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Ehemaliger Moskauer Oberrabbiner als ausländischer Agent eingestuft

Rabbi Pinchas Goldschmidt bei einer Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Reichspogromnacht in der Beth Zion Synagoge in Berlin
Rabbi Pinchas Goldschmidt bei Gedenkveranstaltung zum 75. Jahrestag der Reichspogromnacht in Berlin (© Imago Images / CommonLens)

Dreißig Jahre lang war Pinchas Goldschmidt Moskaus oberster Rabbiner. Nach seinem Gang ins Exil wird er nun von der russischen Regierung als feindliche Bedrohung bezeichnet.

Pinchas Goldschmidt, ehemaliger Oberrabbiner von Moskau, verließ vor etwas mehr als einem Jahr aus Protest gegen den Einmarsch in die Ukraine sein Heimatland, das ihn nun als »ausländischen Agenten« eingestuft hat. Als er ins Exil ging, hatte der Rabbiner die russischen Juden dazu aufgerufen, das Land zu verlassen und davor gewarnt, zu Sündenböcken für das Leid und die Not erklärt zu werden, die der tobende Krieg mit sich bringt.

Goldschmidt war eine von mehreren Personen, die – neben Organisationen – am Freitag vom russischen Justizministerium auf die Liste der ausländischen Agenten gesetzt wurden. Diese Einstufung bringt zusätzliche staatliche Kontrollen mit sich und ist in Russland mit einer starken pejorativen Konnotation behaftet. Die Behörden haben das entsprechende Gesetz immer wieder genutzt, um abweichende Meinungen zu unterdrücken und Personen auf die Liste zu setzen, um sie zu diskreditieren.

Goldschmidt verließ Moskau im März 2022, zwei Wochen nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine, da er sich geweigert hatte, den Krieg zu unterstützen, und trat einige Monate später auch als Rabbiner zurück, nachdem er rund dreißig Jahre lang als Oberrabbiner von Moskau gedient hatte.

»Die Gemeindeleiter wurden unter Druck gesetzt, den Krieg zu unterstützen, und ich habe mich geweigert«, sagte er im Dezember der britischen Tageszeitung The Guardian. »Ich bin zurückgetreten, weil eine Fortsetzung meiner Tätigkeit als Moskauer Oberrabbiner wegen der repressiven Maßnahmen gegen Andersdenkende ein Problem für die Gemeinde darstellen würde.«

Das russische Justizministerium erklärte laute einem Bericht von Interfax, Goldschmidt sei auf die Liste gesetzt worden, weil er »falsche Informationen über die Entscheidungen der Behörden der Russischen Föderation und ihre Politik« verbreitet habe und er sich gegen die »spezielle Militäroperation« in der Ukraine – der Begriff, mit dem Russland seinen Krieg bezeichnet – ausgesprochen habe.

Auf der richtigen Seite

Goldschmidt, der seit 2011 an der Spitze der Europäischen Rabbinerkonferenz steht, sagte in einer von den israelischen Zeitungen Maariv und Ynet zitierten Antwort, er sei »stolz darauf, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen und sich in die Liste der Menschen einzureihen, die sich diesem schrecklichen Krieg widersetzen, der Hunderttausende das Leben gekostet hat.« Dies sei das erste Mal seit Beginn dieses Kriegs, »dass ein religiöser Führer zum ausländischen Agenten erklärt und von der russischen Regierung als feindliche Bedrohung bezeichnet wird«, wurde er zitiert. »Es ist sehr wahrscheinlich, dass dies den Beginn einer neuen antisemitischen Kampagne gegen die jüdische Gemeinschaft in Russland bedeutet. Ich habe die lokale jüdische Gemeinde bereits aufgefordert, das Land zu verlassen, bevor es zu spät ist.« Goldschmidt sagte weiter, er habe sich dreißig Jahre lang »um die jüdische Gemeinde Moskaus gekümmert und sie geschützt, und keine Entscheidung wird mich daran hindern, dies weiterhin zu tun«.

In seinem Interview mit dem Guardian im Dezember warnte Goldschmidt, wenn man »auf die russische Geschichte zurückblickt, hat die Regierung immer dann, wenn das politische System in Gefahr war, versucht, die Wut und Unzufriedenheit der Massen auf die jüdische Gemeinde zu lenken«.

Dies habe man während der Zarenzeit und gegen Ende des stalinistischen Regimes gesehen und könne es auch heute sehen: »Wir bemerken einen zunehmenden Antisemitismus, während Russland zu einer neuen Art von Sowjetunion zurückkehrt und der Eiserne Vorhang Schritt für Schritt wieder fällt. Deshalb glaube ich, dass die beste Option für russische Juden darin besteht, das Land zu verlassen«, sagte er damals.

Bereits im vergangenen Oktober ermutigte Goldschmidt russische Juden zur Emigration, nachdem ein Moskauer Beamter die chassidische Gruppierung Chabad als »suprematistische Sekte« bezeichnet hatte. Seit Juli 2022 befinden sich Russland und Israel in einem Rechtsstreit über Moskaus Versuche, den russischen Zweig der Jewish Agency zu schließen, einer halb-staatlichen Organisation, welche die Einwanderung von Juden nach Israel fördert.

Laut Goldschmidt haben seit Beginn der Invasion im März 2022 25 bis 30 Prozent der russischen Juden das Land verlassen oder planen, dies zu tun. Andere Rabbiner in Russland, darunter der Oberrabbiner des Landes, Berel Lazar, und sein oberster Sprecher Boruch Gorin, sind vor Ort geblieben, nachdem sie ihre Besorgnis über den Krieg zum Ausdruck gebracht hatten.

Lazar und Gorin gehören einer chabadnahen Gruppe an, der Föderation der jüdischen Gemeinden Russlands, die seit Langem enge Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin unterhält. Die Gruppe erlangte in den frühen 2000er Jahren die Vorherrschaft über alle anderen jüdischen Organisationen in Russland, wobei sie von Moskau unterstützt und finanziert wird. Der in der Schweiz geborene Goldschmidt hingegen ist kein Mitglied der chassidischen Gruppierung, und sein Verhältnis zu den russischen Behörden war immer ein schwieriges.

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