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Hamas-Massaker: Sterben und Überleben in Be’eri

Zaka-Mitarbeiter sucht in Trümmern von Be'eri nach Überbleibseln von Leichen der Kibbuz-Bewohner
Zaka-Mitarbeiter sucht in Trümmern von Be'eri nach Überbleibseln von Leichen der Kibbuz-Bewohner (Imago Images / ABACAPRESS)

Der Kibbuz Be’eri trug beim Hamas-Angriff am 7. Oktober die schwersten Verluste. Eine Überlebende des Massakers berichtet von dem Tag, der Israel traumatisiert hat.

Gegen halb sieben am Morgen erwachte Adi Efrat zum Knall detonierender Raketen. Wie jedes Mal, wenn Israel von Gaza aus beschossen wurde, ging die 51-Jährige in ihren mit Stahlbeton verstärkten Schutzraum und verschloss die eisernen Fensterläden. Ihr fielen zwar die ungewöhnlich vielen Raketen auf, doch die meisten wurden von Israels Luftabwehrsystem abgefangen. Als nach einigen Minuten wieder Ruhe einkehrte, verließ sie den Schutzraum. »Ich dachte, das war’s und wollte zurück ins Bett«, erzählt Efrat im Interview mit Mena-Watch. Doch dann poppten auf ihrem Smartphone dutzende WhatsApp-Nachrichten auf. Etwas stimmte nicht. Wenige Minuten später hörte sie Schüsse auf der Straße, und unmittelbar darauf erhielt sie die Nachricht »Terroristen im Kibbuz!«

Das Massaker beginnt

Die ersten Hamas-Kämpfer erreichen Be’eri kurz vor sechs Uhr. Wie Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen, nähern sich zwei Männer in Kampfuniform mit Sturmgewehren dem gelben Eingangstor. Mit dem Kolben seines Gewehrs schlägt einer der beiden das Fenster des leeren Wachraums ein und öffnet das Tor zum Kibbuz.

Be’eri wurde 1946 gegründet, als die Region noch überwiegend von Arabern bewohnt war. Im Unabhängigkeitskrieg von 1948 wurden die Grenzen des neuen Staates Israel festgelegt. Be’eri war nun ein Grenzdorf in unmittelbarer Nähe zum Gazastreifen, den Ägypten im Zuge des Kriegs besetzt hatte.

Im arabisch-israelischen Krieg von 1967, dem Sechstagekrieg, besetzte Israel Gaza, 2005 zog es seine Truppen ab. Seitdem wird der Küstenstreifen von Palästinensern kontrolliert. Nachdem die Hamas im Jahr 2007 an die Macht kam und begann, Israel mit Raketen zu beschießen, stellten Israel und Ägypten Gaza unter eine Blockade. Seitdem ist Be’eri ein Frontdorf im Krieg zwischen der Hamas und Israel und der Raketenbeschuss aus Gaza wurde für die Bewohner des Kibbuz Alltag.

Warten auf die Armee

Mit ihrem Ehemann Avishai und ihrer Tochter Dvir, die in Be’eri, getrennt voneinander leben, kommunizierte Adi Efrat zur Zeit des Angriffs über WhatsApp. »Wir entschieden, uns unter allen Umständen leise zu verhalten«, erzählt sie. Kein Fernseher, kein Radio, keine Telefongespräche am. Um nicht von Kugeln getroffen zu werden, legten sie sich flach auf den Boden. »Jedes Mal, wenn ich Schüsse hörte, fragte ich meine Tochter, ob es ihr gut geht.« Ihrem Ehemann, von dem sie weiß, dass er eine Pistole besitzt, schrieb sie: » Versuche nicht, ein Held zu sein! Bleib im Schutzraum!«

Währenddessen konzentrierten die etwa 150 Hamas-Kämpfer in Kooperation mit anderen militanten Gruppen ihren Angriff auf den westlichen Teil des Dorfes, steckten systematisch Häuser in Brand, töteten viele der Bewohner und entführten andere.

Die örtlichen Sicherheitskräfte – eine Gruppe von Einwohnern, die ausgebildet wurden, um in Krisensituationen zu helfen – konnten dem wenig entgegensetzen; der Leiter des Sicherheitsteams kurz nach Beginn des Angriffs getötet. Die verbliebenen Freiwilligen zogen sich in die zahnärztliche Klinik zurück, von der aus sie der Hamas Widerstand leisteten, bis ihnen die Munition ausging.

Versteckt in ihrem Schutzraum, versuchte Efrat sich über WhatsApp ein Bild der Lage zu machen. Nachrichten verzweifelter Nachbarn fluteten die WhatsApp-Gruppe des Kibbuz. Sie schrieben, Terroristen versuchten, in den Schutzraum zu gelangen und baten um Hilfe. Immer wieder fragten die Bewohner, weshalb sie im Stich gelassen würden: »Wo ist die Armee?«, »Wo zur Hölle ist die Armee, wie kann es sein, dass die (Hamas) einfach so unseren Kibbutz einnimmt?« Die Leiterin des Notfalldienstes versuchte zu beruhigen: Die Streitkräfte seien informiert, textete sie, die Soldaten würden kommen und sie alle retten.

Gegen neun Uhr schrieb Efrats Ehemann: »Terroristen im Haus!«, dann kam nichts mehr. Inzwischen wurden die WhatsApp-Gruppen von immer mehr panischen Hilferufen dominiert und es wurde klar, dass im Kibbuz ein Massaker im Gang war. »Ich schloss alle Gruppen«, berichtet Efrat, »ich hielt es nicht mehr aus«.

Minuten später meldete sich ihr Ehemann zurück: Zwar war es ihm gelungen, die Tür zum Schutzraum von innen zuzuhalten, aber jetzt brannte sein Haus, er konnte den Rauch riechen und die Hitze spüren. Da die Türen der Schutzräume zwar feuerfest, aber nicht gegen Rauch isoliert sind, urinierte Avishai auf seine Kleidung und stopfte sie in den Spalt zwischen der Tür und dem Boden. »Wir flehten ihn an, im Schutzraum zu bleiben und nicht das Haus zu verlassen«, sagt Efrat, die überzeugt war, die Hamas würde ihren Mann dann erschießen: »Wir beteten, dass die Armee eintreffen möge, bevor mein Ehemann im brennenden Haus erstickt.«

Chaos

Die israelische Armee war vom Ausmaß des Hamas-Angriffs überrascht, die Reaktionen der Streitkräfte anfangs langsam und ineffektiv; wohl auch, weil das Hauptquartier der für den Süden Israels zuständigen Brigaden in Re’im bereits von der Hamas gestürmt worden war. In Ermangelung klarer Befehle griffen viele Einheiten auf TV-Nachrichten und Apps wie WhatsApp und Telegram zurück, um Informationen über jene Orte zu erhalten, die Hilfe benötigten. Der erste Truppeneinsatz erfolgte gegen dreiviertelacht Uhr, fast zwei Stunden nachdem die ersten Hamas-Kämpfer in den Kibbuz eingedrungen waren. Die erste Einheit, die Be’eri mit einem Hubschrauber erreichte, war eine kleine Gruppe von Spezialkräften, die versuchte, sich einen Weg durch den Kibbuz zu bahnen, zahlenmäßig aber stark unterlegen war und sich zurückziehen musste.

In der Zwischenzeit setzte die Hamas ihr Massaker fort, erschossen Bewohner in ihren Schlafzimmern, auf dem Bürgersteig und unter Bäumen. Immer mehr Häuser gingen in Flammen auf, während plündernde Zivilisten aus Gaza den Kibbuz durchstreiften, um Fernseher, Fahrräder, Motorräder und Traktoren zu stehlen, wie Videoaufnahmen belegen.

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Plünderer im eigenen Haus

Gegen dreizehn Uhr hörte Adi Efrat Gesprächsfetzen in arabischer Sprache zunächst vor ihrem Fenster, dann aus ihrem Wohnzimmer. »Ich hatte solche Angst«, erzählt sie. Die Tür des Schutzraums von innen festzuhalten versuchte sie erst gar nicht: »Gegen die Kraft von zwei Männern hätte ich nichts ausrichten können.«

Dann standen zwei Palästinenser in Zivil, an den Füßen Flip-Flops und in den Händen Kalaschnikows, vor ihr. Sie solle sich nicht sorgen, ihr würde nichts geschehen. »Ich fand es schwer, ihnen zu glauben«, erinnert sich Efrat. Die Männer nahmen ihr Bargeld und das Smartphone ab und verlangten den Schlüssel ihres Autos: Sie seien hier fertig und wollten weg.

Nervös versuchte Efrat ihnen zu erklären, im Kibbuz eine kollektive Lebensweise zu führen, weshalb sie kein eigenes Auto besitze, gab ihnen aber den Schlüssel zum Parkhaus und beschrieb den Weg. »Dort gibt es hunderte Autos«, sagte sie auf Arabisch. Die Plünderer bestanden auf Efrats Begleitung, der gerade genügend Zeit blieb, um eine Hose über den Pyjama überzuziehen. Dann packte sie einer der Plünderer bei der Hand und sie verließen das Haus: »Ich hatte fürchterliche Angst, nach Gaza verschleppt zu werden.«

Grauen ohne Ende

Als auf dem Weg zum Parkhaus Schüsse zu hören waren, packte Efrats Entführer die Angst, weshalb sie ihren Plan änderten, in die entgegengesetzte Richtung liefen und Efrat in den Garten eines Hauses brachten, wo ein Dutzend Hamas-Kämpfer versammelt war. »Sie trugen Uniformen und waren schwer bewaffnet«, schildert Efrat die Szene.

Einer der Männer fesselte mit einem Kabelbinder Efrats Hände hinter ihren Rücken und setzte sie neben die 97-jährige Hausbesitzerin und deren Pflegerin auf die Veranda. Die alte Frau stellte ständig Fragen. »Sie schien dement zu sein und vergaß, dass sie nicht sprechen durfte«, so Efrat. Erfolglos versuchte die Betreuerin, sie zu beruhigen, doch die betagte Frau redete immer weiter vor sich hin.

Dann hörte Efrat das laute Weinen eines Kindes. »Es klang so verängstigt«, sagt sie. Nach einigen Sekunden tauchte ein Terrorist auf, der ein etwa dreijähriges Kind am Arm festhielt und hinter sich herzog. Das Kind schrie nach seinem Vater. Efrat: »Noch nie habe ich ein so verängstigtes Gesicht gesehen.«

Bald darauf erschien ein weiterer Hamas-Kämpfer mit der Mutter, die eine Schusswunde im Unterleib hatte, und ihrem zweiten Kind, einem etwa sieben Jahre alten Jungen, beider Kleidung schmutzig von Rauch und Blut. »Sie haben meinen Ehemann und Mila erschossen«, beklagte die Frau. Efrat war schockiert: »Wer ist Mila?«, fragte sie. »Mein Baby«, antwortet die Frau. »Sie haben ihr in den Kopf geschossen.«

Irgendwann kollabierte die Mutter, lag im Gras, blutete und atmete schwer. »Ich glaube nicht, dass ich das überleben werde. Pass auf meine Kinder auf«, bat sie Efrat. Unmittelbar darauf hieß es von einem der Terroristen: »Du kommst mit uns!«. Ihre Hände wurden befreit und sie selbst von einer Gruppe Hamas-Kämpfer weggeführt. Später gerieten sie unter Beschuss. »Ich konnte nur Beine und Stiefel um mich herum sehen, weil wir alle ganz gebückt liefen«, berichtet Efrat. Die nächsten Stunden verbrachte sie in einer Garage, eingezwängt zwischen Terroristen, die sich Gefechte mit der israelischen Armee lieferten: »Ich hatte Angst, einer von ihnen könnte mich einfach erschießen.« Irgendwann entschieden die Terroristen, sich zurückzuziehen und ließen Efrat alleine in der Garage zurück.

Endlich gerettet

Endlich, gegen halb fünf am Nachmittag, wurde Efrat von Soldaten der israelischen Armee in Sicherheit gebracht. Es sollten weitere sechs Stunden vergehen, bis auch ihre Tochter gerettet wird. Ihr Ehemann harrte insgesamt zwanzig Stunden im verrauchten Schutzraum aus, bevor die israelischen Streitkräfte die Hamas aus seinem Viertel zurückdrängen konnten.

Wie Efrat später erfuhr, überlebten sowohl die Frau und deren beide Kindern als auch die alte Frau, doch deren Pflegerin wurde ermordet. Als die Armee gegen Ende des folgenden Tages den Kibbuz wieder unter ihre Kontrolle brachte, waren mindestens 97 Zivilisten, ein Zehntel der Einwohner von Be’eri, tot und fünfundzwanzig nach Gaza verschleppt.

Insgesamt ermordeten die rund dreitausend in den Süden Israels eingedrungenen Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023 etwa eintausendzweihundert Menschen. Sie verübten Kriegsverbrechen und Gräueltaten, darunter die Entführung von zweihundertvierzig Menschen, die Vergewaltigung von Frauen, die Verstümmelung von Zivilisten und das Niederbrennen von Häusern.

Als Reaktion auf den Terrorangriff erklärte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu der Hamas den Krieg. Auf tagelange Luftangriffe auf den dicht besiedelten Gazastreifen folgte eine Bodenoffensive zur Zerschlagung der Hamas, die bis heute andauert. In Gaza starben laut dem von der Hamas geführten Gesundheitsministerium bisher über 20.000 Menschen, unter ihnen laut israelischen Angaben rund achttausend Terroristen. Hunderttausende Menschen befinden sich nach israelischen Aufrufen, die Kampfzonen zu evakuieren, innerhalb Gazas auf der Flucht. In Israel selbst wurden durch das Massaker und die darauffolgenden Kämpfe offiziell rund 130.000 Menschen zu Binnenvertriebenen.

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