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Ägypten am Scheideweg: War al-Sisis Jahrzehnt an der Macht ein Erfolg? 

Ägyptens Präsident al-Sisi befindet sich einem Jahrzehnt an der Macht
Ägyptens Präsident al-Sisi befindet sich einem Jahrzehnt an der Macht (© Imago Images / APAimages)

Ägypten steht heute vor denselben Herausforderungen wie vor zehn Jahren, als Massenproteste zum Sturz des damaligen Präsidenten Mohamed Mursi führten. 

Shahar Klaiman

Fast exakt zehn Jahre ist es her, dass General Abdel-Fattah al-Sisi durch einen Militärputsch an die Macht kam und Ägyptens Präsident wurde. Der 3. Juli 2013 begann wie ein ganz normaler Tag in Kairo mit Demonstrationen gegen den damaligen Präsidenten Mohamed Mursi, endete aber mit dessen dramatischer Absetzung. 

Davor waren die Ägypter sieben Monate lang auf die Straße gegangen: Die einen wegen Mursis Versuch, ein von Islamisten geführtes Parlament wieder einzusetzen, die anderen wegen der Energiekrise. Nach dem Staatsstreich gab es den Verdacht, das ägyptische Militär hätte die Kraftstoffpreise manipuliert, um die Regierung zu destabilisieren. 

Ein Manager aus der Treibstoffbranche sagte zu den Ereignissen im Jahr 2013: »Vor den Demonstrationen schickte ich zwei meiner Mitarbeiter, um die ganze Nacht zu verhandeln, damit wir genug Benzin haben, was nicht immer funktionierte. Heute Abend [nach den Protesten] waren beide Zapfsäulen voll und der Lieferant rief an, um zu fragen, ob wir mehr brauchen.« Wie viele andere Bereiche in Ägypten steht auch die Kraftstoffindustrie unter dem Einfluss des Militärs

Die Muslimbruderschaft hat nicht so schnell aufgegeben. In den Wochen nach dem Sturz Mursis kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen ihren Mitgliedern und den Sicherheitskräften, bei denen zahlreiche Menschen ums Leben kamen. Der nächste Schritt war, die Bewegung für illegal zu erklären und eine beispiellose Verhaftungskampagne zu starten. 

Blasen in der Wüste

Ein Jahrzehnt später steht al-Sisi nun selbst vor einem ähnlichen Problem wie seine Vorgängerregierung: Das ägyptische Pfund verliert an Wert, und die von ihm angekündigten Projekte, darunter der Bau neuer Städte und Autobahnen, belasten den Staatshaushalt. Der Höhepunkt des massiven Baubooms ist die neue Verwaltungshauptstadt, die östlich von Kairo errichtet wird, aber das Projekt liegt mehrere Jahre hinter dem Zeitplan zurück. Diese Unternehmungen, die jenen der Immobiliengiganten Saudi-Arabien und Vereinigte Arabische Emirate ähneln, haben zu scharfer Kritik an al-Sisi geführt. 

So beklagen seine Gegner, dass die 58 Milliarden Dollar, die in den Bau der neuen Hauptstadt investiert werden, hauptsächlich aus dem Staatshaushalt stammen. In einem Bericht der in Washington ansässigen Gruppe Project on Middle East Democracy (POMED) heißt es, dass trotz der Behauptung al-Sisis, für den Bau der neuen Hauptstadt werde kein Cent aus dem Staatshaushalt entnommen, der Großteil der Mittel tatsächlich aus der Staatskasse stammt.

Der Bericht besagt auch, dass Milliarden von Euro in die Taschen regierungsnaher Bauunternehmen geflossen seien.»Was wir hier sehen, ist ein sich ausbreitender Staat im Staat, in dem die Mittel in das Militärregime fließen und die Schulden auf die zivile Regierung abgewälzt werden.« Das Projekt »macht al-Sisis Machterhalt eher noch unsicherer, als dass es ihn stützt, und es schafft Blasen in der Wüste, die jederzeit platzen können«.

Des Präsidenten zweites großes Bauprojekt war der Ausbau des Suezkanals, von dem eine Verdoppelung der Einnahmen auf etwa zwölf Milliarden Euro pro Jahr erwartet wird. Nach einem Jahr intensiver Arbeit von 25.000 einheimischen Arbeitern wurde der Kanal vor acht Jahren in Betrieb genommen. 

Und auch Ägypten blieb vom Ukraine-Krieg nicht verschont, der zu weiteren Schulden führte. Die Weizenpreise auf dem Weltmarkt schossen in die Höhe, wodurch Ägyptens Budgetposten für Brotsubventionen anstieg und al-Sisi mehr denn je auf neue Einkommensquellen angewiesen ist. Es scheint, als habe er eine Lösung gefunden, indem er unter anderem die Beziehungen zu früheren Rivalen wie der Türkei und dem Iran wieder aufbaute.

Anfang dieses Monats berichtete der saudische Sender Al Arabiya, Teheran und Kairo arbeiteten an einer Vereinbarung zur Einrichtung eines Ausschusses zur Erneuerung der Beziehungen, einschließlich der Sicherheitskoordination. Eine solche Entwicklung würde den Tourismus in Ägypten ankurbeln, der eine der Säulen der ägyptischen Wirtschaft darstellt. Die Annäherung zwischen Ägypten und dem Iran ist jedoch für Israel ein Grund zur Sorge.

Grundlose Unterdrückung

Al-Sisi steht auch wegen der geradezu flächendeckenden Verletzung der Bürger- und Menschenrechte in der Kritik, ein Thema, das mit der US-Regierung von Joe Biden zu einer Quelle von Spannungen wurde. »Die Menschenrechtslage in Ägypten ist so schlecht wie noch nie«, sagte der ägyptische Aktivist und Nahostexperte Mohamed Saad Hirala, der nach Schweden fliehen musste. »Derzeit ist sogar der Begriff Missbrauch in vielen Fällen unbegründet, weil zu schwach: es ist einfach Unterdrückung um der Unterdrückung willen.«

Saad erklärt, was zum Aufstand gegen die Muslimbruderschaft führte: »Nach monatelanger Herrschaft der Muslimbrüder war die große Mehrheit der Bevölkerung davon überzeugt, dass sie kein Mandat zum Regieren hätten und sich deshalb geschlossen gegen sie gestellt. Diese Einigkeit war der Schlüssel, um die Muslimbruderschaft zu stoppen. Das ägyptische Volk aus allen Gesellschaftsschichten wurde Opfer eines politischen Betrugs.«

Die Bruderschaft hätte nichts als Illusionen und weder eine Vision noch einen Plan zu bieten gehabt, was die gesamte Gesellschaft gegen sie vereinte. Aktuell sei es der Präsident, der ein einzigartiges Modell totalitärer Herrschaft durch sich selbst und die Institution fördere, der er angehört. »Deshalb kann man verstehen, dass ein Land mit 110 Millionen Einwohnern mit einer ungeheuren Menge an Wut und Hass jeden Moment zu explodieren droht.«

All dies geschehe wegen der grundlosen Unterdrückung: »Wenn das Land die Taten eines Mörders [des Terroristen Mohamed Salah Ibrahim, der Anfang Juni bei einem Anschlag an der Grenze drei israelische Soldaten tötete] feiert, ist klar, dass sich die Gesellschaft offiziell auf das Modell der Hamas, des Palästinensischen Islamischen Dschihads, der Hisbollah und des Irans zubewegt.«

Auf die Frage, ob ein Wandel möglich sei, meinte Saad, es gebe »mehr als eine Lösung, denn die ägyptische Frage ist sehr komplex. Eine der Lösungen besteht darin, die nächsten Präsidentschaftswahlen unter internationale Aufsicht und Kontrolle zu stellen. Es gibt keine andere Möglichkeit, als die Weltmächte dies tun zu lassen, denn bei der nächsten Explosion werden alle den Preis dafür zahlen.«

Die von Saad erwähnten Wahlen sollen im Januar 2024 abgehalten werden, und viele gehen davon aus, dass sie mit einem ähnlichen Ergebnis enden werden wie die Abstimmung des Jahres 2018, als einige Kandidaten bereits im Vorfeld auf Druck der Regierung zurücktraten und al-Sisi mit 97 Prozent der Stimmen gewann.

Beziehungen zu Israel

Im Vergleich zur sich immer weiter verschlechternden innenpolitischen Situation Ägyptens haben sich die Beziehungen zwischen Kairo und Jerusalem in den vergangenen zehn Jahren hingegen deutlich verbessert. Der wissenschaftliche Mitarbeiter der Foundation for the Defense of Democracies, Hussain Abdul-Hussain, forscht zu den Beziehungen zwischen dem jüdischen Staat und den arabischen Ländern und ist einer der wenigen ägyptischen Akademiker, die ihren Master an der Universität Tel Aviv gemacht haben. 

Auf die Frage nach den Faktoren, welche die Beziehungen während der Ära al-Sisi beeinflussten, antwortete Hussain, Ägypten habe »politische und sozioökonomische Probleme durchgemacht, die Kairo und Jerusalem näher zusammenbrachten. Ägypten sah Israel als Partner in seinem Krieg gegen den Terror auf dem Sinai und bei der Verbesserung seines Images in den politischen Kreisen Washingtons, wenn es um den Kampf der Narrative gegen die Muslimbruderschaft ging.« Der Terrorangriff auf israelische Soldaten an der ägyptischen Grenze warf jedoch einmal mehr die Frage nach der Kluft zwischen den offiziellen Beziehungen und den unter der Bevölkerung herrschenden Beziehungen zwischen den beiden Ländern auf. 

Laut Hussain gehören zu den Schritten, die unternommen werden können, um eine Annäherung nicht nur zwischen den beiden Regierungen, sondern auch zwischen den Menschen herbeizuführen, die Förderung von »Interaktionen zwischen Israelis und Ägyptern. Dies ist eines der fehlenden Elemente für den Frieden zwischen Israel und Ägypten, und er kann durch Tourismus, Bildung, Kultur und vor allem durch Handel geschehen.« 

In einem kürzlich erschienenen Artikel schrieb Hussain, es sei deutlich ersichtlich, dass das Friedensabkommen, das Ägyptens damaliger Präsident Anwar Sadat im Jahr 1979 mit Israels Premier Menachem Begin geschlossen hatte, den weit verbreiteten Hass auf Israel in der ägyptischen Kultur nicht gemildert habe. Es sei an der Zeit für einen neuen Ansatz, der in Israel und nicht in Ägypten beginne, schrieb er, wobei er auch darauf hinwies, dass al-Sisis Gesten gegenüber Jerusalem nicht von Bemühungen getragen seien, die öffentliche Meinung in Ägypten über Israel zu ändern.

Ein pragmatischerer Weg, den Diskurs über Israel zu ändern, könnte in Tel Aviv beginnen, wo Kairo eine ruhende Botschaft unterhält, deren Mitarbeiter wenig tun, um den Friedensvertrag mit Israel zu fördern, und die wenig Interesse an dem jüdischen Staat habe, sagte er. So unterstütze die Botschaft beispielsweise keine Besuche von ägyptischen Geschäftsleuten und Akademikern, die an einer Zusammenarbeit interessiert sind.

Hussain erklärte, dass das ägyptische Sicherheitsestablishment an solchen Entwicklungen nicht interessiert sei, da »die vergangenen Kriege noch immer nicht vergessen« seien. »Politisch haben sie den israelisch-palästinensischen Konflikt im Blick, aber kulturell gesehen, wenn viele Ägypter nach Israel kommen und sehen, wie gut das Leben hier ist, könnten einige arme Jugendliche versuchen, illegal nach Israel zu gehen, wie sie es in Europa versuchen.«

Erst kürzlich sind Dutzende von Migranten vor der griechischen Küste ertrunken, als sie versuchten, auf der Suche nach einem besseren Leben den Kontinent zu erreichen. Nach Angaben des ägyptischen Außenministeriums befand sich das Schiff, das eine Panne hatte, auf dem Weg von Libyen nach Europa und hatte Hunderte von Menschen verschiedener Nationalitäten an Bord, unter denen auch Ägypter waren. Ist dies das Schicksal, das ganz Ägypten erwartet? Al-Sisi verspricht jedenfalls immer noch, es werde ihm trotz der Herausforderungen gelingen, das Land in einen sicheren Hafen zu steuern.

(Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)

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