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Tunesien: Neue Verfassung per Referendum verabschiedet

Auszählung der Stimmen beim Verfassungsreferendum in Tunesien. (© imago images/ZUMA Wire)
Auszählung der Stimmen beim Verfassungsreferendum in Tunesien. (© imago images/ZUMA Wire)

In Tunesien stimmte eine große Mehrheit für die neue Verfassung, aber nicht einmal ein Drittel der Menschen nahm an dem Referendum teil.

Dass die neue tunesische Verfassung massiv die Rechte der demokratischen und legislativen Institutionen beschneidet bzw. zum Teil sogar außer Kraft setzt, scheint die große Mehrheit jener 28 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung, die über das Referendum abstimmten, nicht übermäßig gestört zu haben. Von den rund neun Millionen Wahlberechtigten folgten laut amtlicher Wahlkommission nur ca. 2,5 Millionen dem Abstimmungsaufruf. Die beiden restlichen Drittel blieben zu Hause, weil sie entweder Gegner von Saied sind, resigniert haben oder sich nicht für Politik interessieren. Nur so lässt sich erklären, dass satte 92,3 Prozent der abgegebenen Stimmen den Verfassungsentwurf befürworteten.

Als die Bevölkerung im Jahr 2011 nach seiner langen Herrschaft endgültig genug von Diktator Zine el-Abidine Ben Ali hatte und ihn aus dem Land jagte, blühte Tunesien im Zuge des sogenannten Arabischen Frühlings für einige Jahre auf. Westliche Politiker und Kommentatoren sahen das bei Deutschen und Österreichern beliebte Urlaubsland als Modellfall für eine demokratische Zukunft in Nordafrika und im Nahen Osten, die Bevölkerungen etlicher arabischer Länder orientierten sich an dem neuen demokratischen Wind, der von Tunesien Richtung Osten wehte.

Als der Verfassungsjurist Kais Saied 2019 zum Präsidenten gewählt wurde, war die Euphorie über die Entwicklung aber schon längst verflogen. Tunesien war keine Diktatur mehr wie unter Ben Ali, aber die massiven Probleme des Landes, darunter Korruption, Misswirtschaft und Arbeitslosigkeit, sind im Laufe der Jahre kaum kleiner geworden. Und die Corona-Pandemie brachte nicht nur, wie in vielen anderen Ländern auch, die eklatanten Schwächen des staatlichen Gesundheitssystems und -managements zum Vorschein, mit ihr brach auch die wirtschaftlich so wichtige Tourismusbranche, die zuvor schon von einigen Terroranschlägen erschüttert worden war, völlig zusammen.

Umbau des Staates

Politisch hatte sich die islamistische Ennahda-Partei, die einst Nutznießer des demokratischen Umsturzes gewesen war, in den Augen vieler Tunesier nachhaltig entzaubert. Auch deshalb wurde die Entmachtung der Regierung und des Parlaments im Sommer 2021 durch Präsident Kais Saied anfänglich mit einiger Sympathie betrachtet. Rasch wurde aber klar, dass er keineswegs beabsichtigte, zur politischen Ordnung vor seinem Staatsstreich von oben zurückzukehren. Der von ihm angestrebte Umbau des Staates wird mit dem von ihm vorgelegten Verfassungsentwurf, der ihm weitreichende Befugnisse in allen politischen Belangen einräumt, vorerst abgeschlossen.

Die nun angenommene neue Verfassung geht sogar so weit, dass der Präsident ohne Abhaltung von Wahlen seine eigene Amtszeit unbestimmt verlängern kann. Weiters wird ihm das Recht eingeräumt, Regierungsmitglieder künftig ohne parlamentarische Beteiligung zu ernennen bzw. zu entlassen. Saieds eigener Entwurf ermöglicht es ihm auch, von ihm formulierte Gesetzestexte einzubringen – und im Alleingang zu billigen.

Tiefe Resignation

Vor allem die geringe Wahlbeteiligung sagt einiges über die Resignation im Land aus. Viele Tunesier blieben dem Referendum fern, weil sie ihm keine Legitimität verleihen wollten, mehrere Oppositionsparteien hatten zum Boykott der Abstimmung aufgerufen. Es mehren sich die Stimmen, die in Saied bereits den nächsten Ben Ali sehen.

Immer noch gibt es aber auch jene, die dem Präsidenten dankbar sind, weil er die islamistische Ennahda-Partei entmachtet hat, und die in ihm die einzige Person sehen, die das Land auf einen besseren Kurs führen könne. Eine Wählerin, die für den Verfassungsentwurf stimmte, hat keine Angst vor Saied als dem neuen Diktator. Und sollte er sich doch noch als solcher erweisen, »dann vertreiben wir ihn halt. Er wäre ja nicht der Erste«, zitierte sie der Standard. Sie rief damit in Erinnerung, dass das Tunesien von 2022 nicht mehr das Land aus der Zeit vor dem Arabischen Frühling ist.

Unterdessen stimmen viele Tunesier gewissermaßen mit den Füßen über den Zustand ihres Landes ab: Die Zahl derer, die versuchen, irgendwie über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen, nimmt stetig zu.

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