort lebenden Araber bzw. Palästinenser weigerten und weigern sich seit nunmehr etwa hundert Jahren, darüber politisch zu verhandeln und zu einer Einigung mit dem jüdischen Staat zu kommen.
SF: Was ist mit Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, wie der bekannten Resolution 242, die einen Rückzug Israels aus 1967 besetzten Gebieten fordert?
WB: Das war ein Lösungsvorschlag, dem alle Seiten zugestimmt haben. Auch die israelische Seite. Denn es heißt dort nicht: Rückzug »aus allen besetzten Gebieten«. Die sicherheitsrelevanten Gebiete, wie die Grenzen nach Jordanien und Syrien, sollen Gegenstand von Verhandlungen sein. Es war nicht beabsichtigt, dass die Israelis sich aus allen ihnen zugefallenen Gebieten zurückziehen sollten. Das wurde nicht nur von der israelischen Seite, sondern auch von den UN-Unterhändlern so gesehen. Darüber gibt es viele Berichte, Kommentare und Memoiren von denjenigen, die daran beteiligt waren und das im genauen Wissen um diese Problematik sehr klar formuliert haben.
SF: Und die französische Übersetzung, die von einem »Rückzug aus allen besetzten Gebieten« spricht?
WB: Diese Übersetzung verfälscht die Resolution. Die Franzosen haben das aus Neigung zur arabischen Seite anders übersetzt, aber diese Übersetzung ist nicht zutreffend und gibt nicht den Inhalt der UN-Resolution 242 wieder. Wohlgemerkt: Die UN-Resolution 242 ist kein Gesetz, kein Völkerrecht, sondern ein von allen Seiten akzeptierter politischer Versuch, Perspektiven zu geben, unter denen Frieden zu erreichen ist. Das wäre auch heute noch möglich, wenn die Palästinenser zu Verhandlungen bereit wären und den Staat Israel anerkennen würden. Das tun sie nicht und das wollen sie nicht.
SF: Welche Bedeutung hat die Aussage des Internationalen Gerichtshofs von 2004, der die israelische Sperranlage entlang der Westbank für illegal erklärte, weil sie teilweise auf palästinensischem Gebiet verlaufe?
WB: Dies war eine beratende Stellungnahme für die UN und sie kam für informierte Beobachter nicht überraschend: Wenn die Richter der internationalen Gerichte – sei es des Internationalen Gerichtshofs oder des Internationalen Strafgerichtshofs – von den Mitgliedsländern der UN ernannt werden, die den Internationalen Gerichtshof tragen, dann ist es kein Wunder, dass die Juristen die gleichen Positionen vertreten wie die Mehrheit der UN-Länder. Die Juristen sind im Prinzip politisch ernannt.
SF: Die politischen Mehrheiten der UN spiegeln sich also in der Auswahl der Richter wider?
WB: Es gibt keine wirklich unabhängigen Internationalen Gerichte, sondern leider nur Richter, die politisch von den Gremien der UN ernannt werden. Auf diese Weise können die Gerichte ebenfalls zu politischen Gremien werden. Würde es sich um Richter handeln, die allein der Unabhängigkeit der Justiz verpflichtet sein müssten, so hätten bestimmte, explizit israelfeindliche Personen weder zu Richtern noch zu Staatsanwälten gewählt und ernannt werden dürfen. Die politische Unabhängigkeit von Richtern müsste das zentrale Kriterium sein, ist es aber leider nicht. Weil die Organe, die die Richter ernennen, vorgefasste Meinungen haben, wird man diese vorgefassten Meinungen in der Regel leider auch bei den Juristen finden.
SF: Was könnte man dagegen tun?
WB: Die Diskussion darüber, dass die Voreingenommenheit gegenüber Israel sich auch in der Rechtsprechung wiederfindet, ist im Völkerrecht bisher nicht hinreichend geführt worden. Das Problem ist nicht gelöst und zeigt sich jeden Tag dringlicher. Es wäre zu wünschen, dass Deutschland, das sehr stark auf den Internationalen Strafgerichtshof hingewirkt hat, da eine klarere Meinung hätte. Das ist leider nicht der Fall. Im auswärtigen Dienst der EU und im deutschen Auswärtigen Amt herrscht leider die ideologische Sicht, dass Israel rechtlich ein Besatzer sei und dauernd Völkerrechtsbruch begehe. Das liegt daran, dass man die intensive völkerrechtliche Diskussion darüber, die nötig wäre, scheut wie der Teufel das Weihwasser.
Recht und Politik
SF: Wie findet man denn eigentlich – sei es als Laie oder Jurist – heraus, welche Dokumente völkerrechtlich relevant sind?
WB: Das Völkerrecht besteht im Prinzip aus Verträgen. Aus Verträgen, die zwischen den Staaten geschlossen werden und aus den Grundlagen, die für solche Verträge von jedem Juristen als denknotwendig angesehen werden. Da sehen Sie: Es kommt sehr stark auf die Juristen, auf die Rechtswissenschaften an. Das Völkerrecht wird so gewöhnlich unterteilt in das Gewohnheitsvölkerrecht, das über Jahrzehnte oder Jahrhunderte anerkannt worden ist, und das vertragliche Völkerrecht.
Man muss diesen engen Rahmen einhalten und gleichzeitig beachten, dass jedes Prinzip – sei es das der Selbstbestimmung oder das der Selbstverteidigung – nur so interpretiert wird, dass keine oder nur möglichst geringe Konflikte zwischen Staaten zugelassen und dass diese möglichst verhindert werden. Hier liegen Recht und Politik sehr nah beieinander. Es ist eine stete Gefahr für das Völkerrecht, dass politische Meinungen über die rechtlichen Strukturen erhoben werden und Gewalt über sie erlangen. Dagegen haben Juristen seit Generationen gekämpft.
In der UNO gab es in den siebziger Jahren einen klaren Beschluss: UNO-Beschlüsse sind kein Recht und dürfen es nicht sein. Alle UNO-Beschlüsse sind politische Beschlüsse von Mehrheiten, die sich ändern können. Sie können per se kein Recht setzen. Die einzige Ausnahme davon ist der UN-Sicherheitsrat. Er darf in einem eng begrenzten Konfliktfall Recht setzen. Zu einer solchen Rechtsetzung des UN-Sicherheitsrat ist es bisher praktisch nicht gekommen.
SF: Der Leiter der EU-Delegation in Ramallah, Sven Kühn von Burgsdorff, hat gerade von Mahmud Abbas einen Orden bekommen, den Jerusalem-Stern. Laut dem Interimsabkommen zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde von 1995 darf die Palästinensische Autonomiebehörde gar keine Außenpolitik betreiben. Bricht die EU, bricht Deutschland das Völkerrecht, indem es diplomatische Beziehungen zur PA führt?
WB: Die Bundesrepublik hat keine Botschaft in den Autonomiegebieten errichtet; es gibt eine ständige Vertretung. Das heißt, die Palästinensischen Autonomiegebiete werden von der Bundesrepublik nicht als eigenständiger palästinensischer Staat anerkannt. Insofern hält sich die Bundesregierung an die Osloer Abkommen. Es ist allerdings verwunderlich, dass ein EU-Repräsentant einen Orden dafür erhält, dass er das, wofür die EU eigentlich völkerrechtlich einsteht – die Einhaltung der Osloer Abkommen – zerstört und unterminiert. Sven Kühn von Burgsdorff hat erklärt, es gebe keine Gebiete A, B und C mehr, das sei alles palästinensisches Land.
SF: Was bedeuten die Buchstaben?
Die Gebiete A und B sind auf Grund der Oslo-Vereinbarungen im Prinzip der palästinensischen Selbstverwaltung unterstellt, Gebiet C steht unter israelischer Verwaltung. Das war der Kompromiss, den man in den Oslo-Abkommen geschlossen hat. Dieser Kompromiss könnte verändert werden, wenn die Palästinenser zu weiteren Verhandlungen bereit wären. Solange sie dazu nicht bereit sind, bleibt es dabei, dass Israel in dem Gebiet C die alleinige Souveränität im Sinne von Rechtsetzung und Rechtsdurchsetzung hat. Israel ist natürlich nicht vollständig souverän, denn über das Gebiet C kann und soll ja noch verhandelt werden.
SF: Aber Sven Kühn von Burgsdorff sagt, es gebe keine Gebiete B und C.
WB: Er negiert die Oslo-Abkommen, für die einzutreten sich die EU als Garantiemacht verpflichtet hat. Der EU-Beauftragte für die Palästinensischen Gebiete zerstört damit das Völkerrecht, das die EU erklärt hat, einhalten zu wollen. So viel zur Rechtstreue der EU und zum politischen Opportunismus. Wenn ich Abbas wäre und das Ziel hätte, Israel zu zerstören und die Gebiete A, B und C ohne Verhandlungen unter meine Kontrolle zu bekommen, dann würde ich Herrn Kühn von Burgsdorff auch mit einem Orden auszeichnen, denn einen besseren EU-Helfer als ihn kann man aus der Sicht von Palästinensern, die den Staat Israel zerstören wollen – und einen eigenen Staat nur unter diesem Vorzeichen haben wollen –, nicht vorstellen.