Ende April gab die Türkei bekannt, der vierte IS-Kalif sei nur fünf Monate nach seiner Machtübernahme bei einer Operation in Nordsyrien getötet worden. Das macht die vielfältigen Probleme der Organisation deutlich.
Am 30. April erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, die türkischen Streitkräfte hätten den IS-Anführer Abu Al-Hussein al-Qurashi in Syrien getötet. Erdogan bestätigte in einem Interview mit dem türkischen Fernsehsender TRT, dass »diese Person im Rahmen einer vom türkischen Geheimdienst in Syrien durchgeführten Operation neutralisiert wurde, nachdem der Geheimdienst sie lange Zeit überwacht hatte«.
Kurz darauf erklärte ein hochrangiger türkischer Beamter gegenüber dem saudischen Sender Al-Arabiya, Abu Al-Hussein al-Qurashi habe »sein Leben beendet, indem er eine Selbstmordweste zündete, nachdem er sich geweigert hatte, sich während einer Razzia türkischer Spezialeinheiten in der Nähe der Stadt Jandris im Nordwesten Syriens zu ergeben«. Der anonym bleibende Beamte fügte hinzu, die Spezialkräfte hätten während der vierstündigen Razzia, die vom türkischen Geheimdienst geleitet wurde, ein gut befestigtes Versteck in der Nähe von Jandris gestürmt und den IS-Anführer belagert, woraufhin dieser sich selbst in die Luft sprengte.
Die türkische Operation ist eine Fortsetzung der Angriffe auf IS-Anführer, die damit begannen, als die Vereinigten Staaten im Oktober 2019 die Tötung des ersten Kalifen der Organisation, Abu Bakr al-Baghdadi und im Februar 2022 jene des zweiten Kalifen, Abu Ibrahim al-Qurashi, bekannt gaben.
Im November 2022 verkündete der IS die Tötung auch seines dritten Anführers, Abu Hassan al-Hashemi, bevor die Türkei nun jene des vierten Kalifen erklärte, was bedeutet, dass der Islamische Staat seit 2019 vier seiner Anführer verloren hat. Obendrein war die Identität des vierten Kalifen, Abu Al-Hussein al-Qurashi, weitgehend unbekannt und in den Monaten vor seinem Tod Gegenstand von Spekulationen; nicht zuletzt, weil der IS seit einiger Zeit versucht, die Identität seines obersten Anführers zu verschleiern, um ihn vor der Verfolgung durch die Geheimdienste zu schützen.
Geschwächt, aber noch gefährlich
Amr Abdel Moneim, Experte für terroristische Organisationen, erklärte in dem Zusammenhang, alle weitgehend unbekannten Anführer, die den IS seit 2022 übernommen haben, seien nicht in der Lage gewesen, sich selbst zu schützen, und auch der Versuch der Verschleierung ihrer Identitäten habe die Angriffe auf sie nicht verhindern können. »Die Tötung des vierten IS-Kalifen, Abu Al-Hussein al-Qurashi, zeigt, dass die Organisation ihre Anführer nicht mehr schützen kann, weder im Irak noch in Syrien«, sagte Moneim der in London erscheinenden Zeitung Asharq Al-Awsat.
Generell fällt al-Qurashis Tötung mit einer allgemeinen Schwächung des Islamischen Staates in Syrien und im Irak zusammen, die sich in einem Rückgang der Anschläge von Terrorgruppen in Syrien und im Irak im Jahr 2023 widerspiegelt und zu Spekulationen führte, ob die Terrororganisation in andere Staaten wie etwa den Sudan ausweichen könnte. Nichtsdestotrotz stellt die Organisation noch immer eine Gefahr in der Levante dar, wie die trotz allem von ihr verübten Terrorangriffe in Syrien zeigen oder die unlängst von irakischen Sicherheitskräften veröffentlichten Zahlen, heuer bereits über hundert IS-Kämpfer bei Antiterroreinsätzen getötet zu haben.
Der Befehlshaber der internationalen Koalition gegen den IS, Matthew MacFarlane, sagte, von Anfang dieses Jahres bis zur ersten Aprilwoche habe man »im Irak einen Rückgang der Angriffe um 68 Prozent im Vergleich zum gleichen Zeitraum des letzten Jahres verzeichnet, während es in Syrien im selben Zeitraum zu einem Rückgang um 55 Prozent kam«.
Dem Future Center For Research zufolge haben der Rückgang der IS-Operationen und der sukzessive Tod seiner Anführer zu Spaltungen in der Organisation geführt, die sich nach der Tötung von Abu Al-Hussein al-Qurashi wahrscheinlich noch verstärken werden. So könnten sich die IS-Ableger in Afrika und Afghanistan vom Zentrum der Organisation in Syrien und im Irak unabhängig machen, nachdem dieses so viele Schläge einstecken musste und nicht nur die Kontrolle über die Gebiete verloren hat, in denen es 2014 sein Kalifat ausgerufen hatte, sondern auch seine Fähigkeit, die Führer der Organisation zu schützen.