Immer miteinander reden, während geflüchtete Kinder erfrieren

In Syrien erfrieren Flüchtlingskinder (Quelle: Facebook/Ghazwan Assaf)
In Syrien erfrieren Flüchtlingskinder (Quelle: Facebook/Ghazwan Assaf)

Während deutsche Außenpolitiker Diplomatie und Gespräche preisen, erfrieren in Idlib Kinder, die von Assads Armee und Russland in die Flucht getrieben wurden.

Deutsche Außenpolitik ist aus vielerlei Gründen eine Farce. Sie lässt sich inzwischen auf eine Aussage von Ex-Außenamtschef Sigmar Gabriel reduzieren, der kurz vor der Libyenkonferenz in Berlin nicht bloß von der Interesselosigkeit Deutschlands, das angeblich keine Kolonialmacht gewesen sei, twitterte, sondern auch ernsthaft den Satz schrieb: „Reden ist immer besser als Waffen liefern und schießen.“

Ein Satz, der sicher bei Vierjährigen in einem evangelischen Kindergarten auf große Zustimmung stoßen wird – den diejenigen, die Waffen haben und damit schießen, aber bestenfalls müde belächeln. Die unselige Geschichte des 20. Jahrhunderts, ganz besonders die des Zweiten Weltkrieges, zeigt im Übrigen, dass Gabriels vermeintlich ach so weiser Satz auch noch nachweislich falsch ist: Es gab leider genügend Situationen, in denen Schießen und Waffenliefern durchaus besser als Reden gewesen wäre. Dazu müsste man nur einen der wenigen noch verbliebenen Überlebenden des Warschauer Ghetto-Aufstandes befragen.

Friedensmacht Deutschland

Von ganz anderer Qualität als die von Gabriel beklagten Waffenlieferungen sind natürlich die, die Deutschland dieser Tage ganz selbstverständlich in alle Welt liefert, während es sich als interesselose Friedensmacht inszeniert:

„Die deutschen Rüstungsexporte könnten (2019) einen neuen Spitzenwert erreichen. Bis Ende September stiegen die Ausfuhrgenehmigungen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 75 Prozent auf 6,35 Milliarden Euro. Damit nähert sich das Exportvolumen den bisherigen Rekordwerten aus den Jahren 2015 und 2016 von 7,86 beziehungsweise 6,85 Milliarden Euro an.

Die mit Abstand meisten Exporte wurden mit 1,77 Milliarden Euro für den EU- und Nato-Partner Ungarn genehmigt. Die dortige rechtsnationale Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán rüstet derzeit massiv auf und will die Verteidigungsausgaben verdoppeln.

Dahinter folgt das an der von Saudi-Arabien geführten Kriegsallianz im Jemen beteiligte Ägypten mit 802 Millionen Euro. Mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) ist ein weiteres Land aus diesem Bündnis, das gegen die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen kämpft, unter den Top Ten der Empfängerländer. Mit 206 Millionen Euro stehen die VAE auf Platz neun.“

Gabriels Nachfolger kann’s auch

So wie der Ex-Außenminister der SPD gefällt sich auch sein Nachfolger darin, vollmundige Erklärungen abzugeben, die mit der Realität höchstens am Rande zu tun haben. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz äußerte er sich „am Rande“ zu Syrien, wo sich gerade eine der größten humanitären Katastrophen der letzten Dekaden abspielt:

„Deutschland erwarte von Moskau, seinen Einfluss auf die syrische Regierung zu nutzen, damit die Angriffe beendet würden, sagte Maas am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz nach Treffen mit den Außenministern der Türkei und Russlands, Cavusoglu und Lawrow.“

Weiß man im deutschen Außenamt etwa nicht, dass es russische Flugzeuge sind, die seit Jahren systematisch zivile Infrastruktur zerbomben? Wurde Maas nicht informiert, dass Deutschland sogar im September eine Vorlage bei der UNO mit einreichte, in der genau dieses Bombardement hätte verurteilt werden sollen, die dann aber selbstverständlich an einem Veto Russlands scheiterte?

Natürlich weiß er das alles, schließlich ist er Außenminister des größten Landes Europas. Er macht nur eben deutsche Außenpolitik – und die basiert auf systematischer Realitätsverleugnung.

Natürlich weiß er, dass ohne russische und iranische Hilfe die maroden Truppen Assads keinen Kilometer vorankämen und ihr Vormarsch nur erfolgreich ist, weil er vom Bombenhagel der russischen Luftwaffe begleitet wird. Er weiß auch, dass die 800.000 Flüchtlinge, die Moskau und Damaskus gerade produziert haben – Menschen die jetzt ohne Versorgung eisiger Kälte ausgesetzt sind –, Russland als Druckmittel auf Deutschland und die EU dienen, die Angst davor haben, dass die Flüchtlinge es bis nach Europa schaffen könnten.

Aber einem Politiker wie Maas kommt kein Wort der Kritik an dieser Politik über die Lippen.

Alles ist besser als Schießen

Verrat ist schließlich auch besser als Schießen. Und um nichts anderes handelt es sich hier: um Verrat an all den Syrern, die einst geglaubt haben, die „Freunde Syriens“ – jenes absurde westliche Staatenbündnis, das vor einigen Jahren zum Sturz Assads aufrief – hätten es jemals ernst gemeint. Auch Deutschland war Teil dieses Bündnisses. Wer jetzt in Idlib erfriert, hat einst vielleicht den Fehler gemacht, darauf zu vertrauen, dass die wichtigsten Staaten Westeuropas und die USA es nicht zulassen würden, dass Hunderttausende getötet und Millionen zu Flüchtlingen und Vertriebenen gemacht würden.

Aber schon damals, in der Anfangsphase der Kämpfe, war aus Berlin stets zu hören, Krieg sei keine Lösung, man müsse auf Diplomatie setzen. Das Ergebnis dieser einzig erfolgversprechenden Diplomatie sieht man nun in den verwüsteten Städten Nordwestsyriens. Dem antizipierten Sieg Assads wird etwas folgen, das deutsche Kommentatoren vermutlich Frieden nennen werden.

Die Menschen in Idlib allerdings, die sich auf einem immer kleiner werden Gebiet zusammendrängen, eingezwängt zwischen der von der EU-finanzierten Grenzmauer zur Türkei und den vorrückenden Truppen der syrisch-russisch-iranischen Allianz, weil offenbar kaum einer sich Assad ergeben will, werden bald erfahren, dass es Schlimmeres als Krieg gibt – sofern sie nicht russischen Bomben zum Opfer gefallen sind, erschossen wurden oder erfroren sind.

Aber nach deutscher Logik ist Erfrieren wahrscheinlich auch besser als Schießen.

Syrischer Winter

Laut den Vereinten Nationen haben russische, iranische und syrische Truppen in den vergangenen Monaten über 800.000 Menschen in der Provinz Idlib in Nordwestsyrien gezielt in neue Flüchtlinge verwandelt. Mittlerweile ist gar von der schlimmsten Katastrophe dieses Krieges die Rede.

In Idlib herrschen derzeit winterliche Temperaturen, es liegt Schnee, und ein Unterkommen gibt es für die neu Vertriebenen in der Regel nicht. Glücklich kann sich schätzen, wer irgendwo noch Platz in einem Zelt findet.

Und so kommt, was kommen musste: Die ersten Kältetoten sind zu beklagen, vor allem Kinder. Wer sich das antun will und die Nerven dafür hat, sollte sich diese Reportage der BBC aus einem der provisorischen Flüchtlingslager anschauen.

Der syrische Oppositionelle Ghazwan Assaf, der inzwischen in Deutschland lebt, versucht, das Elend, das sich gerade in Idlib abspielt, auf seine Art zu verarbeiten. Er hat das obenstehende Bild gemalt, nachdem er von einer der vielen Tragödien gehört hat. Auf Facebook schreibt er dazu:

„Heute Morgen trug ein syrischer Vater seine eiskalte Tochter aus ihrem Zelt und ging zwei Stunden lang, um ein Krankenhaus zu finden. Er ging seit 5 Uhr morgens bei eiskalten Temperaturen, um zu versuchen, Hilfe für sie zu bekommen. Als sie ankamen, sagten ihm die Ärzte, sie sei vor einer Stunde gestorben. . .“

Entsetzt fragen sich dieser Tage viele: Was kann man tun?

Nun, es ist nicht viel. Vielleicht ein paar weitere Euro spenden für diejenigen, die versuchen, in der Katastrophe noch irgendwie zu helfen. Vielleicht irgendeine Petition unterzeichnen, die genauso folgenlos bleiben wird, wie Dutzende andere Petitionen zuvor.

Totalversagen

Oder sich daran erinnern, dass all das, was jetzt passiert, nie hätte passieren dürfen – und es ein Einfaches gewesen wäre, es zu verhindern. Vor zwei Jahren schrieb ich an dieser Stelle:

„Als der Massenprotest in Syrien sich 2012 langsam in einen Bürgerkrieg verwandelte und syrische Truppen regelmäßig und wahllos in friedliche Demonstrationen schossen und begannen, Tausende zu töten; als absehbar war, dass Assad bereit war, alle Gebiete außerhalb seiner Kontrolle in Ruinenlandschaften zu verwandeln, baten die syrische Opposition und die Free Syrian Army die USA und Europa um Einrichtung einer ‚No Fly Zone‘ über Nord- und Südsyrien, vor allem um die dortige Zivilbevölkerung vor Fassbomben zu schützen. Man forderte die Errichtung von Schutzzonen für die Zivilbevölkerung, für Binnenflüchtlinge und die Opposition. (…)

Damals, im August 2012, standen noch die meisten Städte in Syrien, lebten noch die meisten jener, die später auf vielfältige Art und Weise zu Tode kamen, gab es noch keine Flüchtlingskrise und spielten Jihadisten noch so gut wie keine Rolle. Bekanntermaßen weigerten sich Obama und die Europäer, diesen Schritt zu gehen. Die Folgen sind hinlänglich bekannt. Eines der Argumente, dass man damals zu hören bekam, lautete: eine „No Fly Zone“ über Syrien sei militärisch problematisch, da das Land über eine hochmoderne und effiziente Flugabwehr verfüge.“

Selbst als die israelische Armee mit ihren zahlreichen Luftschlägen in Syrien eindrücklich unter Beweis stellte, was von diesem Argument zu halten war, wurde an ihm festgehalten. Wie an so vielen anderen Behauptungen, die vorgeschoben wurden, um weiter untätig zu bleiben und Assad an der Macht zu belassen.

Das Schlimme ist nicht nur, dass jetzt vor aller Augen Kinder erfrieren – vielmehr sterben sie nicht als Opfer einer Naturkatastrophe, sondern weil neun lange Jahre nichts unternommen wurde, um zu verhindern, dass sie heute erfrieren müssen.

Ändern werden auch die Aufnahmen von erfrierenden Kindern nichts. Die Zeit, in der solche Belege politischen wie menschlichen Totalversagens noch als Handlungsauftrag verstanden wurden, ist längst vorüber.

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