Israels Zerreißprobe: Moralische Dilemmata in der Armee

Luftwaffe: Der Streit um die Justizreform erreicht Israels Armee
Luftwaffe: Der Streit um die Justizreform erreicht Israels Armee (© Imago Images / ZUMA Wire)

Schon seit Wochen wird gemunkelt, dass die Entzweiung der Gesellschaft aufgrund der Justizreform in die Reihen der Armee sickern könnte. Das ist nun eingetreten und versetzt das Land in noch mehr Unruhe.

Es sollte einmal sehr deutlich gesagt werden: Beide Seiten der israelischen Politik und Gesellschaft hegen legitime Bedenken, wenn es um die Themen Rechtsstaatlichkeit und Justizreform geht. Über die unterschiedlichen Standpunkte, das Für und Wider, wird in Israel inzwischen jedoch kaum mehr argumentiert, denn miteinander diskutieren oder gar debattieren steht für viele nicht mehr an. Die Schuld dafür schieben beide Seiten einander zu. 

Spätestens seit den Tumulten auf der ersten Sitzung des Justizausschusses behauptet die Regierung, mit Krawall schlagenden und über Tische springenden Parlamentariern kann man nicht reden. Die Opposition behauptet, der Vorsitzende des Ausschusses, Simcha Rothman (Religiöse Zionisten), setze mit Absicht kurze Redezeiten an, damit nicht in demokratischer Manier debattiert werden kann. Langjährige Knesset-Berichterstatter meinten dazu, weder das eine noch das andere Szenario jemals im israelischen Parlament gesehen zu haben.

Seither sind in Israel die Töne noch schriller geworden, sodass man manchmal meinen könnte, es sei keine Luft mehr nach oben – doch jedes Mal wird man eines Besseren belehrt. So auch am Purim-Fest, an dem in den Synagogen das biblische Buch Esther gelesen wird, das an die Errettung des jüdischen Volkes vor seiner Vernichtung in der persischen Diaspora erinnert. In einem Posting zum Feiertag schmetterte Kommunikationsminister Shlomo Karhi (Likud) einigen Reservisten der Armee entgegen: »Das Volk Israel wird auch ohne euch auskommen, fahrt zur Hölle.«

Die moralischen Fragezeichen, welche die Reformabsichten im Justizwesen aufwerfen, haben vor einigen Tagen nun also auch die Reihen des heiligsten Heiligtums des Staates Israel erfasst: die Armee.

Israel erschüttert Reservisten

Die Ereignisse im palästinensischen Dorf Huwara – ein Terroranschlag, der zwei jungen Israelis das Leben kostete, Ausschreitungen von Siedlern, die in Eigenregie Vergeltung übten, bei denen ebenfalls ein Mensch ums Leben kam, und schließlich die Forderung von Finanzminister Bezalel Smotrich (Religiöse Zionisten), das Dorf müsse »ausgelöscht werden, durch den Staat« – führten dazu, dass mehrere Dutzend Piloten im aktiven Reservedienst der Israelischen Luftstreitkräfte das Gespräch mit ihrem Kommandeur Generalmajor Tomer Bar suchten.

Sie wollten mit ihrem Vorgesetzten über die moralischen Dilemmata sprechen, die möglichen »politisch motivierten« Befehlen, gekoppelt mit beschnittenen Befugnissen der Justiz, entspringen könnten. Ein in der Geschichte Israels präzedenzloses Gespräch, bei dem nicht nur ihre Bedenken, zukünftig vor moralischen Problemen zu stehen, zur Sprache kamen. Zudem ging es auch um ihre Sorge, nicht mehr auf juristischen Schutz im Fall von internationaler Strafverfolgung bauen zu können. In der Vergangenheit punktuell aufgekommene Bedenken solcher Art hat Israel bislang immer als unbegründet bezeichnet, denn das verhindere schließlich der moralische Kodex der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF), verbunden mit einem unabhängigen Justizsystem des Landes.

Als 37 Piloten bekannt gaben, sie würden für militärische Einsätze zur Verfügung stehen, aber nicht zu Reservedienstübungen erscheinen, und sich ihnen Dutzende Reservisten der legendären Einheit 8200 anschlossen, die für Israel auf nachrichtendienstlich-digitalem Sektor ebenfalls essenziell ist, erfasste Israel ein wahrhaftes Beben.

Reservisten erschüttern Israel

Die Reservisten des Geschwaders 69 sind legendär für ihre Einsätze zum Schutz des Staates Israel – etwa wegen des 2007 ausgeführten Luftangriffs auf die syrischen Atomanlagen ebenso wie wegen der seit einem Jahrzehnt in Syrien gegen iranische Militäreinrichtungen geflogenen Angriffe.

Dementsprechend groß war die Resonanz auf ihre Ankündigung, weshalb die erste und wichtigste Durchsage seitens der politischen als auch militärischen Entscheidungsträger in Richtung Volk Beruhigung signalisieren musste und damit kaum anders lauten konnte als: Nein, Israel steht dadurch nicht verteidigungsgeschwächt da! Die nächste Aussage hingegen lautete: Den Dienst zu verweigern überschreitet alle Grenzen!

So sehr die Ankündigung dieser Reservisten die jüdische Gesellschaft auch erschütterte, so sehr einte sie diese letztlich auch. Zum ersten Mal seit Monaten hörte man, dass sich Politiker der Opposition und der Regierung in etwas einig waren: Den Dienst zu verweigern, so meldeten sich alle zu Wort, sei ein schwerwiegendes Vergehen, das unzulässig ist. Wer diesen Weg des Protestes gegen die Justizreform wähle, der verstoße gegen den Vertrag, den er mit dem Land eingegangen ist. Es sei Betrug am Land, der zudem Schaden verursacht. 

Premierminister Benjamin Netanjahu sprach in Zusammenhang mit der angekündigten Dienstverweigerung sogar von einer existenziellen Gefahr für den Staat. Das war nicht nur die einhellige Meinung der Politiker, sondern auch jene der überwältigenden Mehrheit der Gesellschaft. So wurde darauf hingewiesen, dass die Armee natürlich solche Phänomene kenne: im Hinblick auf den Dienst im Westjordanland beispielsweise, vor allem jedoch aus der Zeit des Ersten Libanon-Kriegs (1982–1985) und der Zeit der dort von Israel errichteten Sicherheitszone (bis Mai 2000). Doch einen solchen Schritt zu diesem Zeitpunkt zu wählen, sei verwerflich. Generalstabschef Herzi Halevi suchte das Gespräch mit Netanjahu, um darauf hinzuweisen, dass dieses Beispiel Schule machen könnte; die Spaltung der Armee stünde bereits in Aussicht.

Shiras Blick auf die Lage

Major Shira Eting, die nach ihrem Studium in Israel und England Positionen im informellen Bildungssektor als auch als Beraterin für die US-Managementfirma McKinsey innehatte und sich einen Namen im Bereich des israelischen Wasser-Hightech-Exports machte, schloss sich 2019 Vintage Investment Partners an. Sie leistet im Monat mehrere Tage Reservedienst, denn sie ist Pilotin eines Kampfhubschraubers. In einem längeren TV-Gespräch meinte sie nun:

»Die Mehrheit meiner Freunde erscheint zum Reservedienst. Auch ich melde mich zur Stelle. Dennoch fragen wir uns, wie wir dem Staat Israel, den wir lieben, beibringen können, innezuhalten. Die Armee einer Diktatur setzt die Anweisungen des Regimes um. Ich und meine Kameraden setzen seit Jahren um, was uns unsere demokratisch gewählte Regierung aufträgt. Das ist schon seit Jahren eine rechtskonservative Regierung. Ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich eines Tages damit konfrontiert sein würde, über Dienstverweigerung nachzudenken. (…)

Wir werden ausgeschickt und riskieren dabei unser Leben. Das aber sieht anders aus, wenn wir uns nicht sicher sein können, dass wir uns auf die Entscheidungsträger verlassen können. Wir werden an den Rand eines Abgrunds gedrängt und wissen, da wartet nichts Gutes auf uns.«

Eting war es zum Abschluss wichtig zu betonen: »Mir (als Frau) wurde die Teilnahme am Pilotenkurs lediglich dank (einer Entscheidung) des Obersten Gerichtshofes möglich. Dieser Oberste Gerichtshof hat die Israelischen Luftstreitkräfte ebenso wie die israelische Gesellschaft verändert.« Eting hegt große Befürchtungen, dass das Urteil des Obersten Gerichtshofes zur Geschlechtergleichstellung in Israels Armee aufgehoben werden könnte. Doch nicht nur deshalb stünde ihr Leben seit zwei Monaten auf dem Kopf, denn: »Ich befinde mich mitten im Sturm meines persönlichen Lebens, denn ohne Zweifel werden alle Identitätsmerkmale, die mich als Person ausmachen, nach der Durchsetzung der Justizreform vollkommen anders aussehen. Das betrifft mich als Frau, als Pilotin der Reserve und als Investorin eines Hightech-Risikofonds wie auch als mit einer Partnerin Verheiratete und ebenso als Mutter einer Tochter, die meine Partnerin zur Welt brachte.«

Abschließend betonte sie, auch weiterhin zu ihren militärischen Verpflichtungen zu erscheinen, aber nicht sagen zu können, wie das nach der Reform aussehen wird.

Zum Abschluss

Premier Netanjahu nahm Smotrichs Entschuldigung an, ihm sei seiner Bemerkung über die Notwendigkeit der Auslöschung Huwaras »in einem emotional aufgewühlten Moment herausgerutscht«. Weite Kreise in den USA, die Smotrichs Äußerung auf das Schärfste verurteilt oder ihn zur Persona non grata erklärt hatten, haben sich seither nicht dazu geäußert.

Die mit Dienstverweigerung drohenden Reservisten wählten letztlich einen anderen Weg, um ihrem Zweifel Ausdruck zu verleihen: Sie meldeten sich an ihren Stützpunkten zum Dienst, führten aber kein Training durch, sondern baten um Gespräche. Dabei blieben sie bei ihrer Haltung, die Justizreform drohe die Konditionen des von ihnen mit dem Staat geschlossenen Vertrags zu verändern, ein Vertrag, mit dem sie gelobt haben, ihr Leben für Land und Leute zu geben. Ihnen sprangen moralisch alle nicht mehr im Dienst befindlichen Kommandeure der Israelischen Luftstreitkräfte zur Seite, Kommandeur Tomer Bar versprach, ein offenes Ohr für sie zu haben. 

Inzwischen unterzeichneten Tausende von Reservisten eine Petition, um zu bekunden, jetzt und in Zukunft ohne jede Einschränkung zu ihren militärischen Verpflichtungen zu erscheinen. Verteidigungsminister Yoav Galant (Likud) führte noch an Purim aus – gerichtet vor allem an Kommunikationsminister Karhi, aber auch in Richtung der in dessen Verwünschungen einstimmende Ministerin für Information, Galit Distel-Atbaryan (Likud): »Jeder, der Soldaten der israelischen Verteidigungsstreitkräfte angreift, ob von links oder von rechts, hat keinen Platz im öffentlichen System.«

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