Die restriktive Gesetzgebung des autoritären tunesischen Präsidenten wird zu einer allgemeinen Verschlechterung der Frauenrechte führen, befürchten kritische Beobachter.
Tunesien wählt am Samstag ein geschwächtes Parlament, das »fast ausschließlich von Männern dominiert werden wird«, befürchten tunesische Aktivisten und warnen vor einer drastischen Verschlechterung der Frauenrechte unter einem zunehmend autoritären Präsidenten. Die umstrittenen Wahlen, die von allen großen Parteien boykottiert werden, sind der bislang letzte Akt des autoritären Umbaus, den Präsident Kais Saied im Juli 2021 begonnen hat, als er die Legislative aussetzte, was einige als Schwächung der islamistischen Ennahda-Partei begrüßten, andere jedoch als Machtergreifung bezeichneten.
Danach brachte Saied eine Verfassungsreform auf den Weg, die massivdie Rechte der demokratischen und legislativen Institutionen beschnitt bzw. zum Teil sogar außer Kraft setzte, die aber trotz Kritik im Vorfeld dennoch im Juli 2022 in einem Referendum angenommen wurde.
Nachdem Saied ein Wahlgesetz eingeführt hat, das keine der Bestimmungen zur Geschlechterparität mehr enthält, die Tunesien zuvor zu einem regionalen Vorreiter für die politische Vertretung von Frauen gemacht hatten, wird das neue Parlament nicht nur wenige Befugnisse haben, sondern auch kaum Frauen als Abgeordnete, warnen Aktivisten. Nur 122 weibliche Kandidaten, verglichen mit 936 Männern, wurden von der Wahlkommission zur Kandidatur zugelassen. Das bedeutet, dass die neue Kammer in Bezug auf die Repräsentation von Frauen komplett anders zusammengesetzt wird als die im Jahr 2014 gewählte, in der fast ein Drittel der Frauen als Abgeordnete vertreten war.
Gegner des neuen Wahlgesetzes weisen darauf hin, es sehe nicht nur die Abschaffung der Vorschrift vor, dass Kandidatenlisten paritätisch mit Personen beider Geschlechter besetzt sein müssen, sondern stelle auch zusätzliche Anforderungen, die Frauen, die kandidieren wollen, unverhältnismäßig stark benachteiligen und zu ihrem Ausschluss beigetragen haben. »Das tunesische Parlament war einst ein Musterbeispiel für Geschlechtergerechtigkeit in der Region. Mit diesen neuen Gesetzesänderungen könnte das bald der Vergangenheit angehören«, schrieb etwa die Tunesien-Direktorin von Human Rights Watch, Salsabil Chellali.
Erschwerte Bedingungen
Obwohl Kritikerinnen auch die im alten Wahlgesetz verankerte Verpflichtung zur Geschlechterparität als Feigenblatt bezeichneten, war sie doch einer der größten Erfolge für die Frauenrechte nach der Revolution des Arabischen Frühling im Jahr 2011. Was als Anforderung für das Parlament begann, wurde 2017 durch eine Änderung dahingehend erweitert, dass auch von Parteien, die an den Kommunalwahlen teilnehmen, verlangt wurde, die Hälfte ihrer Kandidatenlisten mit Frauen zu besetzen. Laut Chellali führte dies dazu, dass nach den Wahlen 2018 47 Prozent der Stadtratsmitglieder Frauen waren.
Das neue Gesetz, in dem keine Geschlechterparität mehr gefordert wird, verlangt außerdem, dass potenzielle Kandidaten vierhundert Unterschriften von registrierten Wählern aus ihren Wahlkreisen vorlegen und ihren Wahlkampf privat finanzieren müssen. Beides benachteilige Frauen, die nicht »über die gleichen mächtigen lokalen Netzwerke zur Unterstützung ihrer Kandidatur verfügen« und nicht »die gleichen finanziellen Mittel haben wie ihre männlichen Kollegen«, schrieb Chellali.
Saieds Unterstützer weisen diese Vorwürfe zurück und verweisen darauf, dass es der Präsident war, der im vergangenen Jahr die erste weibliche Premierministerin eines arabischen Landes ernannt hat, nämlich die ehemalige Beamtin und Geologie-Ingenieurin Najla Bouden. Boudens öffentliche Auftritte waren jedoch spärlich und Kritiker erklärten, damit Recht behalten zu haben, sie als bloße Funktionärin des Präsidenten zu charakterisieren. Darüber hinaus hat Saied seine Unterstützung für die islamischen Erbschaftsgesetze des Landes bekräftigt, die Männer bevorzugen, während sein Vorgänger Beji Caid Essebsi einen progressiveren Ansatz verfolgte.
»Seit der Wahl Saieds gibt es keine Fortschritte mehr bei der Durchsetzung der Frauenrechte«, stellt Kenza Ben Azouz von Human Rights Watch fest. Selbst wenn der politische Wille vorhanden wäre, fügt sie hinzu, habe die fast achtzehnmonatige Suspendierung des Parlaments durch den Präsidenten jeden praktischen Fortschritt wie etwa die Unterzeichnung der Istanbuler Konvention über Gewalt gegen Frauen verhindert.