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EU-Flüchtlingspolitik: Zeit für das Eingeständnis des Scheiterns

Flüchtlingspolitik: Meloni und von der Leyen auf einer Pressekonferenz im italienischen Lampedusa
Flüchtlingspolitik: Meloni und von der Leyen auf einer Pressekonferenz in Lampedusa in Italien (© Imago Images / ZUMA Wire)

Die EU-Flüchtlingspolitik wartet in immer kürzeren Zeiträumen mit immer neuen Vorschlägen auf, die sich in immer schnelleren Abständen als dysfunktional erweisen.

Harsche Kritik an dem EU-Tunesien-Deal, der im Juli ein wenig überhastet mit dem autokratischen Präsidenten des nordafrikanischen Landes ausverhandelt wurde, kam nun nicht etwa nur von Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisationen, sondern ausgerechnet von Joseph Borrell, dem Außenbeauftragten der EU. In einer für die Institution sogar ungewöhnlich deutlichen Sprache meldete er sich solchermaßen zu Wort:

»Wie Sie wissen, haben mehrere Mitgliedstaaten im Juli ihr Unverständnis über das einseitige Vorgehen der Kommission beim Abschluss dieser [Absichtserklärung] und ihre Besorgnis über einige ihrer Inhalte zum Ausdruck gebracht.« In Borrells Meldung heißt es auch, die Außenminister hätten »festgestellt, dass die Kommission die ordnungsgemäßen Schritte des Annahmeverfahrens nicht eingehalten hat«, weswegen die Absichtserklärung »nicht als gültige Vorlage für künftige Abkommen angesehen werden kann«.

Der äußerst fragwürdige Deal, den damals die deutsche Innenministerin als »historisches Ereignis« feierte, war ohne vorhergegangene Konsultationen mit Tunesien und anderen europäischen Partnern von Italien, den Niederlanden und der EU-Präsidentin Ursula von der Leyen durchgedrückt worden. Ganz abgesehen von der Frage, inwiefern ein autokratisch herrschender Präsident wie Kais Saied ein geeigneter Partner sein könnte, stellte sich von Anbeginn die Frage, ob Tunesien überhaupt willens und in der Lage wäre, im Gegenzug zu den versprochenen Millionen auch seine Grenzen dicht zu machen.

Kurz nach Abschluss der Vereinbarung zeigte sich zudem, was Kais Saeid von Achtung von (Menschen-)Rechten hielt, als er kurzerhand Flüchtlinge aus dem subsaharischen Afrika festnehmen und ins libysch-tunesische Grenzgebiet deportieren ließ, wo einige von ihnen sogar verdursteten.

Nichts gelernt

Diese massiven Repressionen hatten unter anderem zufolge, dass eher mehr als weniger Menschen sich auf den gefährlichen Weg über das Mittelmeer aus Tunesien machten. Schließlich fürchteten sie Abschiebung und Festnahme. Dies mag einer von vielen Gründen sein, weshalb in den vergangenen Wochen erneut Tausende auf der kleinen italienischen Insel Lampedusa angekommen sind. In Italien herrscht deshalb Alarmzustand, ganz besonders, da Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ja mit dem Versprechen an die Macht kam, das, was sie »illegale Migration« nennt, fortan massiv einzudämmen.

Nun sieht sich das Land allerdings mit mehr Flüchtlingen als in den Jahren zuvor konfrontiert. Neben Libyen ist Tunesien jenes Land, von dem die meisten Boote kommen. Von Umsetzung irgendeines Deals kann also gar nicht zu sprechen sein. Noch ist zwar auch kein Geld geflossen, offenbar ging man aber eine Zeitlang in Rom und Brüssel davon aus, Saied würde trotzdem liefern. Er tat es nicht, und damit stehen die Politiker in der EU einmal mehr vor einem Scherbenhaufen ihrer gescheiterten Flüchtlingspolitik.

Sie scheinen nicht begreifen zu wollen oder zu können, dass das mit der Türkei abgeschlossene Abkommen eher die Ausnahme als ein Beispiel für andere Länder ist und in Afrika Ähnliches nicht oder kaum funktioniert. Nicht nur das: Seitdem auf Griechenland ein wenig Druck ausgeübt wurde, die zur Genüge dokumentierten illegalen und gewaltsamen Pushbacks zumindest zu reduzieren, kommen auch auf den ägäischen Inseln wieder mehr Menschen an. In Lesbos und Samos platzen die Aufnahmeeinrichtungen inzwischen wieder aus allen Nähten.

Zudem ist die Türkei eben doch ein weitgehend funktionsfähiger Staat und bislang in der Lage, selbst Millionen von Flüchtlingen zumindest halbwegs zu versorgen oder gar zu integrieren. Bei näherem Hinsehen erweist sich allerdings auch der Türkei-Deal als problematisch, unter anderem, weil die Türkei seit einiger Zeit zwangsweise nach Syrien abschiebt.

Ausgerechnet einer der Väter dieses Deals hat für das, was mit Tunesien abgesprochen wurde, nur kritische Worte übrig. Im ZDF sagte Gerald Knaus, dem zugutegehalten werden muss, dass er sich seit einiger Zeit auch kritisch gegenüber dem Abkommen mit Ankara äußerte: »Die Einigung mit Tunesien ist vage, lang, voller Versprechen, unkonkret und es ist überhaupt nicht klar, was Tunesien eigentlich machen sollte. Und es ist auch nicht klar, was die EU Tunesien wirklich verspricht. (…) Als Migrationsabkommen ist das nicht tauglich.«

Außerdem fügte er hinzu, mit ihren »zynischen Deals« mit Libyen und Tunesien würden »auch noch Menschenrechte verletzt« und zog das Fazit, dass die Migrationspolitik der Europäischen Union in jeder Hinsicht bis jetzt gescheitert sei.

In der Tat steht die EU vor einem Trümmerhaufen, ganz besonders in Afrika, wo ja derzeit nicht nur ihre Migrations-, sondern auch ihre gesamte bisherige Außenpolitik gerade kläglich scheitert. Im Sudan herrscht blutiger Bürgerkrieg, südlich der Sahara putschen sich Militärs an die Macht, die extrem antifranzösisch und umso prorussischer eingestellt sind, und in Nordafrika kriselt es in allen Staaten gewaltig. Laut Umfragen wollen die meisten jungen Menschen vor dort lieber heute als morgen fliehen. Zusätzlich sind aktuell Marokko und Libyen von verheerenden Naturkatastrophen betroffen.

More of the same

Abschreckung, Internierung, Abkommen mit Despoten und vermehrte Abschiebungen, wobei in viele Länder eben praktisch gar nicht abgeschoben werden kann – so lauten die Rezepte der EU seit Jahren. Nur: Ganz jenseits von ethisch-moralischen Fragen funktionieren die Konzepte schlicht nicht, das musste bei ihrem Besuch in Lampedusa Frau von der Leyen nun mit eigenen Augen sehen.

Was sie dort verkündete, lässt sich nur als more of the same zusammenfassen: »Die einzige Möglichkeit sei es, Migranten schon vor ihrem Aufbruch aus Nordafrika zu stoppen. Zudem müsse das Migrationsabkommen mit Tunesien bald auf den Weg gebracht werden. Das nordafrikanische Land soll Hilfsgelder erhalten und im Gegenzug stärker gegen illegale Überfahrten vorgehen.«

Um Aktivismus vorzutäuschen, verabschiedete die EU auch einen weiteren Zehn-Punkte-Plan zur »Bekämpfung irregulärer Migration«, der sich in die fast endlose Menge solcher Papiere einreihen wird. Ein näherer Blick, den eine taz-Autorin darauf geworfen hat, kommt zu dem Schluss, dass er keine neue oder besonders praktikable Idee enthält.

Begrüßt wurde von der Leyen von Demonstranten in Lampedusa, die zu Recht auf die katastrophale Lage auf ihrer Insel hinwiesen: »Wir wollen nicht, dass Lampedusa sich in ein Gefängnis unter freiem Himmel verwandelt«, befürchtete einer von ihnen. »Wir sind für die Aufnahme, eine richtige Aufnahme, eine legale«, forderte ein anderer, und ein dritter meinte: »Wir möchten endlich, dass die Weltgemeinschaft und die EU dafür sorgen, dass die Menschen keinen Grund mehr haben, hierher zu kommen!«

Aus solchen Statements spricht nicht nur Verzweiflung, sondern jene Mischung aus Moral gepaart mit einem realistischen Blick auf die Welt, die in krassem Gegensatz steht zu den Verlautbarungen aus der Politik. Diese ganz normalen Bewohner Lampedusas scheinen politische Wirklichkeit weit besser zu verstehen als ihr hoher Besuch aus Brüssel. Denn sie formulieren, was schlicht Realität ist.

Solange in großen Teilen der Welt Zustände herrschen, in denen ein menschenwürdiges Leben nicht möglich ist, werden Menschen vor diesen Zuständen fliehen und dafür notfalls auch große Risiken auf sich nehmen. Je mehr Länder von solchen Zuständen betroffen sind, desto mehr Menschen fliehen, weshalb sich die Zahl der weltweit als Flüchtlinge und binnenvertrieben Registrierten auch Jahr für Jahr erhöht und inzwischen die Hundert-Millionen-Grenze überschritten hat.

Weitergehende Radikalisierung

Dieser Entwicklung steht Europa offenbar hilflos gegenüber. Sonntagsreden über Strategien, wie man Fluchtursachen zu bekämpfen habe, werden nicht einmal mehr müde belächelt, kann doch kaum ein einziger Erfolg vorgewiesen werden, wo dies mit den bisherigen Strategien wirklich funktioniert habe. Da die Politiker aber nicht zugestehen können, mit ihren bisherigen Ansätzen gescheitert zu sein – ähnlich wie die Regierung in Washington im Krieg gegen die Drogen –, müssen sie mit immer neuen Versprechen aufwarten, dass mehr Härte, höhere Zäune, längere Internierungszeiten und größere Schikanen für Flüchtlinge irgendwann zum Erfolg führen werden.

All dies ist vor allem Wasser auf die Mühlen all jener, die Migrations- und Flüchtlingspolitik ins Zentrum ihrer politischen Propaganda stellen. So kam schon Meloni in Italien an die Macht, und so werden andere auch an die Macht kommen, nur um sich dann anhören zu können, sie brächen ihre Versprechen und man müsse noch härtere Maßnahmen ergreifen.

Dabei gilt: Je radikaler, umso besser. Wohin all dies führen kann, demonstrierte dieser Tage erst Elon Musk, der jüngst die Krise des in X umbenannten Twitter-Konzerns der jüdischen Anti Defamation League zur Last legte. In einem weiteren Kommentar griff er ganz tief in den Giftschrank antisemitischer und neurechter Verschwörungstheorien und schrieb unter einen Tweet, der George Soros und seiner Open Society Foundation unterstellte, sie stecke hinter der »Invasion Lampedusas«: »Die Organisation von Soros scheint nichts weniger zu wollen als die Zerstörung der westlichen Zivilisation.«

Nun ist Elon Musk nicht irgendwer, sondern einer der reichsten und einflussreichsten Männer auf diesem Planeten. Es sagt viel aus, wenn so jemand die Erzählung vom jüdisch gesteuerten »großen Austausch« positiv aufgreift, die besagt, es gäbe einen geheimen Plan, mittels Flüchtlingsmassen das Europa, wie wir es kennen, bewusst zu zerstören und neu gestalten zu wollen. Dass – und Soros hat hier nur eine Stellvertreterfunktion – hinter diesem Plan sinistre Drahtzieher stecken, die in der Regel mit jüdischen Organisationen verbunden werden, gehört zu dem Narrativ dazu.

Je deutlicher wird, dass die EU mit ihrer Flüchtlings- und Migrationspolitik scheitert, desto mehr Zulauf werden Parteien, Gruppen und Bewegungen finden, die sich solcher Narrative bedienen. Sie können nämlich immer behaupten, dass, da es ja einen geheimen Plan gäbe, dessen Komplizen die Eliten in der EU seien, diese in Wirklichkeit nur so täten, als ob es ihnen um die Bekämpfung von Migration und Flüchtlingen ginge.

Auf ganzer Länge gescheitert

Je schriller die Rhetorik wird, je radikaler werden die Forderungen, desto mehr verschwinden die Menschen, die konkret leiden und auch sterben. Sie erscheinen zunehmend als Kriminelle, Invasoren und feindliche Elemente, die es zu bekämpfen gilt. Die Dehumanisierung von Flüchtlingen ist in den vergangenen Jahren in einem erschreckenden Ausmaß vorangeschritten, ohne dass sich dem namhafter Widerstand in den Weg gestellt hätte. Längst vergessen sind die Zeiten, als auf Bahnhöfen in Deutschland und Österreich noch Menschen mit »Refugees Welcome«-Schildern standen.

Statt mit immer neuen Vorschlägen in immer kürzeren Zeiträumen zu kommen, die sich in immer schnelleren Abständen als dysfunktional erweisen, wäre es vermutlich höchst an der Zeit, wenn es nicht schon zu spät dafür ist, zu konstatieren, dass die bisherige Migrationspolitik – in den Worten von Gerhard Knaus – »in jeder Hinsicht gescheitert« ist. Ein solches Zugeständnis wäre zumindest ein erster Schritt zu einer ganz anderen Politik.

Einmal mehr bietet sich hier der Vergleich mit dem amerikanischen War on Drugs an: Eigentlich wissen alle seit Jahren, dass er kläglich gescheitert ist – in diesem Zusammenhang sei jedem die Lektüre des Buches War on Drugs von David R. Faber ans Herz gelegt –, und doch traut sich kein Politiker auszusprechen, was der Fall ist. So wird dieser Krieg, der zu so viel Elend und Leid geführt hat, der Kartelle und Mafia nur gestärkt und mitgeholfen hat, ganze Länder in Mittel- und Südamerika zu zerstören, immer weitergeführt.

Inzwischen kann man mit gutem Gewissen von einem »War on Refugees« in Europa sprechen. Die Parallelen sind frappierend und die Resultate ähneln sich ebenso, bis hin zu den Profiteuren dieses Kriegs: nämlich der Mafia, den Warlords, den Islamisten und den Sicherheitsapparaten jener despotischen Regimes, vor denen so viele Menschen zu fliehen versuchen.

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