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Was hat der Internationale Gerichtshof entschieden?

Die Richter des Internationalen Gerichtshofs bei der Anordnung provisorischer Maßnahmen am 26. Januar 2024. (© imago images/UPI Photo)
Die Richter des Internationalen Gerichtshofs bei der Anordnung provisorischer Maßnahmen am 26. Januar 2024. (© imago images/UPI Photo)

Der Jubel der Israelfeinde ist unbegründet: Der Internationale Gerichtshof hat keineswegs den Völkermordvorwurf gegen Israel für plausibel erklärt.

In einem Fernsehinterview mit der Deutschen Welle redete sich Chris Gunness unlängst in Rage. Der Brite, der in seiner Zeit als Sprecher des UN-Hilfswerks für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) von 2007 bis 2019 seine Israelfeindschaft gewissermaßen zum Beruf gemacht hatte, warnte davor, dass im Gazastreifen 1,2 Millionen Menschen vom Hungertod bedroht wären, würde der UNRWA das Geld ausgehen. Mehrere Staaten, darunter auch Deutschland und Österreich, haben ihre Zahlungen an das Hilfswerk eingestellt, nachdem Vorwürfe laut wurden, dass rund ein Dutzend Mitarbeiter direkt am Hamas-Massaker vom 7. Oktober beteiligt gewesen wäre und mindestens zehn Prozent der ca. 13.000 Mitarbeiter im Gazastreifen enge Verbindungen zur Hamas haben sollen.

Die Einstellungen der Zahlungen stellten für Gunness nicht weniger als eine »Verletzung der Völkermordkonvention« dar. Der Internationale Gerichtshof (IGH) habe schließlich den Vorwurf erhoben, Israels Vorgehen in Gaza stelle einen »plausiblen Fall von Völkermord« dar. Wenn Deutschland – ausgerechnet Deutschland »mit seiner Geschichte« – jetzt also seine Überweisungen an die UNRWA auf Eis lege, mache es sich »zum Komplizen bei einer Verletzung der Völkermordkonvention«. Den Einwand von Moderator Brent Goff, der IGH habe keine derartige Einschätzung des Völkermordvorwurfs getroffen, quittierte Gunness mit dem sichtlich empörten Zwischenruf: »Plausibel! Plausibler Völkermord!« (The Day with Brent Goff, 6. Februar 2024)

Gunness ist nicht der Einzige, der das behauptet, auch von weit seriöseren Quellen ist Ähnliches zu vernehmen. So war jüngst in einem Artikel auf CNN zu lesen: »Der Internationale Gerichtshof (IGH) befand, es sei ›plausibel‹, dass Israel im Gazastreifen einen Völkermord begehe.« Explizite Israelhasser behaupten gar, der IGH habe Israel »wegen Völkermords verurteilt«.

Was stimmt denn nun? Was hat der IGH tatsächlich entschieden? Wer sich die Mühe macht nachzulesen, was der IGH im Rahmen seiner Anordnung »provisorischer Maßnahmen« am 29. Januar wirklich geschrieben hat, kann sich über derlei Behauptungen nur wundern.

Der Hintergrund

Am 29. Dezember 2023 stellte Südafrika beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag einen Antrag auf die Einleitung eines Verfahrens gegen Israel wegen angeblicher Verstöße gegen das »Übereinkommen über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords«, die sogenannte Völkermordkonvention von 1948. Südafrika warf darin Israel vor, bei seinem Vorgehen gegen die Hamas, das von Südafrika nicht als Krieg gegen eine Terrororganisation, sondern als Feldzug gegen die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens dargestellt wird, nicht weniger als Völkermord zu begehen. In einem ersten Schritt wurde der Gerichtshof ersucht, eine Reihe von provisorischen Sofortmaßnahmen zum Schutz der Palästinenser im Gazastreifen zu verhängen. Insbesondere müsse an Israel die Anordnung ergehen, seine »militärischen Operationen im und gegen den Gazastreifen unverzüglich einzustellen«.

Am 11. und 12. Januar 2024 waren die beiden Konfliktparteien am Wort. Zunächst führte Südafrika in einer rund dreistündigen Präsentation aus, dass Israels Handlungen im Gazastreifen »völkermörderischen Charakter« hätten, weil sie »die Vernichtung eines wesentlichen Teils der nationalen, rassischen und ethnischen Gruppe der Palästinenser intendieren« würden.

Tags darauf widersprachen die Repräsentanten Israels in ihren ebenfalls rund dreistündigen Stellungnahmen, warum der südafrikanische Völkermordvorwurf skandalös sei und abzuweisen wäre. Die Gegenseite sei vor allem daran gescheitert, den entscheidenden Punkt zu belegen, auf den allein es bei einer Anklage nach der Völkermordkonvention ankommt: Israels angeblich genozidale Absichten. Die Fakten würden vielmehr zeigen, dass Israel alles ihm Mögliche unternehme, um in seinem berechtigten Vorgehen gegen die Hamas die Zivilbevölkerung so gut zu schützen, wie das in einem Krieg in urbanem Umfeld eben gehe.

Was ist hier »plausibel«?

Am 26. Januar, also rund zwei Wochen nach den Anhörungen in Den Haag, gab der IGH seine Entscheidung über den Antrag auf Anordnung von Sofortmaßnahmen bekannt. Der Gerichtshof könne, wie er in einem wesentlichen Teil seiner Entscheidung darlegte, nur dann Maßnahmen anordnen, »wenn die vom Antragsteller geltend gemachten Bestimmungen prima facie eine Grundlage zu bieten scheinen, auf der seine Zuständigkeit begründet werden könnte«. Der IGH musste also zuerst einmal entscheiden, ob die Israel vorgeworfenen Taten »geeignet zu sein scheinen, unter die Bestimmungen der Völkermordkonvention fallen zu können«, ob also eine »plausible Behauptung über völkermörderische Handlungen« vorliege.

Der IGH musste somit einzig die Frage beantworten, ob jene Handlungen, die Israel von Südafrika zum Vorwurf gemacht werden, überhaupt strafbare Handlungen im Sinne der Völkermordkonvention darstellen können. Wie der Gerichtshof mehrfach ausdrücklich betonte, ist damit nichts über die inhaltliche Richtigkeit der Vorwürfe gesagt. In den Worten des Gerichts:

»Im gegenwärtigen Stadium des Verfahrens ist der Gerichtshof nicht verpflichtet, festzustellen, ob Israel gegen seine Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention verstoßen hat. Eine solche Feststellung könnte der Gerichtshof erst im Stadium der Prüfung der Begründetheit der vorliegenden Rechtssache treffen.«

Mit keinem einzigen Wort hat der IGH also zu den Vorwürfen inhaltlich Stellung genommen; mit der Frage, ob Israel nun tatsächlich die Völkermordkonvention verletzt habe, hat er sich überhaupt nicht beschäftigt. Das hätte er, wie der Völkerrechtler Robert Kolb im Mena-Watch-Gespräch ausführt, in der kurzen Zeit seit dem südafrikanischen Antrag am 29. Dezember und den Anhörungen Mitte Januar auch gar nicht machen können.

Für »auf den ersten Blick plausibel« hat er also nicht die Behauptung erklärt, dass Israel gegen die Genozid-Konvention verstoßen habe oder Völkermord begehe, sondern bloß, dass die Israel von Südafrika vorgeworfenen Handlungen ein Fall für die Völkermordkonvention sein könnten – völlig unabhängig davon, ob die Vorwürfe nun zutreffend sind oder nicht.

Die Sache mit dem Erdbeerjoghurt

Das hört sich kompliziert an, aber da dies der springende Punkt ist, wollen wir uns anhand eines Beispiels vor Augen führen, worum es geht.

Nehmen wir an, Staat A hat im Zuge eines bewaffneten Konflikts Gebiet B besetzt. Staat C behauptet daraufhin, Staat A habe der Zivilbevölkerung dieses umkämpften Gebiets verboten, zwischen 14 und 15 Uhr am Nachmittag Erdbeerjoghurt zu essen. Staat C sieht darin eine Maßnahme, »die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«, wie es in Artikel II der Völkermordkonvention heißt, und stellt beim IGH den Antrag auf die Einleitung eines Verfahrens gegen Staat A wegen eines Verstoßes gegen die Völkermordkonvention.

Der IGH müsste nun entscheiden, ob dieser Vorwurf einen unter seine Zuständigkeit fallenden Tatbestand erfüllen kann, also eine »Grundlage zu bieten scheint, auf der seine Zuständigkeit begründet werden könnte«. Vermutlich würde er nicht lange brauchen, um zum Schluss zu kommen, dass ein temporäres Verbot von Erdbeerjoghurtkonsum nicht als Akt betrachtet werden kann, der eine »genozidale Absicht« zum Ausdruck bringt. Unabhängig davon, ob Staat A dieses Verbot tatsächlich ausgesprochen hat oder nicht, wäre gänzlich unplausibel, dass hier ein Tatbestand vorliegt, der unter die Völkermordkonvention fallen könnte.

Einfach gesagt: Aus dem Untersagen von Erdbeerjoghurtverzehr kann nie und nimmer ein Akt des Völkermords werden, und mit dieser Feststellung hätte sich der Antrag auf die Einleitung eines Verfahrens erledigt.

Provisorische Maßnahmen

Im aktuellen Fall Südafrika gegen Israel hat der IGH nicht mehr gemacht als festgestellt, dass die von Südafrika angeprangerten Handlungen Israels – würden sie denn der Realität entsprechen – Verletzungen der Völkermordkonvention darstellen und möglicherweise Rechte der Palästinenser verletzt worden sein könnten. Mehr aber auch nicht.

Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der IGH einige provisorische Maßnahmen angeordnet hat, denen Israel Folge leisten muss. Auch durch die Anordnung dieser Maßnahmen hat das Gericht, anders als Gunness und andere Israelfeinde jetzt behaupten, keineswegs festgestellt, dass der Vorwurf des Völkermords gegen Israel inhaltlich plausibel wäre.

Dass dies nicht der Fall ist, wird auch deutlich, sieht man sich an, was das Gericht angeordnet hat: Im Grunde wurde Israel nur ermahnt, sich an seine aus der Völkermordkonvention erwachsenden Verpflichtungen zu halten (was es ohnehin tut), humanitäre Hilfe zuzulassen (was es auch tut), mögliche Beweise für Verletzungen der Konvention nicht zu beseitigen (wovon keine Rede sein kann) und wurde aufgefordert, dem Gericht in einem Monat einen Bericht über die Umsetzung der recht unspezifischen Maßnahmen vorzulegen.

Bemerkenswert daran ist vor allem, was der IGH nicht getan hat: Südafrika hatte ja gefordert, dass zum Schutz der Palästinenser die unverzügliche Einstellung der israelischen Militäroperationen im Gazastreifen angeordnet werden müsse. Nichts dergleichen ist geschehen. In der Verfügung des IGH von Ende Januar finden sich außer den erwähnten und recht allgemein gehaltenen Ermahnungen keinerlei Auflagen oder Einschränkungen, an die sich die israelische Kriegsführung zu halten habe. Die südafrikanische Forderung nach einem sofortigen Stopp der israelischen Kampfhandlungen hat der IGH, wie man so sagt, nicht einmal ignoriert.

Hätte der Gerichtshof es auch nur ansatzweise für plausibel gehalten, dass im Gazastreifen gerade völkermordartige Handlungen geschehen, hätte er mit Sicherheit ganz andere und viel weitergehende Maßnahmen angeordnet. Dass er das nicht getan hat, ist ein deutlicher Hinweis darauf, was die Richter von den südafrikanischen Vorwürfen halten – und, wenn man Robert Kolb und anderen Völkerrechtlern glauben schenken kann, auch ein klares Signal, was am Ende des nun folgenden Verfahrens stehen wird: Der IGH wird gar nicht anders können, als die Anschuldigung des Völkermords zurückzuweisen.

Bis dahin werden Chris Gunness und andere weiterhin ihre falschen Behauptungen über den IGH und dessen angebliche Entscheidungen gegen Israel verbreiten. Ob sie das tun, weil sie einfach nicht verstehen, wovon sie sprechen, oder schlicht lügen, sei dahingestellt, macht letztlich aber keinen großen Unterschied. Diese Geschichte sollte uns aber daran erinnern, warum man Behauptungen von Israelfeinden grundsätzlich keinen Glauben schenken sollte: Sie biegen die Realität ungeachtet der Tatsachen immer so zurecht, dass sie am Ende in ihr ideologisches Korsett passt. Der Fall des IGH zeigt nur ein weiteres Mal, wie unredlich sie dabei vorgehen.

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