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Israels arabische Bürger (Teil 3): Erschütterte Identitäten

Ra’am-Parteiführer Mansour Abbas lässt keine antiisraelischen Äußerungen in seiner Fraktion zu
Ra’am-Parteiführer Mansour Abbas lässt keine antiisraelischen Äußerungen in seiner Fraktion zu (Imago Images / UPI Photo)

Je mehr Zeit verstreicht, desto mehr Spannung baut sich zwischen der jüdischen Mehrheitsgesellschaft Israels und der arabischen Minderheit des Landes auf. Das ist nicht neu und doch scheint dieses Mal vieles anders.

Vor wenigen Tagen beging Israel erste Gedenkveranstaltungen: Die »Shloshim« begeht man eigentlich am dreißigsten Tag nach der Beerdigung, die im Judentum binnen vierundzwanzig Stunden nach dem Tod zu erfolgen hat. Die meisten Menschen, die von den Hamas-Terroristen in den Kibbuzim und Dörfern sowie in weiter landeinwärts liegenden Städten ermordet worden waren, konnten jedoch erst viele Tage, manchmal sogar erst Wochen später beigesetzt werden. Und nicht nur das: Selbst diese Woche noch, einen Monat nach dem Pogrom, fanden Experten in vollkommen verkohlten Häusern mehrerer Kibbuzim noch zehn weitere Leichen. Der Horror scheint kein Ende zu nehmen.

»Wir haben es immer gewusst …«

In diese Atmosphäre platzte ein TV-Interview mit einer der arabischen Knesset-Abgeordneten. Iman Khatib-Yasin, eine 59-jährige studierte Muslima und vierfache Mutter aus Israels Norden, ist seit März 2020 Abgeordnete im israelischen Parlament. Sie ist gegenwärtig eine von fünf Parlamentariern der mit der Islamischen Bewegung Israel-Süd affiliierten Ra‘am-Partei. Diese Partei schrieb 2021/2022 israelische Parlamentsgeschichte, als sie unter der Leitung von Mansour Abbas zur ersten arabischen Partei in der israelischen Politik wurde, die sich stützend an die Seite einer Koalition stellte und sich an Regierungsentscheidungen beteiligte.

Im Studio des Knesset-TV-Kanals sitzend, meinte Khatib-Yasin: »Sie haben keine Babys abgeschlachtet und keine Frauen vergewaltigt, zumindest nicht im Filmmaterial.« Während sie zugibt, den von Israels Regierung zusammengestellten, fast fünfzigminütigen Film, der Aufnahmen von Sicherheitskameras und Bodycams der Terroristen umfasst, gar nicht gesehen zu haben – sie habe sich dazu nicht durchringen können –, fuhr sie fort: »Wäre es passiert, wäre es beschämend«, aber wäre es tatsächlich passiert, so meinte sie, dann würde es schließlich auch im Filmmaterial vorkommen.

Zwar führte sie aus, das Ermorden von Frauen und Kindern widerspreche den Prinzipien des Islam, zugleich gab sie jedoch zum Besten, was viele andere, darunter längst nicht nur Königin Rania von Jordanien, sondern etwa auch UNO-Generalsekretär António Guterres vor ihr getan hatten: Sie kontextualisierte das Blutbad, indem sie festhielt: »Wir können nicht ignorieren, was zuvor geschah oder was danach kam.« Als ihr klar wurde, was sie da ausgeführt hatte, fügte sie hastig hinzu, dass nichts die Bluttaten der Hamas rechtfertige. Durch die jüdische Gesellschaft Israels ging ein Raunen: Da war sie wieder, diese Angst vor der »fünften Kolonne«.

Gradliniger Mansour Abbas

Die Abgeordnete seiner Partei hatte dieses Interview kaum beendet, da meldete sich Ra‘am-Vorsitzender Mansour Abbas zu Wort. Er sei schockiert über ihre Äußerungen und sagte klipp und klar: »Es gibt und wird in unseren Reihen keinen Platz für jemanden geben, der die Schwere der Handlungen, die unsere Werte und auch die Religion des Islam negiert, leugnet oder herunterspielt.« Abbas forderte Khatib-Yassin zum Rücktritt auf. Dass sie es bei einer Entschuldigung beließ, veranlasste den Parteivorsitzenden, den juristischen Ausschuss der Knesset zu konsultieren, um Sanktionsmöglichkeiten gegen die Abgeordnete seiner Fraktion zu eruieren.

Mansour Abbas verurteilte bereits am 7. Oktober in einem Radiointerview die Hamas-Attacke. Er gehörte auch zu den rund fünfzig Knesset-Mitgliedern, die sich besagten Film anschauten. Im Anschluss an die Vorführung von Reporten nach einer Reaktion befragt, meinte Abbas mit gebrochener Stimme, er bekäme kein Wort heraus.

Zwar gehört Mansour Abbas nicht zu jenen Abgeordneten aus den Reihen sowohl der Koalition als auch der Opposition, die ein Knesset-Ausschlussverfahren gegen Khatib-Yasin einleiteten, doch wenn er seinen präzedenzlosen Weg weiterhin so gradlinig wie bisher fortsetzt, könnte er durchaus zu jenen Abgeordneten gehören, die einem Ausschluss zustimmen werden. Sollte das der Fall sein, wäre Abbas in Israels Geschichte der erste Parteivorsitzende, der den Ausschluss einer eigenen Abgeordneten befürwortet.

Grüne Fahne wird zum roten Tuch

Als Mansour Abbas aus der Wahl 2021 als eigentlicher Wahlsieger hervorging, weil seine Partei durch die Mandatsverteilung die Rolle des Königsmachers zufiel, nahm ganz Israel bei seiner ersten öffentlichen Rede vor allem die ihn einrahmenden grünen Fahnen wahr; jener Grünton, den man von Fahnen und Emblemen der 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft und seit 1987 von der Hamas kennt, die der radikal-islamischen Bewegung des sunnitischen Islams entsprang. Für Israel kündet dies nicht nur von Antisemitismus und Israel-Feindschaft, sondern von der Mission, Juden zu töten und Israel zu eliminieren.

In den vergangenen Wochen fanden sich arabische Bürger Israels vermehrt in Verhörzimmern der Polizei wieder, andere verloren sogar ohne Untersuchungen ihren Arbeitsplatz. Zu ihnen gehört Abed Samara, Direktor der kardiologischen Intensivstation des Sharon-Krankenhauses in Netanya. Die Krankenhausleitung veranlasste das israelische Gesundheitsministerium, ihn wegen des Profilbildes seines Social-Media-Accounts zu suspendieren: eine grüne Fahne mit dem Slogan »Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist der Prophet«. Dass man im Profilbild zudem eine Taube mit Olivenzweig entdecken kann und das Foto seit 2022 online steht, stimmte die Entscheidungsträger einstweilen nicht um.

Dass es Fälle gibt, in denen zu Recht ermittelt wird, steht außer Frage. Doch Bürgerrechtsvereinigungen berichten über sehr viel mehr Fälle als sonst in Zeiten, in denen die Waffen sprechen. Rechtsanwälte und NGO gaben zudem an, die Zahl der grundlosen behördlichen Schikane sei in die Höhe geschnellt, was die israelische Tageszeitung Haaretz bereits dazu veranlasste, von einer »systematischen Hexenjagd« zu sprechen.

Zerrissenheit

Andere israelische Medien berichten vom Dilemma der arabischen Bürger Israels. Sie betonen, dass Israels Araber nicht nur Empathie für die jüdischen Opfer gezeigt, sondern selbst Opfer des Hamas-Terrors zu beklagen haben und sich in die Bemühungen der Zivilgesellschaft, die Not von Betroffenen zu lindern, einreihen. In solchen Berichten wird der israelischen Öffentlichkeit auch nähergebracht, dass Angehörige der arabischen Minderheit des Landes Angst vor Übergriffen jüdischer Bürger haben, sprich, nicht nur jüdische Bürger ein erschüttertes Sicherheitsgefühl befallen hat.

Daneben wird hie und da auch erwähnt, dass die Herzen der arabischen Israelis auch zu den palästinensischen Opfern wandern. Das palästinensische Attribut ist Teil ihrer Identität, der zwar nicht zwangsläufig als eine politische Identifizierung zu verstehen ist, aber zumindest als kulturelle und ethnische Verbundenheit stiftend anerkannt und auch respektiert werden muss. Vergessen sollte man zudem niemals: Nicht wenige arabische Bürger des Staates Israel haben Verwandte im Westjordanland und im Gazastreifen. Israel schließt arabische Bürger vom obligatorischen Dienst an der Waffe nicht ausschließlich wegen Loyalitätsbedenken aus. Sie könnten im Fall des Falles nämlich auch damit konfrontiert sein, auf Verwandte schießen zu müssen.

Spricht die arabische Bevölkerung des Landes über die zivilen Opfer im Gazastreifen, so nimmt das jüdische Israel zugleich sehr deutlich wahr: Unerwähnt bleibt dabei durchgängig, dass sich die Hamas-Terroristen hinter Zivilisten verstecken, sie ihre eigenen Brüder und Schwestern als menschliche Schutzschilde missbrauchen.

Und doch …

Israel blickt nur allzu gerne auf Aktivisten wie Yoseph Haddad, der sich als muslimisch-arabischer Bürger für einen Dienst in einer kämpfenden Elitetruppe der israelischen Armee entschied und seitdem für den jüdischen Staat lobbyiert. Wahrgenommen wurde auch der Blogger Nuseir Yassin, als er kurz nach dem Pogrom erklärte: Als Zwölfjähriger habe er, dessen Familie sich vom Wort Israel distanziert, beschlossen, einen Mix aus seinen Identitätsmerkmalen zu machen. Palästinenser an erster Stelle, Israeli an zweiter. »Ich liebe Palästina, doch es ist nicht mein Zuhause. Ich will nicht unter einer palästinensischen Regierung leben, was also heißt, mein Zuhause ist Israel, auch wenn es jüdisch ist … Der Schock hat mir vor Augen geführt, dass für Terroristen, die Israel bekämpfen, alle Bürger des Landes eine Zielscheibe sind.« Zwar schwinde seine palästinensische Identität nicht, auch wenn er ab nun, wie er resümiert, an erster Stelle Israeli und an zweiter Palästinenser sei.

In Israel sind rechtsradikale Stimmen des jüdischen Sektors salonfähig geworden. Mehr noch: Als Minister für nationale Sicherheit wurde Itamar Ben-Gvir von der Partei Jüdische Stärke mit Zuständigkeiten ausgestattet, die Ausrichtung der Polizei zu bestimmen, und er macht keinen Hehl daraus, seine rassistische Ideologie dabei einzubringen. Er und andere propagieren, die Araber als Bevölkerungsgruppe auszugrenzen, weil sie Araber sind. Zugleich sind er und seine ideologischen Mitstreiter unter den ersten, die Zeter und Mordio schreien, wenn Antisemiten mit Verallgemeinerungen und Unwahrheiten über Israelis aufwarten, weil sie Juden sind.

In dieser Zeit braucht Israel nicht nur mehr öffentliche Stimmen wie die von Benny Gantz. Schade nur, dass er in dieser Situation die Worte zur »Schicksalsgemeinschaft« Israel erst nach dem Beinahe-Lynchmord an arabisch-israelischen Studenten in Netanya fand.

Nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten

Mansour Abbas ist eine beständige Erinnerung daran, dass Israels arabische Gemeinschaft seit einigen Jahren große Veränderungen durchlaufen hat. So wie dieser Bevölkerungssektor aus legitimen Gründen beginnt, Rechte einzuklagen, was zum Beispiel die Gleichstellung in einer Demokratie angeht, so wird sie nachholen müssen, dass damit auch Pflichten einhergehen. Beispielsweise kann für die fatale Lage infolge illegal kursierender Waffen nicht ausschließlich die jüdische Gesellschaft verantwortlich gemacht werden, sondern man wird anfangen müssen, sich zu fragen, was man selbst dazu beigetragen hat und wie man dagegen aktiv werden kann.

Der springende Punkt in der gegenwärtigen Lage ist jedoch noch ein ganz anderer, der in Israel schon wieder im Grollen der Waffen unterzugehen droht: Noch nie in der Geschichte das Staates Israel erklärten so viele Angehörige der arabischen Gesellschaft nicht nur in Meinungsumfragen ihre Hilfsbereitschaft (75 Prozent), sondern schritten auch zur Tat. Dass sage und schreibe 65 Prozent der arabischen Bürger Israels nach dem 7. Oktober angaben, das Recht des Staates Israel zu unterstützen, sich und seine Existenz zu verteidigen, ist nicht nur präzedenzlos, sondern wahrhaft ein Wendepunkt, den Israel nicht verspielen darf.

Teil 1 der Miniserie finden Sie hier, Teil 2 finden Sie hier.

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