Angelehnt an den Begriff des „War on Drugs“, den die USA seit Jahrzehnten führen und der unendliches Leid und Elend über Millionen von Menschen gebracht hat, ohne dass er je größere Erfolge gezeigt hätte – wer mehr darüber wissen will dem sei zur Lektüre etwa die entsprechende Trilogie von Don Winslow an Herz gelegt – sollte man in Europa von einem „War on Refugees“ sprechen.
In diesem Krieg allerdings sind Flüchtlinge sowohl Feind wie Waffe zugleich: Europäische Außenpolitik wird spätestens seit 2015 vor allem bestimmt von der Maxime, möglichst alles zu tun, damit nicht noch mehr Menschen, die dem Elend in Afghanistan, Syrien und anderswo zu entkommen versuchen, nach Europa gelangen.
Mauern werden überall gebaut oder finanziert, Grenzschutz aufgestockt und zudem dafür gesorgt, dass Lager an den Außengrenzen möglichst unwirtliche und abschreckende Orte sind. Dafür steht symbolträchtig das System Moria in Griechenland.
Wertvolles politisches Kapital
Niemand will Flüchtlinge in größerer Zahl aufnehmen, das gilt für Länder der EU ebenso wie in den Regionen, aus denen die meisten stammen: So beeilten sich nach dem Fall Kabuls an die Taliban alle Anrainerstaaten Afghanistans aber auch die Türkei umgehend klarzustellen, dass ihre Grenze dicht bleiben würden. Zugleich tourten europäische Politiker durch die Region und versprachen viel Geld für die „heimatnahe Unterbringung“ derjenigen, die es trotzdem über irgend eine Grenze schaffen würden.
Zwar will man die Flüchtlinge nicht, sie stellen aber zugleich ein wertvolles politisches Kapital da, denn andere wollen sie schließlich auch nicht. Wer das zuerst verstanden hatte, war der türkische Präsident, der seit Jahren die Millionen Syrerinnen und Syrer, die in der Türkei Aufnahme gefunden haben, als Druckmittel gegen die EU einsetzt.
Der 2016 abgeschlossene EU-Türkei Deal bringt nicht nur Milliarden an Euros aus Brüssel, sondern auch die Garantie, dass niemand in Europa auch nur noch in Ansätzen Kritik am autokratischen Regime Erdogans übt. Zu groß ist die Angst, die Türkei könnte erneut ihre Grenzen öffnen, wie dies zuletzt im März 2020 geschah.
Despoten lernen sehr schnell voneinander, vor allem wie man an Geld kommt und sich lästige Kritik vom Hals hält. Einer, der das Einmaleins der Diktatorenschule besonders gut beherrscht, ist der belarussische Präsident Aljaksandr Ryhorawitsch Lukaschenko, der sich immerhin seit dreißig Jahren im Sattel hält.
Natürlich möchte auch er keine Flüchtlinge im Land – und welcher Flüchtling möchte umgekehrt schon in Weißrussland enden? – aber er hat sehr wohl begriffen, was für eine Waffe Flüchtlinge sind, setzt man sie zur Destabilisierung und Erpressung seiner Nachbarn ein. Also ließ er hunderte von Irakis einfliegen und ermunterte sie, die Landgrenze nach Polen und Litauen zu überqueren.
Beide Länder reagierten wie erwartet: Polen rief sogar den nationalen Notstand aus, Militär wurde an die Grenzen verlegt und alles getan, damit keiner dieser Flüchtlinge es in diese EU-Länder schafft. Es spielten und spielen sich ebenso groteske wie brutale Szenen ab, weil auch Weißrussland diese Menschen nicht „wieder“ haben möchte und ihnen die Rückkehr verwehrt.
So sind inzwischen Tauende im Niemandsland gestrandet und ihre Situation verschlechtert sich täglich, inzwischen ist sie für die ersten tödlich: Letzte Woche starben vier, diese Woche zwei Menschen beim Versuch, nach Polen zu gelangen.
Unter denen, die gehofft hatten via Minsk in die EU zu gelangen, befinden sich auf auch viele Jesidinnen und Jesiden, die den Völkermord des Islamischen Staates 2014 überlebt hatten:
„Zweiunddreißig jesidische Migranten sind seit sieben Tagen an der Grenze zwischen #Belarus und #Polen gestrandet. Es handelt sich um jesidische Familien aus Sinjar [Shingal]. Dies ist eine lebensbedrohliche Situation“, twitterte Murad Ismael, Präsident und Mitbegründer der Sinjar Academy, am Dienstag und forderte Polen auf, ihnen aus humanitären Gründen die Einreise zu ermöglichen.
Ein Angehöriger der Gruppe sagte, sie hätten weder Lebensmittel noch Wasser und seien in einem verzweifelten Zustand: „Sie sind seit sieben Tagen und sieben Nächten im Wald. Sie haben noch nichts gegessen. Sie haben keine keine Nahrung und befinden sich am Rande des Todes. Fünf oder sechs von ihnen befinden sich in einem schlimmen Zustand. Sie wissen nicht, wann sie sterben werden“, sagte Fadel Hassan gegenüber Rudaw English per Telefon aus Deutschland.
Elf seiner Verwandten sind an der Grenze gestrandet. „Manchmal essen sie Blätter, aber sie können nicht viel davon essen, weil sie schwer im Magen liegen“, sagte er. „Wasser trinken sie aus einem Teich.“
Kein Platz im Nahen Osten, kein Platz in Europa
Im Irak leben Jesiden bis heute in Lagern in den kurdischen Autonomiegebieten. Der Sinjar aus dem sie von den Jihadisten des Islamischen Staates vertrieben wurden, bleibt de facto weiter unbewohnbar, weil dort unzählige Milizen ihr Unwesen treiben und keinerlei Sicherheit garantiert werden kann.
Auf die Menschen in den Lagern wartet der inzwischen siebte Winter in Behelfsunterkünften ohne Zukunftsperspektive. Längst sind sie weitgehend in Vergessenheit geraten, die vollmundigen Hilfsversprechungen der so genannten Internationalen Staatengemeinschaft haben sich, wie prognostiziert, als weitgehend leer erwiesen – und wer irgendwie kann, versucht das Land zu verlassen.
Und genau deshalb enden Überlebende des Völkermordes nun als Opfer einer perfiden Politik des weißrussischen Diktators an den europäischen Außengrenzen, um sich von Blättern und Gras ernähren zu müssen. Die Tragödie, die sich dort abspielt ist nur eine von unzähligen: nicht viel anders geht es Menschen aus Afghanistan, die mit westlichem Militär und Organisationen gearbeitet hatten und verzweifelt versuchen, den Taliban zu entkommen.
Polen mit seiner EU-Außengrenze begrüßt sie mit Stacheldraht und Soldaten, während sich die europäische Politik mit allen Mitteln darum bemüht, dass es gar nicht so weit kommt. Solche Szenen möchte man schließlich nur ungern sehen. Deshalb sollen die Länder der Region gefälligst dafür sorgen, dass Menschen es nicht mehr über die jeweils nächste Grenze schaffen und am besten gleich dort bleiben, wo ihr Leben längst unmöglich geworden ist.
Der von der EU finanzierte türkisch-syrische Grenzzaun weist da in eine dystopische Zukunft. Denn dank dieses Bauwerkes schafft es kaum jemand, noch aus Syrien zu fliehen, selbst wenn täglich Bomben fallen, Folterknäste auf Hochtouren arbeiten, Corona wütet und Nahrungsmittel knapp werden.
Entsprechend werden wohl auch Wege gefunden, um Lukaschenko von seinem Treiben abzuhalten, der ja nur verstanden hat, dass heutzutage Flüchtlinge eine extrem effektive Waffe gegen die EU sind, und der lediglich hofft, irgendwie auch mit Brüssel ins Geschäft zu kommen: Warum nicht auch er, wenn es schon bei Erdogan so gut klappt.
Und diese Gedanken macht man sich gerade auch in den Nachbarstaaten Afghanistans. Denn das Geld aus Europa wollen sie alle ebenso wie die Ruhe vor lästigen Nachfragen, wie es denn in ihren Ländern um Menschen- und Bürgerrechte bestellt ist.
Die Mafia profitiert
Vierzig Jahre nachdem Richard Nixon ihn ausgerufen hat, kam eine internationale Expertenkommission zu dem Ergebnis, der „War on Drugs“ sei auf allen Ebenen gescheitert. Diese Erkenntnis ist so neu nicht und wurde schon in den 1980er-Jahren formuliert. Der Krieg ging trotzdem weiter; mit verheerenden Folgen und wenig positiven Resultaten. Es spricht sehr wenig dafür, dass es mit dem „War on Refugees“ anders sein wird.
Der Grund für das Scheitern ist einfach, in dem einem wie dem anderen Fall: Solange es in den USA und Europa eine massive Nachfrage nach Drogen gibt, werden sie auch geliefert. Und solange die Lebensbedingungen in Ländern wie Afghanistan und Syrien sich kontinuierlich verschlechtern, werden Menschen von dort fliehen.
Natürlich profitiert – auch das gehört zu diesen Kriegen dazu – die Mafia inzwischen enorm und es heißt, seit einiger Zeit verdiene sie sogar mehr Geld mit Flüchtlingen als mit Drogen.