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Völkerrecht Israels: Uti possidetis juris (5/9)

Yitzhak Rabin (li.), David Ben-Gurion (mi.) und Yigal Allon (re.) während des Unabhägigkeitskrieges
Yitzhak Rabin (li.), David Ben-Gurion (mi.) und Yigal Allon (re.) während des Unabhägigkeitskrieges (Quelle: Flickr / CC BY-SA 3.0)

Jordanien hat gemäß den Ausführungen aus Teil 4 der Reihe keinen legitimen Anspruch auf die heute als Westbank bekannten Gebiete. Woraus aber ergibt sich völkerrechtlich gesehen solch ein Anspruch?

Als im 19. Jahrhundert immer mehr von Kolonialmächten beherrschte Gebiete Unabhängigkeit erlangten, stellte sich die Frage nach den Grenzen der neuen Staaten. Dazu wurde auf einen Grundsatz zurückgegriffen: uti possidetis juris (“wie ihr besitzt, so sollt ihr besitzen”).

Grundsatz des Völkerrechts

Um künftige Grenzstreitigkeiten zu vermeiden und blutigen Kriegen vorzubeugen, wurde das Hauptaugenmerk auf die Stabilität von Grenzen gelegt, deren Verlauf außer Streit gestellt wurde. „Uti possidetis bedeutet“, in den Worten eines Völkerrechtlers,

„dass die alten internen verwaltungsrechtlichen Grenzen innerhalb der Kolonien oder die staatsrechtlichen Grenzen innerhalb von Bundesstaaten im Augenblick der Unabhängigkeit oder des Zerfalls des Bundesstaats zu völkerrechtlichen Grenzen umgedeutet werden.“

Der Grundsatz ist Teil des Völkergewohnheitsrechts geworden, wurde er seit dem 19. Jahrhundert doch praktisch überall auf der Welt angewandt:

Uti possidetis juris hat die Grenzen von Staaten im Prozess der Entkolonialisierung in Lateinamerika (z. B. El Salvador, Honduras, Nicaragua, Argentinien, Chile und Brasilien), Afrika (z.B. Benin, Nigeria, Mali, Burkina Faso, Togo, Ghana, Kamerun, Namibia, Uganda, Ruanda, Burundi, Eritrea, Äthiopien, Tunesien und Libyen), Asien (z. B. Kambodscha/Thailand) und in der pazifischen Region (z. B. Neu-Guinea, Samoa, Nauru und Ost-Timor) bestimmt.“

Nach genau demselben Prinzip wurden auch die Grenzen der Nachfolgestaaten der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens festgelegt: die Grenzen der Ukraine etwa waren die der vorherigen sowjetischen Unionsrepublik Ukraine, die Grenzen Kroatiens diejenigen der ehemaligen Teilrepublik Kroatien usw. Würden Bayern und die Bundesrepublik Deutschland irgendwann getrennte Wege gehen, so wäre klar, wo die künftigen Grenzen verlaufen würden: Sollten die beteiligten Parteien nichts anderes vereinbaren, würden sie genau den Grenzen des heutigen Freistaats Bayern entsprechen.

Stichtag für die Festlegung der Grenze ist jeweils der Tag der Unabhängigkeit. Der Internationale Gerichtshof wählte in einer Entscheidung über Grenzstreitigkeiten zwischen Burkina Faso und Mali dafür das Bild eines Schnappschusses: Zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit wird quasi ein Foto geschossen, das die rechtliche territoriale Lage abbildet und die darauf zu sehenden Grenzen einfriert.

Auch im Nahen Osten wurde der Grundsatz uti possidetis juris bei der Grenzziehung angewandt: Als Syrien 1946 unabhängig wurde, waren seine Grenzen diejenigen des französischen Mandatsgebiets Syrien; als der Irak 1932 in die Unabhängigkeit entlassen wurde, entsprachen seine Grenzen denen des britischen Mandats Mesopotamien usw.

Dafür spielte auch keine Rolle, dass manche Gebiete höchst umstritten waren, wie die Provinz Hatay zwischen der Türkei und dem späteren Syrien oder die Stadt Mossul zwischen der Türkei und dem späteren Irak. Entscheidend waren einzig und allein die Grenzen zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit Syriens bzw. des Irak:

„Ein neuer Staat entsteht innerhalb der bisherigen Grenzen“.

Ein weiterer Punkt ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung: In der modernen Auslegung des Prinzips uti possidetis juris werden die Grenzen neuer Staaten auf Basis der staatlichen oder administrativen Grenzen der Vorgängerentität festgelegt. Dabei ist unerheblich, ob der neue Staat zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit das gesamte Gebiet auch tatsächlich physisch unter Kontrolle hat: Abgebildet werden die rechtlichen Ansprüche, nicht die Machtverhältnisse vor Ort.

Grenzen Israels nach 1948

Der Unabhängigkeitskrieg 1948/49
Der Unabhängigkeitskrieg 1948/49 (Quelle: State of Israel, Ministry of Foreign Affairs)

Betrachtet man die Gründung Israels vor dem Hintergrund des Prinzips uti possidetis juris, so ergibt sich ein klares Bild: Das Mandat hatte den Auftrag, in Palästina eine nationale Heimstätte für die Juden zu errichten. Zum Zeitpunkt der Gründung Israels im Mai 1948 waren die Grenzen des Mandatsgebiets unstrittig (Jordanien war bereits 1946 unabhängig geworden und gehörte nicht mehr dazu). Es hatte Pläne zur Aufteilung des Gebiets gegeben, darunter den Teilungsvorschlag der Vereinten Nationen.

Hätte die arabische Seite einer Teilung zugestimmt, wie die jüdische Seite es getan hatte, und hätte man sich auf Grenzen einigen können, dann hätte das Mandat Palästina zwei neue Staaten hervorgebracht. Aber nicht zuletzt aufgrund der kriegerischen Verweigerungshaltung der arabischen Seite konnte keiner dieser Pläne umgesetzt werden – die Grenzen des Mandats blieben unverändert.

Mit seiner Gründung trat der jüdische Staat die Nachfolge des Mandats an. Gemäß dem Prinzip uti possidetis juris waren die Grenzen Israels daher diejenigen des Mandats Palästina. Für diesen rechtlichen Befund spielt es keine Rolle, dass Israel noch am Tag der Unabhängigkeit von fünf arabischen Armeen attackiert wurde und nur Kontrolle über einen Teil des gesamten Mandatsgebiets hatte.

Aus der arabischen militärischen Aggression erwuchs kein legitimer Souveränitätsanspruch. Sie hatte ebenso wenig Auswirkungen auf die rechtlichen Grenzen Israels wie die Waffenstillstandsabkommen, die am Ende des israelischen Unabhängigkeitskrieges mit Ägypten, Jordanien, Syrien und dem Libanon geschlossen wurden. Denn die arabischen Staaten bestanden explizit darauf, dass es sich bei den darin festgehaltenen Waffenstillstandslinien – darunter die Grüne Linie zum jordanisch besetzten Westjordanland – nicht um anerkannte Grenzen handelte, da das eine Anerkennung Israels impliziert hätte.

Nichts spricht dafür, dass der Fall des britischen Mandats über Palästina so gänzlich anders gelagert gewesen wäre als all die anderen Fälle und deshalb hier das Prinzip uti possidetis juris nicht angewendet werden könnte.

Das Palästinamandat war zwar wegen dem expliziten Auftrag zu Errichtung einer nationalen Heimstätte für die Juden außergewöhnlich, aber selbst im Vergleich zu den anderen Mandaten im Nahen Osten war es keineswegs das einzige, in dem mehrere Gruppen auf ein und demselben Territorium ihr Selbstbestimmungsrecht umsetzen wollten. Für die Frage der Grenzen ist das freilich irrelevant: Das Prinzip uti possidetis juris kümmert sich nicht um die politische oder moralische Berechtigung von Selbstbestimmungsansprüchen.

„Wenn im Jahre 1948 neben dem jüdischen auch ein arabisch-palästinensischer Staat Unabhängigkeit erlangt hätte, so hätte das zweifelsohne die Anwendung von uti possidetis juris beeinflusst. (…) Aber trotz des potenziellen Anspruchs auf Selbstbestimmung der arabischen Bevölkerung Palästinas ist 1948 nur ein Staat geboren worden. Als das Mandat endete, hat der Staat Israel Unabhängigkeit erlangt, und kein anderer.“

Der Blick auf die weitere historische Entwicklung zeigt, dass der Grundsatz tatsächlich sehr wohl auch Verwendung fand: In den Friedensverträgen zwischen Israel und seinen Nachbarn Ägypten bzw. Jordanien wurden, von vereinbarten Änderungen abgesehen, genau die Mandatsgrenzen von 1948 als internationale Grenzen definiert – nur Wenigen dürfte bekannt sein, dass die international anerkannte Grenze zwischen Israel und Jordanien entlang des Jordantals verläuft – an der Ostgrenze des laut internationaler Gemeinschaft von Israel „besetzten“ Westjordanlandes.

Die Grenzen, die gemäß dem Grundsatz uti possidetis juris definiert wurden, sind allerdings keineswegs in Stein gemeißelt und für alle Ewigkeit unveränderbar. Sollten Israel und die palästinensische Führung sich dereinst auf einen Friedensvertrag einigen können, so wird dieser sicherlich Vereinbarungen über den Verlauf der künftigen Grenzen beinhalten. Nach dem Völkergewohnheitsrecht umfasst der legitime territoriale Souveränitätsanspruch Israels bis dahin aber das gesamte ehemalige Mandatsgebiet Palästina.

Inhaltsverzeichnis: 

Israels Grenzen: Zur Grenzfrage im arabisch-israelischen Konflikt (1/9)
Die Resolution 242 

Bedingungen für sichere & anerkannte Grenzen Israels (2/9)
Der einseitige Rückzug ist gescheitert

Friedensprozess in Israel (3/9)
Rabins Vermächtnis

Israelische Besetzung und Souveränität Palästinas (4/9)
Wer ist der legitime Souverän?

Selbstbestimmungsrecht der Völker in Israel (6/9
Probleme und Bedingungen

Illegale Siedlungen Israels und Genfer Konvention (7/9)
Die IV. Genfer Konvention

Siedlungen in “besetzten” Gebieten weltweit (8/9)
Völkerrechtlich vergleichbare Fälle

Israels Souveränität und Völkerrecht: Fazit (9/9)
Internationale Praxis

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