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Möglicher Krieg um den Nil betrifft auch Israel

Baustelle des Grand Ethiopian Renaissance Dam
Baustelle des Grand Ethiopian Renaissance Dam (Quelle: Water Alternatives Photos / CC BY-NC 2.0)

Der schwelende Konflikt zwischen Ägypten und Äthiopien über den Bau eines massiven Staudamms könnte auch für Israel schwerwiegende Folgen haben.

Martin Sherman

»Niemand kann Ägypten auch nur einen Tropfen Wasser wegnehmen, und wenn das passiert, wird es zu einer unvorstellbaren Instabilität in der Region kommen.«
Der ägyptische Präsident Abdel Fattah el-Sisi, Al Jazeera, 30. März 2021.

»Wir wollen nicht in der Dunkelheit leben.«
Der äthiopische Premierminister Abiy Ahmed, Al Jazeera, 30. März 2021.

Diese beiden kurzen Zitate bringen den Kern des Konflikts zwischen Ägypten und Äthiopien um das Wasser des Nils auf den Punkt, der durch den Bau eines riesigen Staudamms am Blauen Nil durch Äthiopien, unmittelbar östlich der Grenze zum Sudan, ausgelöst wurde. Der Grand Ethiopian Renaissance Dam (GERD) ist der größte in Afrika und einer der größten der Welt. Und er könnte einen Krieg auslösen.

Äthiopischer Strom vs. ägyptisches Wasser

Der Blaue Nil ist einer der beiden Hauptzuflüsse des Flusses, die in der Nähe der sudanesischen Hauptstadt Khartoum zusammenkommen und dann nach Norden durch Ägypten zum Mittelmeer fließen. Als längstes Flusssystem der Welt fungiert der Nil als Lebensader für die elf Länder, die er durchquert, und versorgt sie sowohl mit Wasser als auch mit Strom aus Wasserkraft.

Ägypten, das am weitesten flussabwärts liegt, ist auch eines der Länder, die am stärksten von Störungen des Flusses betroffen sind. Die ägyptische Regierung betrachtet den äthiopischen Staudamm als existenzielle Bedrohung für die nationale Sicherheit des Landes, da die 105 Millionen Einwohner des Landes zu 95 Prozent vom Nil abhängig sind, der sie mit Wasser für Bewässerungszwecke und Trinkwasser versorgt.

Im Gegensatz dazu behauptet das flussaufwärts gelegene Äthiopien, dass die vom GERD erzeugte Wasserkraft für den Energiebedarf seiner über 120 Millionen Einwohner, von denen mehr als die Hälfte keinen Zugang zu Elektrizität hat, lebenswichtig sei. Mit einer geplanten installierten Leistung von über sechs Gigawatt soll der Staudamm in erster Linie die akute Stromknappheit in Äthiopien beheben, obwohl auch der Export von Strom in andere Länder in Betracht gezogen wird.

Konflikt kurz vor dem Siedepunkt?

Der langjährige Konflikt um das Wasser des Nils zwischen Ober- und Unterliegern verschärfte sich 2011, als Äthiopien beschloss, mit dem Bau des GERD zu beginnen. Der Streit ist gerade wieder in den Medien aufgetaucht, als Addis Abeba die erste der 13 Turbinen des Staudamms in Betrieb nahm und am 20. Februar mit der Stromproduktion begann, ohne sich mit den anderen Nilanrainern abzusprechen oder zu koordinieren.

Nach Angaben der Weltbank ist Äthiopien als zweitbevölkerungsreichste Land Afrikas die am schnellsten wachsende Volkswirtschaft in der Region und gehörte in den letzten anderthalb Jahrzehnten mit einem durchschnittlichen Wachstum von zehn Prozent pro Jahr zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt. Aus äthiopischer Sicht ist GERD für die Verringerung der weit verbreiteten Armut im Land von entscheidender Bedeutung. Sie wird die Verfügbarkeit von sauberem Wasser verbessern und damit die Krankheitsrate senken und die Beschäftigung fördern.

Jahrzehntelang wurde das Wasser des Nils gemäß dem anglo-ägyptischen Vertrag aus der Kolonialzeit von 1929 verwaltet und zugeteilt, der Ägypten ein Vetorecht bei Bauprojekten am Nil und seinen Nebenflüssen einräumte. Später folgte das bilaterale Abkommen von 1959 zwischen Ägypten und dem Sudan, bevor Kairo 1960 den Assuan-Hochdamm errichtete, der weite Teile des Nordsudans überflutete.

Nullsummenspiel?

Das Abkommen von 1959, das die Bestimmungen des Vertrags von 1929 verstärkte, erhöhte die Wasserzuteilungen für Ägypten und den Sudan, aber keines der beiden Abkommen berücksichtigte den Wasserbedarf der anderen Anrainerstaaten. Dazu gehört auch Äthiopien, das nicht an den Abkommen beteiligt war und dessen Hochland mehr als 80 Prozent des Nilvolumens liefert.

Es überrascht nicht, dass die flussaufwärts gelegenen Staaten mit dem Anstieg ihrer Bevölkerungen und ihres Wasserbedarfs mit dieser Regelung unzufrieden wurden. Im Jahr 2010 unterzeichneten fünf von ihnen – Äthiopien, Kenia, Ruanda, Tansania und Uganda  – das Abkommen von Entebbe, das eine Neuverteilung der Wasserressourcen unter Einbeziehung dieser Länder vorsieht. Später trat auch Burundi der Vereinbarung bei. Doch sowohl Ägypten als auch der Sudan lehnten diese Forderung ab.

Die anschließenden diplomatischen Bemühungen, an denen sich auch der UN-Sicherheitsrat und die Afrikanische Union beteiligten, führten zu keiner Lösung in diesem klassischen Nullsummenspiel. Die Wassermenge des Nils ist festgelegt – sie nimmt sogar ab –, während die Anrainerbevölkerung und ihr Bedarf an Wasser zunehmen. Infolgedessen müssen die Gewinne der Oberlieger wie Äthiopien auf Kosten der Unterlieger wie Ägypten gehen. Ein Experte meint dazu:

»Nach einem anderen Vertrag von 1959 hat Ägypten Anspruch auf 55,5 Milliarden Kubikmeter des gesamten Nilvolumens. Der ägyptische Anteil am Nil deckt immer noch nicht den jährlichen Wasserbedarf des Landes, der sich auf etwa 64 Mrd. Kubikmeter beläuft. Bis 2020 wird Ägypten 20 Prozent mehr Wasser benötigen, um den Bedarf seiner prognostizierten Bevölkerung zu decken. … Der ständige Anstieg der Wassernachfrage und der proportionale Rückgang des Wasserangebots machen die Zukunft Ägyptens noch düsterer.«

Es erübrigt sich zu sagen, dass sich die Suche nach einer einvernehmlichen Regelung, die beide Seiten zufriedenstellt, als aussichtslos erwiesen hat.

Ägyptisches Säbelrasseln

Seit mehr als vier Jahrzehnten hat Kairo immer wieder betont, dass das Nilwasser zu einem casus belli werden könnte. Im Jahr 1979 erklärte der damalige ägyptische Präsident Anwar Sadat im Anschluss an die Friedensvereinbarungen mit Israel: »Die einzige Angelegenheit, die Ägypten wieder in einen Krieg führen könnte, ist Wasser.«

Ein Jahrzehnt später, im Jahr 1988, warnte der damalige ägyptische Außenminister und spätere UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali, dass der nächste Krieg im Nahen Osten nicht wegen der Politik, sondern wegen des Nilwassers geführt würde.

Die geopolitische Nachrichtendienstplattform Stratfor zitiert eine Meldung vom 1. Juni 2010, wonach eine »hochrangige ägyptische Sicherheits-/Intelligence-Quelle«, die in regelmäßigem direktem Kontakt mit [dem damaligen Präsidenten Hosni] Mubarak und [dem damaligen Geheimdienstchef Omar] Suleiman steht, sagte: »Wenn es zu einer Krise [mit Äthiopien] kommt, schicken wir einen Jet, um den Damm zu bombardieren und kommen an einem Tag zurück, so einfach ist das. Oder wir schicken unsere Spezialeinheiten, um den [geplanten] Staudamm zu blockieren bzw. zu sabotieren.«

Obwohl Mohamed Morsi, der Führer des kurzlebigen islamistischen Regimes in Ägypten von 2012 bis 2013, weniger kriegerisch gegenüber Äthiopien auftrat, warnte auch er – unter dem Druck des Militärs – Äthiopien, dass in dieser Frage »alle Optionen offen« seien, was sich auf einen Luftangriff, eine Guerilla-Sabotage oder eine Destabilisierung der äthiopischen Regierung bezog.

Im vergangenen Jahr nun warnte der amtierende ägyptische Präsident Abdel Fattah el-Sisi, dass es zu einer unvorstellbaren Instabilität in der Region kommen werde, würde Ägyptens Wasserversorgung auch nur »um einen Tropfen« reduziert.

Kriegstrommeln?

Die festgefahrene Situation in dieser für beide Länder entscheidenden, ja existenziellen Frage bedeutet, dass die Möglichkeit einer militärischen Konfrontation zwischen Ägypten und Äthiopien nicht auszuschließen ist.

Sollte es zu einem Krieg kommen, ist der Ausgang keineswegs von vornherein klar. Auf dem Papier sind die ägyptischen Streitkräfte den äthiopischen in Bezug auf Qualität und Quantität ihrer Bewaffnung zu Lande, zu Wasser und in der Luft weit überlegen, aber ein Angriff, der den weiteren Bau und Betrieb der massiven GERD stoppen soll, würde dennoch auf gewaltige Hindernisse stoßen.

Darüber hinaus endete der einzige Krieg zwischen Ägypten und Äthiopien in der Neuzeit (1874–1876) mit einem eindeutigen Sieg für Äthiopien, auch wenn das Land weitaus mehr Opfer zu beklagen hatte. Für Ägypten war dieser Krieg ein kostspieliger Misserfolg, der seine Bestrebungen, ein afrikanisches Imperium zu werden, zunichte machte.

Selbst wenn Ägypten das GERD-Projekt mit militärischer Gewalt stoppen könnte, müssen auch andere Faktoren berücksichtigt werden. Wie Kairo selbst eingeräumt hat, würde jeder Angriff, der zu einem katastrophalen Versagen des Staudamms führt, flussabwärts eine große Gefahr darstellen, da eine ca. 152 Meter hohe Wasserwand durch das gebrochene Bauwerk entlang des Flusstals brechen würde.

Auswirkungen auf Israel

Auch wenn der ägyptisch-äthiopische Streit um GERD und den Nil etwas abgelegen und losgelöst von Israel und seiner strategischen Agenda erscheinen mag, könnte sich diese Ansicht als falsch erweisen. Die potenziellen strategischen Auswirkungen des Konflikts auf Israel werden in der öffentlichen Debatte selten, wenn überhaupt, thematisiert, obwohl sie schwerwiegend sein könnten.

Ägypten wird seit Langem von einem islamistischen Aufstand im Sinai geplagt, an dem unzufriedene Beduinenstämme und die Dschihadistengruppe Ansar Bait al-Maqdis beteiligt sind, die später zur ISIS-nahen »Provinz Sinai« (Wilayat Sinai) wurde. Die Aufständischen haben Tausende von ägyptischen Soldaten und einheimischen Zivilisten sowie mehr als 200 ausländische Bürger getötet, die beim Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs ums Leben kamen, der der Sinai-Provinz zugeschrieben wurde.

Anfangs hatte die ägyptische Armee große Schwierigkeiten, gegen die Aufständischen vorzugehen, obwohl Kairo eine harte Politik verfolgte und die Aufstockung des Militärpersonals und der Waffen die Grenzen des Friedensvertrags mit Israel bei Weitem überschritt, was an sich schon Anlass zu erheblicher israelischer Besorgnis ist.

In jüngster Zeit ist es Ägypten gelungen, die Zahl der Dschihad-Anschläge zu verringern, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass die Beduinenstämme in die Politik einbezogen wurden, anstatt sie zu verprellen. Angesichts der schleppenden Bemühungen Kairos, die Entwicklung und die Menschenrechte auf der Halbinsel voranzutreiben, gibt es laut dem Washington Institute jedoch kaum eine Garantie dafür, dass die Gewalt nicht wieder aufflammen wird.

Angesichts des Personal- und Materialaufwands, der erforderlich ist, um auf dem Sinai für Recht und Ordnung zu sorgen und die Übernahme des Sinai durch dschihadistische Kriegsherren zu verhindern, kann man nur darüber nachdenken, was passieren würde, wird Kairo mit einer Situation konfrontiert, die anderswo lebenswichtige nationale Interessen ernsthaft bedroht und es erforderlich macht, auf dem Sinai eingesetzte Ressourcen abzuziehen.

Wenn Ägypten der Ansicht ist, dass Äthiopiens Staudammbau flussaufwärts das Land in eine unhaltbare Situation bringt, in der es seine Bevölkerung nicht mehr mit lebenswichtigen Wassermengen versorgen kann, könnte es sich durchaus gezwungen sehen, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, um die Situation zu bewältigen.

Hält also die Pattsituation mit Äthiopien an und sich die ernste Wassersituation in Ägypten weiter verschlechtert, könnte Kairo gezwungen sein, dem Wohlergehen von Millionen von Menschen im Nildelta Vorrang vor seinem Bestreben einzuräumen, die Kontrolle über den abgelegenen Sinai zu behalten. Dies bedeutet, dass es den regime- und israelfeindlichen Radikalen, die in der Vergangenheit Anschläge gegen Israel verübt und Waffen in den von der Hamas kontrollierten Gazastreifen geschmuggelt haben, nachgibt. Die militanten Aktivitäten werden wahrscheinlich erheblich zunehmen, wenn die ägyptische Militärpräsenz im Zuge der GERD reduziert wird.

Daher muss Israel für ein plausibles Szenario planen, in dem seine lange Südgrenze und die gefährdeten Transportwege, die das Zentrum des Landes mit dem südlichen Hafen von Eilat verbinden, einer wachsenden fundamentalistischen Bedrohung durch ungehinderte Warlords in einem zunehmend gesetzlosen Sinai ausgesetzt sind.

Martin Sherman ist Gründer und geschäftsführender Direktor des Israel Institute for Strategic Studies. Artikel zuerst erschienen beim Jewish News Syndicate. (Übersetzung: Alexander Gruber und Martina Paul)

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