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Steuert Israel auf eine Katastrophe zu?

Israels Premier Netanjahu und Teile der Regierungskoalition bei der Abstimmung zur Justizreform in der Knesset
Israels Premier Netanjahu und Teile der Regierungskoalition bei der Abstimmung zur Justizreform in der Knesset (© Imago Images / Xinhua)

Die Koalition in Israel treibt Teile der Justizreform voran. Die Proteste dagegen haben die Reihen der Armee in ungekanntem Ausmaß erfasst. Einige Ex-Militärs sprechen gar von einer katastrophalen Lage.

Ende März versank Israel für Stunden im Ausnahmezustand. Damals strömten spontan Menschenmassen auf die Straßen, weil Premier Benjamin Netanjahu seinen Verteidigungsminister Yoav Galant die Tür wies, nachdem dieser davor gewarnt hatte, die Sicherheit des Landes würde Schaden nehmen, sollte die Justizreform einseitig vorangetrieben werden. Seine Warnung sprach Galant aus, da immer mehr Reservisten in Aussicht stellten, dem Dienst fernzubleiben, sollte der demokratische Charakter des Staates infolge der Justizreform verletzt werden.

Zum damaligen Zeitpunkt hatten einige Dutzend Piloten im aktiven Reservedienst ein Fernbleiben angekündigt. Da nachfolgend ein Dialog zwischen parlamentarischer Regierungskoalition und Opposition unter der Schirmherrschaft von Staatspräsident Yitzhak Herzog anlief, wurde es zeitweilig ruhig um das Thema. Jetzt aber ist es mit einem Paukenschlag zurück. So kündigten am Wochenende mehrere tausend Reservisten an, ihrem Staat nicht weiter dienen zu können, sollte die Regierung ihre Bestrebungen fortsetzen.

Hintergrund

Nachdem der mehrmonatige Dialog unter der Ägide des Staatspräsidenten die Beteiligten ergebnislos auseinandergehen ließ, kündigte Premier Netanjahu an, die Reformbestrebungen im Justizwesen unbeirrt fortzuführen. Kurz vor der Knesset-Sommerpause wurde unter Hochdruck ein Gesetz vorangetrieben, das die Möglichkeiten der israelischen Justiz aufhebt, die »Angemessenheit von Regierungsentscheidungen« zu überprüfen sowie Beschlüsse und Ernennungen gegebenenfalls zu widerrufen.

Die Argumente der Befürworter wie der Kritiker fasst ein Beitrag der Times of Israel zusammen: »Befürworter des Gesetzentwurfs halten es für unangemessen, dass eine nicht gewählte Richterschaft ihr Urteil über Ermessens- oder Grundsatzfragen ausübt, die häufig in Verwaltungsentscheidungen [wie auch bei Ernennungen] einfließen. Kritiker sagen, dass die Abschaffung einer solchen Kontrolle die Regierungsverpflichtung, bei der Entscheidungsfindung von Anfang an ordnungsgemäße Prozesse zu durchlaufen, verringert und dass die Aufhebung der Absicherung von Ernennungen den Weg zum Ende der Unabhängigkeit von bedeutsamen Torwächtern der Demokratie ebnet.« Damit sind unter anderem Ämter wie Generalstaatsanwalt, Polizeichef, Direktoren der Nachrichtendienste, der Gouverneur der Zentralbank gemeint.

Zuspitzung

Die Proteste, die Anfang Januar gegen die Justizreform begonnen haben, sind nie zum Stillstand gekommen. Auch nicht während jener Zeit, in der die Politiker zum Dialog bei Staatspräsident Herzog ein- und ausgingen. Längst finden sich die demonstrierenden Massen nicht mehr nur zum ausgehenden Wochenende ein. So riefen die zahllosen Vereinigungen, die sich an der Organisation und Koordination der Proteste beteiligen, vergangenen Donnerstag wieder einmal einen »Tag der Störung« aus, an dem die Protestmaßnahmen angesichts der anstehenden Eilverabschiedung des besagten Gesetzes noch umfangreicher ausfielen als in den Wochen zuvor.

So wurden in vielen Städten Hauptverkehrsadern stundenlang lahmgelegt. Reformgegner strömten in die Bahnhöfe im Zentrum Israels, sodass der Schienenverkehr massiv gestört und zeitweise sogar landesweit zum Erliegen kam. Kundgebungen wurden zudem unter anderem vor Wohnsitzen der Koalitionsangehörigen, vor Rabbinaten und dem Armeehauptquartier, aber auch der Histadrut abgehalten, der größten Gewerkschaft des Landes, um sie zu einem Generalstreik zu bewegen. Zudem gibt es seit Wochen auch Kundgebungen vor der Botschaft der Vereinigten Staaten, bei denen Israels Reformgegner den mächtigen Verbündeten um Hilfe beim Stopp des Umbaus der Justiz auffordern. Am bislang letzten »Tag der Störung« ging zudem die Vereinigung der Mediziner in einen zweistündigen Warnstreik.

Zu diesem Zeitpunkt hatte bereits ein wachsender Strom von Menschen einen Fußmarsch von Tel Aviv nach Jerusalem angetreten. Als der auf weit über 10.000 Menschen geschätzte Protestzug Jerusalem erreichte, gesellten sich Zehntausende weitere Demonstranten hinzu. Als gestern die unter Hochdruck zeitgleich angesetzte zweite und dritte Lesung des Justizreformgesetzes anstand, sahen die Straßen um das Parlament aus, als herrsche ein Belagerungszustand. Wasserwerfer, berittene Polizei und als Sperren eingesetzte Lastwagen, die Zufahrtswege offenhalten sollten, kamen gegen die Massen nicht an.

Aus Kluft wird Graben

In der Nacht vor der Abstimmung erregte Aufsehen, dass das israelische Business Forum einen Streik ausrief und hundertfünfzig große Firmen, darunter die namhaftesten Betreiber von Einkaufzentren, am Tag der finalen Gesetzabstimmung ihre Türen geschlossen halten werden. Doch die eigentlichen Schlagzeilen machten IsraelsReservisten.

In der Woche vor der Verabschiedung des Gesetzes kündigten über zweihundert Piloten im aktiven Reservedienst an, ihren Dienstverpflichtungen nicht mehr nachzukommen, sollte das Gesetz verabschiedet werden. In kürzester Zeit stieg die Zahl der Reservisten, die sich zu diesem Schritt entschieden, massiv an – alleine bei den Luftstreitkräften auf mehr als 1.100. 

Zum Ausgang des Wochenendes wurde bekannt, dass sich inzwischen Reservisten aller Truppenverbände der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) diesem Protest angeschlossen haben, ohne dass es eine Stelle oder Instanz gibt, die diesen Tsunami organisiert befeuert hätte – es waren individuelle Entscheidungen. Reservisten bedeutsamer Einheiten, darunter legendäre Elitetruppen, gaben auf einer Pressekonferenz gemeinsam bekannt, dass weitere 10.000 Reservisten den Dienst nicht mehr wahrnehmen werden, sollte die Justizreform einseitig und kompromisslos vorangetrieben werden.

Vertragsbruch

Die Reservisten, die sich zu diesem Schritt entschieden, wurden von zahlreichen Politikern aufgerufen, diesen Weg nicht einzuschlagen, da er alle Grenzen überschreite. Regierungsangehörige taten sich hingegen mit Beschimpfung der Reservisten hervor. Sie legten ihnen nicht nur zur Last, Politik in die Reihen der Armee zu tragen, sondern mit der Sicherheit des Landes zu spielen, da sie den Vertrag, den sie mit dem Staat eingegangen sind, nicht mehr einhielten.

Die Reservisten ihrerseits machten deutlich, sehr wohl bereit zu sein, ihr Leben weiterhin für ihr Land zu riskieren und im Fall des Falles dafür auch mit ihrem Leben zu bezahlen; allerdings nicht, wenn die Regelungen des Vertrags, den sie einst schlossen, seitens der Regierung außer Kraft gesetzt werden, sodass sich dieser Vertrag bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Sicherheitsrisiko

In Israel sorgen sich immer mehr Menschen vor dem Szenario eines Bürgerkriegs. Laut neuesten Umfragen sind es nicht weniger als 67 Prozent, wobei der Prozentsatz unter Wählern der Koalitionsparteien bei 56 Prozent und bei Wählern der Oppositionsparteien um 85 Prozent liegt. 

Zugleich sorgen sich viele Israelis um die Einsatzfähigkeit der Armee. Dass Verteidigungsminister Galant eine Notfallsitzung einberief, steigerte das ungute Gefühl noch mehr. Dasselbe gilt auch für die gestrigen Liveaufnahmen aus der Knesset während der Abstimmung. Das ganze Land verfolgte, wie Verteidigungsminister Galant seinen Likud-Kollegen Justizminister Yariv Levin im Beisein eines schweigenden Premiers vergeblich darum anflehte, in letzter Sekunde doch noch einen Kompromiss zuzugestehen, um die Wogen in den Reihen der Armee zu glätten.

Unmittelbar nach der Parlamentsabstimmung, mit der die Koalition das Gesetz in Windeseile durchdrückte, äußerte sich Bezalel Smotrich (Religiöse Zionisten) gegenüber den Medien zum Thema. Israel Finanzminister, der zugleich mit Sonderrechten im Verteidigungsministerium ausgestattet ist, meinte, über das Gesamtbild bestens informiert zu sein. Man solle sich keine Sorgen machen. Aus dem Mund eines Mannes, der im Zuge des israelischen Abzugs aus dem Gazastreifen 2005 wegen der Planung eines Terrorakts unter Verdacht stand, klang das in den Ohren vieler Israelis, welche die Armee durch die Bank besser kennen als er, der nur einen verkürzten Wehrdienst geleistet hat, reichlich merkwürdig.

Bedenklich war auch, dass die außergewöhnliche Bitte von Generalstabschef Generalmajor Herzi Halevi, mit Premier Netanjahu noch vor der Knesset-Abstimmung ein Gespräch zu führen, nicht erfüllt wurde. Stattdessen fand die Zusammenkunft erst danach statt, wobei nach dem Treffen bekannt wurde, dass Israels Generalstabschef Netanjahu inständig um die Beendigung der Angriffe der Koalitionsangehörigen gegen die mit ihrem Gewissen ringenden Reservisten bat.

Aus einem schriftlichen Statement des Generalstabschefs geht große Sorge hervor, und zwar nicht nur wegen des Trends, den Reservedienst zu verweigern. So herrschen ebenfalls Bedenken, Berufssoldaten könnten davon absehen, ihre Verträge zu verlängern, und sich Anwärter auf militärische Berufslaufbahnen von vornherein dagegen entscheiden. »Wir haben kein anderes Volk und wir haben keine andere Armee. (…) Der Dienst in der israelischen Armee ist eine Pflicht, die ein großes Privileg darstellt (…). Wenn wir keine starke und geschlossene Armee haben (…), werden wir als Land in der Region nicht länger bestehen können«, warnte Halevi eindringlich.

Israels Generalstabschef hält es für nicht zu spät, das Ruder herumzureißen und die Einheit in den Reihen der Armee doch noch zu wahren beziehungsweise wiederherzustellen. Das hingegen sieht nicht nur Eitan Ben Elijahu, ehemaliger Kommandeur der Israelischen Luftstreitkräfte, anders. Ben Elijahu glaubt, es sei schon jetzt eine so tiefe Krise eingetreten, dass sie einer Existenzbedrohung wie zu Beginn des Yom-Kippur-Kriegs von 1973 gleichkommt

Und noch mehr: Er und andere halten den Vertrauensbruch seitens der Regierung für so nachhaltig, dass er sich über viele Jahre zu Ungunsten der Armee bemerkbar machen werde.

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