Wie die gewaltsamen Ausschreitungen auf dem Tempelberg und die Auseinandersetzungen um die Häuserräumungen im Ostjerusalemer Viertel Sheikh Jarrah einzuordnen sind.
In Israel ist mittlerweile wieder alles beim Alten. Die Pandemie, die dem Land eine ungewollte Ruhepause beschert hat, scheint in Windeseile in Vergessenheit geraten zu sein. In Tel Aviv etwa strömen die Menschen wieder frohgemut zum Strand, tanzen ausgelassen in den Lokalen, und füllen Straßencafés und Restaurants mit Lachen und Leben.
In Jerusalem, der Goldenen, ist ebenfalls wieder alles wie gehabt. Nur leider ist hier weniger von wieder-erwachter ‚joie de vivre’ und mehr von erneuter Gewalt zu berichten.
Feuergefahr an den Feiertagen
Eigentlich sollte in dieser Woche in Jerusalem allseits gefeiert werden. Juden begehen den „Jom Jeruschalaim“, den alljährlichen Jerusalem-Vereinigungstag, und Muslime das Ende des Fastenmonats Ramadan.
Anstelle des festlichen Frohsinns kommt bei diesen Anlässen aber Wut und Angst auf. Am vergangenen Wochenende gab es wieder gewaltsame Zusammenstöße zwischen der israelischen Polizei und arabischen Jugendlichen. Letztere warfen Stühle, Steine und Molotow-Cocktails auf die Streitkräfte, die sich ihrerseits mit Gummigeschossen und Blendgranaten revanchierten.
Die Nacht auf Sonntag, der viele vorab mit Besorgnis entgegenblickt hatten, weil rund 90.000 muslimische Gläubige, darunter auch einige bekannte Unruhestifter, zum Tempelberg geströmt waren, ist relativ ruhig abgelaufen. Ob es in den nächsten Tagen so bleibt, ist aber fraglich.
In der Nacht auf Montag soll der traditionelle Fahnentanz stattfinden. Junge, blau-weiss gekleidete Juden ziehen mit Tanz und Gesang durch die Stadt und schwingen israelische Flaggen. Gleichzeitig begehen Muslime in der Al-Aqsa-Moschee die „Laylat al-Qadr”, sprich die heiligste Nacht des Ramadans.
Die beiden Gruppen dürften sich vor dem Damaskus-Tor treffen. Zwar versucht die israelische Polizei, diese geladene Zusammenkunft zu verhindern; einfach wird das aber nicht vonstatten gehen, denn keinem soll in Israel der Zugang zu seinen heiligen Stätten verboten oder das Begehen seines Feiertages vereitelt werden.
Shimon Hazadik aka Scheikh Jarrah
Die Feiertage sind aber nicht der einzige Feuerherd in Jerusalem. Jüngst erhitzt auch die Fehde in ‚Scheikh Jarrah’ – auf Hebräisch ‚Shimon Hazadik’ – die Gemüter. Es handelt sich um ein Viertel in Ost-Jerusalem, das mehrheitlich von Arabern aber auch von Juden bewohnt wird. Nach der israelischen Staatsgründung wurde es Jordanien zugesprochen, seit 1967 gehört es wieder zu Israel.
Nun will das israelische Projekt ‚Nachalat Shimon’-Unternehmen das Viertel ausbauen und hat konkret vier arabische Familien aufgefordert, ihre Häuser zu verlassen. Dabei bezieht sich ‚Nachalat Shimon‘ auf Dokumente, die belegen, dass besagte Häuser und Grundstücke vor 1948 in jüdischem Besitz waren und im Grundbuch immer noch als solcher eigentragen sind.
Die vier heute dort lebenden arabischen Familien wohnten ursprünglich in Jaffa und Haifa, emigrierten aber nach der israelischen Staatsgründung nach Jordanien, wo der Staat ihnen diese Bleiben zur Verfügung gestellt hatte.
Ein israelisches Gericht hat ‚Nachalat Shimon‘ kürzlich die Rechte auf diese Häuser zugesprochen, aber die palästinensischen Familien akzeptieren das Urteil nicht. Der Fall ist jetzt vor dem Obersten Gerichtshof, der einen Kompromiss vorgeschlagen hat. Die arabischen Einwohner sollen in den Häusern bleiben, allerdings Miete zahlen und auf ihren Besitzanspruch formell verzichten.
Darauf wollen sich die besagten Familien aber nicht einlassen. Bei ihrem Streit werden sie von diversen Seiten ermutigt und bestärkt, unter anderem auch von Ahmad Tibi, dem Vorsitzenden, der arabischen Ta’al-Partei in der Knesset.
Aufgebracht spricht er im Radio von illegalen Zwangsräumungen und erinnert daran, dass die Residenz des israelischen Premierministers ehemals in arabischem Besitz war. Hernach befragt, ob er demnach einverstanden wäre, dass man sowohl auf arabischer als auch auf israelischer Seite auf das Besitz-Rückführungsgesetz verzichte, wechselt er rasch das Thema, wohl weil er weiß, dass damit auch das Thema “Rückkehr-Recht” der Palästinenser obsolet wäre.
Provokation und palästinensische PR
Der Streit um das Viertel Scheikh Jarrah hat weite Kreise gezogen. Auf palästinensischer Seite weiß man das Thema optimal für PR-Zwecke zu nutzen. Flugs hat man die EU und die USA herbeigerufen, die sich nun beide für die Rechte der vier arabischen Familien stark machen.
Militante arabische Jugendliche, die von palästinensischen Führungskräften als ‚Shababs von Jerusalem’ gefeiert und ermutigt werden, organisieren ihrerseits gewaltsame Straßenproteste vor den umstrittenen Häusern. Vor der israelischen Polizei haben sie weder Angst noch Respekt, zumal sie sich ihr gegenüber erst vergangene Woche mit ihrer Forderung zur Entfernung der Sicherheitsbarrikaden am Damaskus-Tor erfolgreich durchgesetzt haben.
Tatsächlich scheinen die Streitkräfte, die gegenwärtig hauptsächlich deeskalieren wollen, in die Defensive gedrängt worden zu sein. Das wiederum wurmt Itamar Ben-Gvir. Der ehemalige ‚Agent Provocateur par excellence’, der mittlerweile zum israelischen Abgeordneten mutiert ist, hat sich kurzerhand entschlossen, sein parlamentarisches Büro in das umstrittene Viertel zu verlegen.
Er fasse es nicht, so Ben-Gvir, dass sich jüdische Kinder und Frauen in Jerusalem nicht frei bewegen könnten, dass sie vor Ort ungestraft geschlagen und verfolgt würden, und dass die Polizei nichts dagegen unternähme. Er würde seine provisorischen Zelte so lange im Shimon Hazadik-Viertel aufschlagen, bis er eine ständige Polizeipräsenz dort erwirke.
Es kam rasch, wie es kommen musste. Ben-Gvir-Anhänger und Shababs lieferten einander wütende Gefechte, und die Polizei schritt ein. Mittlerweile hat sich Ben-Gvir wieder zurückgezogen; sein Ziel hat er erreicht.
Hamas im Hintergrund
Jerusalem brennt also. Entzündet wurde die Hauptstadt allerdings auch und vor allem mittels Fernbedienung, nämlich vom Gazastreifen aus. Von dort aus schürt Hamas die Unruhen, und schlägt aus ihnen jede Menge politisches Kapital.
Die Terrororganisation signalisiert den arabischen Bewohnern Ost-Jerusalems unbedingte Loyalität und, vor allem auch, Stärke und Entschlossenheit. Damit grenzt sie sich deutlich von ihrem Konkurrenten Mahmud Abbas ab, der sich in Sachen Sicherheit mit Israel abstimmt. Hamas sendet also wieder mordende Terroristen aus und schickt erneut dutzende Brandballonbomben über die Grenze.
Neulich hat die Terrororganisation gar ihren obskuren Befehlshaber Mohammed Deif aus der Versenkung geholt. Er hat über die Messaging-Plattform Telegram eine, wie er es nannte, „klare und letzte Drohung“ an Israel gesandt. Sollte Israel das Zwangsräumungs-Urteil der arabischen Familien in Scheikh Jarrah vollstrecken, werde Hamas eingreifen und „der Feind“ würde einen „hohen Preis zahlen“.
Mit all dem Säbelrasseln will Hamas die Herzen der Palästinenser gewinnen, um die Wahlen in den Palästinensergebieten, so sie letztendlich doch stattfinden, für sich zu entscheiden – oder sich der Fatah gegenüber anderweitig in Stellung bringen, sollten die Wahlen endgültig abgesagt sein.
Ob das gelingt, wird sich weisen. Mittlerweile aber dürften die vielen, eifrig Hamas-Fahnen schwingenden Jugendlichen in Ost-Jerusalem sowohl der palästinensischen Autonomiebehörde als auch den israelischen Sicherheitskräften zu denken geben.
Zu denken gibt im Übrigen auch die Meinung des vorhin erwähnten Abgeordneten Tibi, der die Schuld an den Unruhen in Jerusalem nicht etwa den Randalierern gibt und auch nicht den Terrorbanden, die sie anfeuern, sondern einzig und allein der israelischen Polizei.