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Wenn der taz ein Lied gegen den Judenmord der Hamas nicht gefällt

Antilopen Gang: Lied gegen den Judenmord der Hamas am 7. Oktober
Antilopen Gang: Lied gegen den Judenmord der Hamas am 7. Oktober (© Imago Images / Future Image)

Nichts eignet sich zur Entlastung von antisemitischer Schuld besser als die Gleichsetzung der Juden mit ihren Mördern, weshalb sich diese Praxis in einer Welt, die weiterhin voll von Antisemiten ist, auch solcher Beliebtheit erfreut.

Thomas Stern

Lieder (oder auch Kunstwerke generell), die sich mit Antisemitismus als Gegenwartsphänomen beschäftigen, sind recht rar gesät. Daran hat auch der kulturelle Hyperfokus auf Rassismus und Minderheitendiskriminierung, den das vergangene Jahrzehnt mit sich gebracht hat, nichts geändert, was leider niemanden, der sich mit der dahinterliegenden Bewegung mehr als oberflächlich auseinandergesetzt hat, überraschen kann.

Das kürzlich erschienene Lied Oktober in Europa der Hip-Hop-Gruppe Antilopen Gang, das sich auf angemessen zornige Art und Weise mit dem Pogrom der Hamas im Oktober 2023 und den westlichen Reaktionen darauf auseinandersetzt, stellt hier eine erfreuliche Ausnahme dar und fügt sich damit in eine überschaubare Reihe mit Liedern wie Neighborhood Bully von Bob Dylan oder Good Evening Mr. Waldheim von Lou Reed ein.

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Eine Reihe von Ungereimtheiten

Statt diese seltene und überfällige künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema zu begrüßen, wird dem Lied in einem taz-Artikel von Lea Fauth nun ein falscher, ja, verblendeter Umgang damit unterstellt.

Eingeleitet wird die Kritik mit der Feststellung, dass die Antilopen Gang in ihrer Positionierung zum Nahostkonflikt anscheinend eine »politische Agenda« verfolge, was natürlich eine banale Nullaussage ist, da man sich schwerlich unpolitisch zum Nahostkonflikt äußern kann, und der Unterschied zwischen einer »Agenda« und legitimen politischen Überzeugungen, die eine notwendige Antisemitismuskritik untermauern, erst einmal erklärt werden müsste.

Im nächsten Absatz wird Fauth dann deutlicher. So gäbe es »unter Israel-Solidarischen oft auch solche, denen der Konflikt ein Vorwand ist, um den eigenen antiarabischen oder antimuslimischen Rassismus auszuleben«. Ganz direkt will sie der Antilopen Gang dann offensichtlich doch nicht unterstellen, die Bestürzung über Antisemitismus nur als Vorwand zum Ausleben von Rassismus zu missbrauchen, aber mit einem minimalen Zwischenschritt kann man den Vorwurf doch deutlich genug platzieren.

Natürlich ganz frei von Agenda fährt Fauth fort. Nun ist die Rede von »progressiven Kräften … auf beiden Seiten« des Konflikts, wobei nicht ganz klar ist, wo diese »progressiven Kräfte« in von der Hamas oder selbst, wenn man ihre Aussage weiter fasst und nicht nur auf den aktuellen Konflikt im Gazastreifen bezieht, von der Fatah vollständig bestimmten Gesellschaften einen politischen Betätigungsspielraum finden könne; es sei denn, »progressiv« bedeutet in diesem Kontext lediglich den großzügigen Verzicht auf die Ermordung so vieler Juden wie möglich.

Allerdings stellt Fauth selbst gleich nach ihrer Rede von den »beiden Seiten« fest, dass »allein die Idee von zwei‹ Seiten schon verkehrt und nationalistisch« sei. Eine ganz und gar erstaunliche Aussage in einem Konflikt, der notwendig zwei Seiten beinhaltet und in dem eine davon sich die Auslöschung der anderen auf die Fahnen geschrieben hat.

Für Lea Fauth scheint ihre durchaus einer Begründung werte Behauptung, dass die Feststellung, der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern beinhalte zwei Seiten, »verkehrt und nationalistisch« sei, aber so selbstverständlich zu sein, dass sie keine Veranlassung zu einer weiteren Erläuterung sieht.

Das in dem Zusammenhang als Marker verwendete Wort »nationalistisch« legt allerdings nahe, dass die Autorin der utopistischen Idee einer Ein-Staaten-Lösung anhängt. Die Tatsache, dass man Befürworter einer solchen Lösung auf beiden, eigentlich ja gar nicht vorhandenen Seiten mit der Lupe suchen muss – sieht man von in Deutschland weltberühmten, anderswo aber nicht umsonst weitgehend unbekannten »Star«-Philosophen wie Omri Boehm ab –, scheint zumindest von Berlin aus betrachtet der Praktikabilität ihrer Umsetzung nicht im Weg zu stehen.

Das Pudels Kern

Dann kommt Fauth endlich zum Kern ihres Vorwurfs: man wolle sich mit dem Lied »der deutschen Schuld entledigen« und sie auf die Palästinenser projizieren. Das klingt überraschend bei einem Lied, das »Oktober in Europa« heißt, den Fokus auf den europäischen Antisemitismus also bereits im Titel trägt.

Neben diesem Titel muss denn auch ein Großteil der Testzeilen ignoriert werden, um Fauths These aufrechtzuerhalten – und zwar von der allerersten bis zur allerletzten, die sich beide explizit auf Berlin beziehen. Ständig wird in dem Lied auf spezifisch deutsche Verhältnisse rekurriert. Die Sonnenallee, der Bundeskanzler, Kreuzberger Häuserwände, vernachlässigte Stolpersteine, deutsche Taxifahrer, Freunde und Freundinnen des Rappers, Berliner Antifas: sie alle tauchen im Liedtext als Schauplätze, Zeichen, Komplizen oder Protagonisten von Antisemitismus auf.

Die ganze Kritik hängt sich letztlich an einer einzigen Zeile auf, die da lautet: »Zivilisten in Gaza sind Schutzschild der Hamas/Schutzschild der Nachfahr’n der Juden-Vergaser.«

Zunächst einmal wird dieser Zeile von Fauth »Holocaust-Verharmlosung« unterstellt – ein geradezu groteskes Missverständnis dieses Begriffs. Vergleichende Bezugnahmen auf den Holocaust erfüllen in der Tat häufig den Tatbestand der Verharmlosung; und gerade in den vergangenen Jahren gab es dafür Beispiele zuhauf, ob von rechter Seite bei Corona-Querdenkern oder von linker bei hysterisierten Überreaktionen auf Donald Trump. Wo sie das aber ganz sicher nicht tun, ist beim genozidal motivierten Massenmord an Juden: beim größten antisemitischen Massaker seit 1945, auch wenn ihm »nur« um 1.200 Juden und solche, die von der Hamas für Juden oder ihre Büttel gehalten wurden, zum Opfer fielen.

Nach ihrem Vorwurf der NS-Relativierung beklagt Fauth die »Reduzierung Zehntausender Toter auf die Funktion eines Schutzschildes«, die in der inkriminierten Textzeile vorgenommen würde. Diese Reduzierung ist in der Tat obszön – gerade das ist ja der Punkt, den das Lied machen möchte. Doch wird diese Reduzierung nicht von der Antilopen Gang oder von Israel betrieben, sondern von der Hamas. (Die unkritische Übernahme von zivilen Opferzahlen aus Hamas-Quellen sei hier ausnahmsweise einmal ausgeklammert.)

Schließlich der Hauptkritikpunkt: »Die ›Nachfahr’n der Juden-Vergaser‹ – sorry für den Spoiler – sind in erster Linie Deutsche. … Die Täter-Abstammung jemand anderem anhängen zu wollen, die deutsche Schuld und Täterschaft also abzuwälzen, kann nicht im Sinne des Kampfs gegen Antisemitismus sein.«

Fauth übersieht hier in ihrer Kritik die Doppelbödigkeit der inkriminierten Textzeile: Die ideellen »Nachfahr’n der Juden-Vergaser« sind einerseits natürlich in ihrer Tat die Hamas-Terroristen, denn genozidale Judenmörder stehen nun einmal in der Tradition von genozidalen Judenmördern. Gleichzeitig sind aber auch die biologischen Nazi-Nachfahren gemeint, welche die zivilen Opfer auf palästinensischer Seite als diskursives Schutzschild missbrauchen, hinter dem sie ungehemmt, da »moralisch« verbrämt, ihren Antisemitismus ausleben können. »Heute sind die größten Antisemiten/Alle Antirassisten, gegen Hass und für Frieden«, wie es im Lied an anderer Stelle so treffend heißt.

(Un-)moralische Äquivalenz

Bizarrerweise sieht Fauth einen Beleg für ihre These in der positiven Rezeption des Liedes durch »Regierungsvertreter« und die »Springer-Presse«; auch dies ein Zusammenhang, den sie nicht näher erklären zu müssen meint. Warum sie anscheinend der Meinung ist, selbst mehr Street Credibility im Kampf gegen Antisemitismus zu haben als die im 68er-Cosplay-Stil betitelte »Springer-Presse«, wird jedenfalls nicht klar.

In den Artikeln, die sie in ihren bisher viereinhalb Jahren bei der taz verfasst hat, taucht das Thema – außerhalb eines Artikels, in dem Verbote verschiedener »pro-palästinensischer« Demonstrationen kritisiert werden – jedenfalls nicht auf, im Gegenteil. So wird weder in Fauths Artikel zu Jean-Luc Melenchon noch in ihrem Text zu Annie Ernaux der Antisemitismus des jeweiligen Protagonisten auch nur mit einem Wort erwähnt. Zumindest die Nachfahren von Vichy haben von ihr also nichts zu befürchten.

Die zentrale Ironie ihres Artikels über die Antilopen Gang ist aber, dass der gegenüber deren Lied erhobene Vorwurf viel eher auf Fauths eigenen Text zutrifft. Fauth zitiert voller Zustimmung Ilija Trojanow mit den Worten: »Wer die Verbrechen der Hamas gutheißt oder die Grauen der israelischen Angriffswellen ohne Wenn und Aber rechtfertigt, hat an seiner Seele Schaden genommen.«

Hierbei handelt es sich, verborgen unter dem vermeintlich humanistischen Deckmantel »gegen Hass und für Frieden«, um eine perfide moralische Äquivalenz zwischen genozidalem Judenmord und der militärischen Bekämpfung der Judenmörder, wie sie nicht von ungefähr bereits von Hermann Göring bei den Nürnberger Prozessen gegen den Anti-NS-Krieg der Alliierten in Anschlag gebracht wurde. Denn nichts eignet sich zur Entlastung von antisemitischer Schuld besser als die Gleichsetzung der Juden mit ihren Mördern, weshalb diese Praxis sich in einer Welt, die weiterhin voll von Antisemiten und deren Nachfahren ist, auch solcher Beliebtheit erfreut.

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