
„Wer schreibt in der arabischen Welt die Revolution fort? Es sind nicht die Islamisten, die in Gewalt und Extremismus befangen bleiben. Es sind auch nicht die alternden, nach dem Zusammenbruch ihrer nationalistischen Bewegungen diskreditierten linken Eliten. Auch die jungen Blogger, die an der Spitze der verschiedenen Aufstände des Arabischen Frühlings standen, sind es nicht. Sie werden behindert und mitunter kaltgestellt durch Einschüchterung und Zensur (in der gesamten Region), durch Polizeiüberwachung (in Algerien, Marokko und Saudi-Arabien), durch Haft (in Ägypten) oder durch den Tod (in Syrien). Die einzige Person, auf die diese harsche Einschätzung nicht zutrifft, ist ein Nordafrikaner fortgeschrittenen Alters, von Haus aus ein Anwalt und ein ehemaliger Kämpfer in der antikolonialen Bewegung: Béji Caïd Essebsi, der Präsident Tunesiens. Zur Zeit ist der gute arabische Revolutionär ein 90jähriges Staatsoberhaupt. (…) Der tunesische Präsident führt auch die Reformbewegung in der arabischen Welt an, indem er für die Gleichberechtigung muslimischer Frauen beim Erbrecht und ihr Recht, nicht-muslimische Ausländer zu heiraten, eintritt. (…)
Essebsis Erklärungen haben zudem den Vorteil, dass sie die Aufmerksamkeit auf das lenken, was in der arabischen Welt noch zu tun ist, um den Arabischen Frühling zu vollenden. Mit dem Sturz der Diktaturen ist es nicht getan. Nun muss auch das Patriarchat gestürzt werden. Es geht nicht nur darum, die Verfassungen zur revidieren oder die Amtszeiten der führenden Politiker zu begrenzen. Es müssen auch die Grundrechte durchgesetzt werden, und zwar in der Praxis und auf eine Art und Weise, die die Gleichberechtigung der Geschlechter realisiert. (…) Der alte tunesische Revolutionär hat so die Aufmerksamkeit auf einen der Mechanismen gelenkt, der die arabische Welt weiterhin behindert: Das Zusammenspiel bürgerlicher und religiöser Gesetzgebung. Letztere überschneidet sich mit der Ersteren, modifiziert sie und ändert ihre Intentionen auf offensichtliche wie auf verdeckte Weise. Vor diesem Hintergrund deuten Essebsis Positionen auf Möglichkeiten des Widerstands und der tiefgreifenden Reform hin. (…) Sein Standpunkt ist noch nicht in vollem Maße gewürdigt worden: Er ist revolutionär, ja kopernikanisch. Der tunesische Präsident hat die Gleichberechtigung der Frauen in der arabischen Welt verkündet – einem gesellschaftlichen Universum, in dem die Erde noch flach ist.“ (Kamel Daoud: „The Next Arab Spring? Women’s Rights“)