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Eine der tragischsten Konsequenzen des IS-Völkermords an den Jesiden

Jesiden in Deutschland protestieren gegen ihre Abschiebung in den Irak
Jesiden in Deutschland protestieren gegen ihre Abschiebung in den Irak (© Imago Images / dts Nachrichtenagentur)

Den Kindern der Jesidinnen, die von Kämpfern des Islamischen Staates vergewaltigt und geschwängert wurden, droht ein Schicksal in den Lagern und Waisenhäusern der Region.

Nach fast zehn Jahren befreiten Kämpfer der syrisch-kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) aus dem berühmt-berüchtigten al-Hol Camp, in dem weitgehend jenseits der Kontrolle der kurdischen Behörden ehemalige Mitglieder des Islamischen Staates und deren Angehörigen inhaftiert sind, eine 24-jährige Jesidin, die dort als Sklavin ihrer Entführer leben musste. Es sind solche Einzelschicksale, die einem immer wieder das ganze Ausmaß des Horrors vor Augen führen, den vom Islamischen Staat 2014 entführte Jesidinnen durchleben mussten und noch immer durchleben.

»Die Frau sagte in einem von der YPG [dem militärischen Arm der PYD, Mena-Watch] veröffentlichten Video, sie habe bei einer Familie gewohnt, bevor sie in das Lager gebracht wurde, und man habe ihr gesagt, sie dürfe ihre Identität nicht preisgeben oder sagen, dass sie Jesidin sei. Die Frau sagte, sie habe während ihres Aufenthalts in al-Hol bis zu ihrer Befreiung einen falschen Namen benutzt.

›Sie haben mein Leben zerstört. Ich wurde verkauft und gekauft wie ein Schaf‹, berichtete die Frau über die Zeit, die sie [in den Händen des IS] verbrachte, bevor sie 2019 nach al-Hol gebracht wurde. Sie fügte hinzu, einmal mit sechs anderen Frauen im Haus eines älteren Mannes namens Abu Jaafar gewesen zu sein, der sie verprügelte, widersetzte sie sich ihm. ›Die Frauen, die sich der Vergewaltigung widersetzten, wurden getötet‹, erzählte sie.

In dem schwer bewachten Lager al-Hol, das von den mit den Vereinigten Staaten verbündeten syrisch-kurdischen Streitkräften beaufsichtigt wird, lebten einst 73.000 Menschen, die meisten von ihnen Syrer und Iraker. Die Zahl der Menschen ging im Laufe der Jahre zurück, da viele Frauen und Kinder aus al-Hol repatriiert wurden.«

Von den damals über 3.500 entführten Jesidinnen sind über tausend immer noch nicht zurückgekehrt und es steht zu befürchten, dass viele das Schicksal der jungen Frau im al-Hol Camp teilen und weiterhin als Gefangene des IS leben müssen. Viele sind inzwischen Mütter geworden und möchten sich, selbst wenn ihre Kinder die Folge von systematischem Missbrauch und Vergewaltigungen sind, von diesen nicht trennen. Auch dies ist ein Grund, warum viele bei ihren Peinigern bleiben. Hinzu kommt, dass diese Kinder nach geltendem irakischem Recht als Muslime betrachtet werden, da sich die religiöse Zugehörigkeit über die väterliche Linie vererbt:

»Bis jetzt werden die Kinder als Kinder muslimischer Väter betrachtet, und die Idee ist, dass sie zur Familie des Vaters kommen sollten, was lächerlich ist, weil der Vater aus Tschetschenien oder Deutschland oder Libyen sein könnte und einige der Mädchen von Dutzenden IS-Kämpfern vergewaltigt wurden. Diese Tatsache soll verborgen werden, indem die Kinder in muslimische Familien aufgenommen werden.

Wir haben es mit Tausenden Kindern zu tun, deren Eltern vielleicht getötet wurden oder geflohen sind, und die Kinder wurden an sich genommen, sind in radikalen Familien aufgewachsen und wurden radikalisiert. Die Kinder der Jesidinnen kommen noch dazu. Wir haben es mit Tausenden Kindern in Waisenhäusern zu tun, die nicht wissen, wer ihre Eltern sind. Niemand will diese IS-Kinder, und sie werden auf schreckliche Weise behandelt. Es gibt keine angemessene psychologische Unterstützung für diese jungen Kinder, die wie Extremisten sprechen.«

Kein Aussetzen des Erbrechts

Alle Versuche, dieses Erbrecht zumindest für diese Vergewaltigungsopfer außer Kraft zu setzen, sind bislang gescheitert. Die jesidische Gemeinschaft im Irak hat mehrmals klar gemacht, dass sie nicht bereit ist, diese Kinder, aufzunehmen, da sie nach jesidischem Recht eben keine Jesiden seien. Was auf den ersten Blick kaltherzig klingt, hat doch seine Folgerichtigkeit, fürchten die Jesiden doch, dass sich, sollten sie diese Kinder akzeptieren, in Zukunft Imame für ihre muslimische Erziehung berufen fühlen könnten.

Vor die Wahl gestellt, ihre Kinder zurückzulassen oder in ein Waisenhaus zu geben, entschieden sich einige der Jesidinnen, beim IS zu bleiben, auch wenn dies für sie weiteren Missbrauch und Quälerei bedeutet. Auch die nun befreite Frau steht vor diesem Dilemma, denn sie kann mit ihren Kindern nicht in den Irak zurückkehren. Was mit zurückgelassenen Kindern geschieht, beschreibt Amnesty International:

»Jesidische Frauen mit Kindern, die durch sexuelle Gewalt gezeugt wurden, sowie lokale Aktivisten und humanitäre Helfer wissen oft nicht, was mit den Kindern geschieht, nachdem sie zurückgelassen wurden. Nach Angaben von Aktivisten, humanitären Helfern und anderen Experten werden die Kinder in der Regel bei Lagerbehörden, lokalen Organisationen, Waisenhäusern, den IS-Sklavenhaltern der jesidischen Frauen oder Adoptivfamilien abgegeben.

Da viele Kinder ad hoc und inoffiziell zurückgelassen werden, besteht für sie die Gefahr, dass sie vernachlässigt werden, dem Menschenhandel zum Opfer fallen oder anderen schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Die genaue Zahl der seit 2014 durch Gewalt gezeugten Kinder ist nicht bekannt, aber die meisten Experten gehen davon aus, dass es mindestens mehrere Hundert sind, möglicherweise sogar mehr.«

Das tragische Schicksal der Kinder verdeutlicht eine der vielen Facetten des Völkermords an den Jesiden und seinen langfristigen Konsequenzen. Noch immer leben im Irak über 200.000 in Lagern ohne Hoffnung und mittelfristige Perspektive auf Rückkehr. Was das auch bedeutet, erklärte jüngst Aya Jalal vom Jinda Center im irakischen Dohuk, einer Organisation, die sich seit Jahren um Mädchen und Frauen kümmert, die aus IS-Gefangenschaft entkommen konnten:

»Frauen in den Lagern sind einem erhöhten Risiko geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt, einschließlich sexueller Übergriffe, häuslicher Gewalt und Zwangsheirat. Die Angst vor solchen Vorfällen kann tiefgreifende psychologische Auswirkungen auf eine Bevölkerung haben, die bereits so viel erlebt hat.«

Von Abschiebung bedroht

Seit Neuestem kommt auch noch die Furcht vor Abschiebungen jener Familienangehörigen aus Deutschland und anderen europäischen Ländern hinzu, die es in den letzten Jahren nach Europa geschafft haben, denn vor einigen Monaten »begannen einige Bundesländer – Bayern und Hessen etwa –, irakische Yeziden abzuschieben. Dabei hatte die Bundesregierung Abschiebungen in den Irak im März noch als ›nicht zumutbar‹ bezeichnet. Diese Abschiebungen sind Ländersache und vielleicht hatten die rund ein Dutzend Yeziden, die bisher abgeschoben wurden, einfach nur das Pech, das sich bei den deutschen Behörden niemand wirklich dafür interessiert, welche Iraker man da eigentlich zurückschickt.«

Tatsächlich wird die Religionszugehörigkeit der Asylsuchenden nicht erfasst, weswegen auch unklar ist, wie viele Jesiden unter den von Abschiebung bedrohten Irakern sind. Der ehemalige Sprecher des Zentralrats der Jesiden in Deutschland, Holger Geisler, »schätzt, dass 30.000 der in Deutschland lebenden Yeziden nur eine Duldung besitzen und daher von Abschiebung bedroht seien.« Dass im Jahr 2023 aber nur 132 Menschen in den Irak abgeschoben wurden, »zeigt, wie sehr es hier um Symbolpolitik geht. Die ständige Angst, irgendwann gehen zu müssen, ist jedoch real und bleibt für Abertausende.«

Statt Jesidinnen und Jesiden nun auch noch in den Irak abzuschieben, müssten europäische Länder großzügig jenen Mädchen und Frauen Aufnahme gewähren, die, wollen sie sich von ihren Kindern nicht trennen, keine andere Alternative haben, als bei ihren Peinigern zu bleiben. Es handelt sich dabei um maximal ein paar hundert Betroffene, und doch sind gerade sie und ihre Kinder diejenigen, die bis heute den wohl höchsten Preis für die an den Jesiden begangenen Verbrechen des Islamischen Staates zahlen müssen.

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