Ebenso wie 1973 beim Jom-Kippur-Krieg versagte Israels Verteidigungskonzept beim grenzüberschreitenden Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober.
Israels Verteidigungskonzept namens Ha Conseptia irrte erstmals genau fünfzig Jahre vor dem Pogrom der Hamas vom 7. Oktober 2023, als es auf der Annahme beruhte, Ägypten würde solange keinen Krieg beginnen, als es keine Luftüberlegenheit gegenüber Israel habe und Syrien ohne Ägypten nicht losschlagen würde. Da Ägypten Israel militärisch nicht überlegen sei, müsse man also keinen Angriff befürchten, weder von Ägypten noch von Syrien, so die Überlegung damals.
Größter Verfechter von Ha Conseptia war der damalige Chef des Militärnachrichtendienstes Eli Zeira. Ägyptische Vorbereitungen auf das, was der Jom-Kippur-Krieg werden sollte, wurden als Manöver interpretiert, wie schon einmal Monate zuvor eines stattgefunden hatte. Auch der Aufmarsch von achthundert Panzern auf dem syrischen Golan wurde lediglich als defensive Maßnahme gegen einen von Syrien fälschlicherweise angenommenen möglichen Angriff Israels interpretiert.
Die Warnung seitens des jordanischen Königs Hussein bei einem Geheimtreffen mit Golda Meir wurde ebenso als nervöse Übertreibung gesehen, wie die Heimreise des russischen Botschaftspersonals ignoriert wurde.
Ägyptens Präsident Anwar as-Sadat hatte sich jedoch bereits ein Jahr vor dem Jom-Kippur-Krieg über das israelische Verteidigungskonzept hinweggesetzt, als er sich entschied, auch ohne Erwartung eines Siegs anzugreifen, um die Ehre Ägyptens nach der Niederlage von 1967 wiederherzustellen und, wenn möglich, bei Verhandlungen Israel Konzessionen abzuverlangen zu können. Auch als der Chef des Mossads vom Schwiegersohn des ehemaligen ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser eine Warnung vor einem unmittelbar bevorstehenden Angriff Ägyptens erhielt, zögerte Israel mit der Mobilmachung und schloss einen Präventivschlag aus. Man war in der eigenen Logik gefangen; die Logik der sogenannten Begin-Doktrin, potenzielle Bedrohungen präventiv zu beseitigen, war längst ad acta gelegt.
Erneut fehlgeschlagen
Fünfzig Jahre später, wiederum an einem Feiertag, diesmal war es Simchat Tora, erwies sich Ha Conseptia neuerlich als falsch. Israels Regierung sah offensichtlich in der von der Fatah kontrollierten Palästinensischen Autonomiebehörde wegen ihrer antiisraelischen Aktivitäten auf internationaler Ebene die hauptsächliche Bedrohung, wohingegen der Hamas nach mehrmaligen Auseinandersetzungen in der Vergangenheit keine Offensivhandlungen zugetraut wurden. Israel ließ zu, dass von den zwielichtigen Vertretern Katars Millionen nach Gaza gebracht wurden. Da der Zugang Gazas zum internationalen Bankensystem nur schwierig ist, erfolgten diese Zahlungen in bar, was einen zusätzlichen strategischen Vorteil für die Hams bedeutete, worauf der ehemalige stellvertretende Chef des Shin-Bet erst dieser Tage erst wieder verwies.
Nicht nur wurden die elektronischen Überwachungssysteme an den Grenzanlagen als ausreichend angesehen; auch übernahm in einer Art von vorauseilendem Gehorsam die höhere Militärebene das Ha-Conseptia-Konzept. Als unkonkrete Warnungen der Geheimdienste einlangten und am 7. Oktober 2023 Soldatinnen, welche die elektronischen Grenzanlagen überwachten, Alarmmeldungen weitergaben, wurden diese vorerst nicht beachtet und auf technische Probleme zurückgeführt. Die Mehrzahl der Soldatinnen musste dies in der von der Hamas überrannten Basis Nahal Oz mit dem Leben bezahlen.
Wie im Jom-Kippur-Krieg hinterlässt Israels Armee nach der Überwindung des ersten Schocks einen überzeugenden Eindruck. Die beiden formulierten Kriegsziele, die Freilassung aller Geiseln und der militärische Sieg über die Hamas, sind aber nur schwierig miteinander zu vereinbaren. Wenngleich Israels damalige Ministerpräsidentin Golda Meir nach dem Jom-Kippur-Krieg von der Agranat-Kommission, die den Kriegsausbruch untersuchen sollte, von persönlicher Schuld freigesprochen wurde, verlor ihre Arbeiterpartei bald die Wahlen und Meir selbst zog sich aus der Politik zurück. Ähnliches wird aller Wahrscheinlichkeit nach Kriegsende auch auf den aktuellen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu zukommen.
Während der Chef der israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) Herzi Halevi bereits eine interne Untersuchung angekündigt hat, wurde es um eine externe Aufarbeitung, die vom ehemaligen IDF-Chef Shaul Mofaz geleitet werden sollte, wieder still. Premier Netanjahu möchte die Untersuchungen möglichst auf das Militär beschränkt und weitergehende strategische Entscheidungen ausgeklammert wissen.