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Köln: Islamistische Mode-Influencerinnen auf Propagandafeldzug (Teil 2)

Die Kölner Schildergasse, in der die Aktivistinnen von Abaya Sultan ihre Aktionen durchführen
Die Kölner Schildergasse, in der die Aktivistinnen von Abaya Sultan ihre Aktionen durchführen (© Imago Images / Zoonar)

Am Beispiel einer Verschleierungs-Anprobe in der Kölner Schildergasse wird erklärt, warum das Kopftuch mehr als nur »ein Stück Stoff« ist und Selbstbestimmung ohne Gleichberechtigung freiwillige Unterdrückung bedeutet. 

Moritz Fryczewski & Initiative »Free Iran Now« Kassel

Verhüllungsformen, von Hidschab über Abaya bis Burka, sind Produkte einer spezifisch islamischen Auffassung des Sexualtriebs. Westlich-demokratische Gesellschaften bereiten ihre Mitglieder über die Verinnerlichung von Verboten, zum Beispiel Inzesttabu oder Strafbarkeit von sexueller Gewalt, auf die Zivilisierung sexueller Triebe vor. Gemeinschaften, »in denen der Schleier getragen wird«, hingegen »greifen auf die Geschlechtertrennung für noch unverheiratete Frauen zurück, schreiben eine Kopfbedeckung oder ähnliche Maßnahmen vor, beispielsweise den Schleier, halten die Frauen im Harem oder erfinden andere Formen der permanenten Überwachung«, so George Peter Murdock in seinem Buch Social Structure

Das Patriarchat hinter dem Kopftuch

Entlang dieser unterschiedlichen Formen der Sexualitätsregulation stellte die marokkanische Feministin und Soziologin Fatima Mernissi in ihrem Werk Beyond the Veil: Male-Female Dynamics in Modern Muslim Society im Jahr 1975 die These auf, westlichen Gesellschaften liege ein passives Frauenbild zugrunde, während islamische Gesellschaften von einem aktiven Frauenbild geprägt seien. Die dementsprechende Auffassung der Frau als aktiver Reiz für den männlichen Triebhaushalt sei Ausgangspunkt für die Vorstellung, weibliche Präsenz würde Männer vom Gottesdienst ablenken und fitna (»Unruhe«, »Häresie«) verursachen. Zu groß sei die Versuchung, es könne zu zina (»außerehelicher Sex«) kommen.

Islamisch geprägte Ordnungen können derart stark von dieser Auffassung beeinflusst sein, dass der gemeinsame Aufenthalt von einem Mann und einer Frau, die nicht miteinander verwandt oder verheiratet sind, in einem Raum unmittelbar die überwachende Augen der Community auf sich ziehen müssen, was nicht selten mit der dem Propheten Mohammed zugeschrieben Überlieferung »Ein Mann ist mit keiner Frau allein, ohne dass der Teufel nicht der Dritte wäre«, begründet wird. 

Dieses Narrativ, gepaart mit dem einer Ehrenkultur entspringenden Dogma der vorehelichen Jungfräulichkeit, ist das Fundament eines ganzen Registers an Präventions- und Sanktionsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung der weiblichen Reinheit. Neben der familiären Einmischung in alle Lebensbereiche, der Kontrolle sozialer Kontakte, der genitalen Verstümmelung von Frauen, der Verheiratung von Kindern sowie der arrangierten Ehe oder gar Zwangsheirat ist das Kopftuch ein maßgebliches Instrument zur Tabuisierung der weiblichen Sexualität. 

Schon im vorpubertären Alter lernen Mädchen von streng muslimischen Eltern, dass ihr Geschlechtsteil »unrein« und ein Ort der Sünde sei. Ihnen wird die Entdeckung des eigenen Körpers untersagt, sportliche Bewegung ab einem bestimmten Alter reduziert und gemischtgeschlechtliche Interaktionen streng reglementiert. Zugleich bemerken muslimische Mädchen, dass ihren Brüdern keine solchen Grenzen gesetzt werden und, ganz im Gegenteil, die männliche Beschneidung als Ritus zur Erlangung von Männlichkeit zelebriert wird, deren Genital also weniger als Quelle des Unreinen und Bösen denn als solche der Virilität und Macht inszeniert wird. 

Mit der Pubertät findet eine Zäsur in der Entwicklung von jungen Frauen statt. Aufgrund der Geschlechtsreife werden sie endgültig zur Gefahr für die Familie und der Ehre – und so müssen neue Maßnahmen zum »Schutz der Unbeflecktheit« her. Ab der Adoleszenz setzt man muslimische Frauen unter Druck, mit einem Kopftuch nach außen hin die »Reinheit« zu symbolisieren. 

Spätestens mit dem Anlegen des Kopftuchs in seinen verschiedenen Formen muss auch eine Veränderung im Habitus muslimischer Frauen einhergehen. Die von Abaya Aultan romantisierte #Hijabtransformation hat in der Realität vieler junger Musliminnen abrupt einsetzende Folgen für ihre Lebensführung. Verschleierte Frauen gelten als sittsam, bescheiden und schamhaft. Von ihnen wird Zurückhaltung im öffentlichen Leben und das Meiden all dessen verlangt, was als sexuelle Anregung oder Annäherung verstanden werden könnte. Dazu zählen das Vermeiden von Blickkontakt zum anderen Geschlecht, das Senken der Stimme, der Verzicht auf Sport (zumindest vor männlichen Blicken) und das Verbot von Aufmerksamkeit erregenden Schuhabsätzen. 

In Ländern mit Hidschabpflicht verlieren muslimische Frauen mehr als ihre Bekleidungsfreiheit, de facto und de jure werden sie als »halbe Menschen« behandelt. Ihre Stimme gilt bei politischen Wahlen wie bei Zeugenaussagen vor der Justiz nur zur Hälfte, und im Erbfall werden Frauen mit dem halben Anteil abgespeist, den Männer erhalten. Auch im alltäglichen Sprachgebrauch muslimischer Gesellschaften ist von der mit nur einem »halben Kopf« ausgestatteten Frau die Rede. 

Ziel dieser Bevormundung ist es, Frauen rechtlich, finanziell und sozial von Männern abhängig zu machen. Weil Frauen in der Regel keine andere Wahl zu diesem patriarchalen Familiensicherungsnetz haben, stehen sie in der Sackgasse, diese Entrechtung, vom Hidschab bis zu häuslicher Gewalt, zu ertragen. 

Kein harmlose Anprobe

Die von Abaya Sultan in die Öffentlichkeit getragene Option des »Try on« steht somit innerhalb der traditionellen muslimischen Community überhaupt nicht zur Debatte. Einmal angelegte Kopftücher können nicht einfach wieder abgelegt werden, und die mit dem Kopftuch markierte Segregation des weiblichen vom männlichen Gesellschaftsteil ist nicht folgenlos aufhebbar. Als »ehrbar« angesehene Frauen werden zur Schande der Familie, legen sie ihr Kopftuch und damit ihre »Ehrbarkeit« ab. Die Sanktionen der Community reichen vom Ausschluss bis – in schlimmsten Fällen – zum Ehrenmord. 

Die Reaktionen der islamischen Sittenpolizei im Iran auf »nicht anständig« sitzende Kopftücher wie etwa im vergangenen Jahr die Ermordung der jungen Kurdin Jina Mahsa Amini deuten auf den perversen Dualismus aus »Überwachen und Strafen« hin, der sich hinter dem Hidschab verbirgt. Manchmal reicht nur die kleinste Haarsträhne, um innerhalb der Gemeinschaft in Verruf zu geraten, was im Fall der Fälle tödlich enden kann.

Köln: Islamistische Mode-Influencerinnen auf Propagandafeldzug (Teil 2)

Obskur ist nebenbei auch, welches Männerbild hinter der Verhüllung von Frauen steckt, wonach bereits die Wahrnehmung von Haaren sexuelle Übergriffe »provozieren« könnte. Auf den Punkt gebracht wird die patriarchale Ideologie des Kopftuchtragens im islamistischen Propagandamaterial mit der Bonbon-Metapher, wie man sie auf Werbetafeln im Iran sehen kann: Geöffnete Bonbons ziehen Fliegen an, während verpackte Ungeziefer Fliegen fernhalten. Untertitelt ist das Ganze mit dem Slogan »Schleier ist Sicherheit«.

Nicht Männer müssen demnach über Selbstkontrolle verfügen, sondern Frauen – indem sie sich verhüllen. Eine Errungenschaft des Feminismus war es einst, die Verharmlosung von sexuellen Übergriffen und sexueller Gewalt bis hin zu Vergewaltigungen in Form des Victim-Blaimings, also dem Versuch, dem Opfer die Verantwortung zuzuschieben, zurückzuweisen. Im Hidschab-Narrativ findet allerdings nichts anderes als solches Victim-Blaiming statt: Frauen wird die Schuld für sexuelle Grenzüberschreitungen gegeben. 

Die Mullahs im Iran, und nicht nur sie, sondern alle Proponenten der Zwangsverschleierung –, argumentieren, dass die Zwangsverschleierung vor sexueller Gewalt schützen soll. Doch das exakte Gegenteil ist der Fall, denn die Rechnung geht nicht auf: vielmehr sind sexuelle Übergriffe im öffentlichen und privaten Raum die brutale Realität für Frauen unter islamischer Herrschaft

Unter diesen Umständen kann selbstverständlich von keiner freien Entscheidung für das Kopftuch gesprochen werden. Und auch in westlichen Migrationsländern herrscht ein gewisser sozialer Druck, der Mädchen und junge Frauen zum Anlegen des Kopftuchs nötigt. Kommentare wie »gorgeous« (»großartig«), »from neglected diamond to protected diamond« (»vom vernachlässigten Diamanten zum geschützten Diamanten«) oder »mashallah« (»wie Allah wollte«) sowie die Bezeichnung unverhüllter Frauen als »halbnackte Huren« in und unter den Videos von Abaya Sultan sollen eine Privilegierung verschleierter gegenüber unverschleierten Frauen vermitteln. 

Neben der frühen gesellschaftlichen Erwartung, sich ab der Geschlechtsreife zu verhüllen, erleben junge Frauen, dass mit dem Hidschab eine Steigerung des Ansehens in der Community einhergeht. Insbesondere in der muslimischen Diaspora-Gemeinschaft stehen Familien unter großem Druck, ihre Töchter zur Sittsamkeit zu erziehen und aus Ängsten vor einem vermeintlichen Kulturverlust die repressiven Sexualnormen aufrecht zu erhalten. 

Weil im Migrationsland die Kontrollinstanzen der traditionellen Herkunftsgemeinschaft fehlen, müssen Überwachungspraxen wie das Tragen des Kopftuchs teilweise noch stärker verfolgt werden, um die Jungfräulichkeit weiblicher Familienmitglieder bis zur Ehe zu garantieren. Darüber hinaus können fehlenden Integrationsmöglichkeiten und -erwartungen sowie unklare Aufenthaltsperspektiven eine Unsicherheit bestärken, durch die der Islam mit seinen strengen Reglementierungen als Bewältigungsmechanismus leichtes Spiel hat. 

So sind Fälle bekannt, in denen geflüchtete Frauen aufgrund des Gefühls der Isolation den Hidschab erst in Deutschland anlegten, womit sie zu vulnerablen Zielscheiben für den muslimischen Gruppenzwang wurden. Unter solch einem Gruppendruck kann von Freiwilligkeit keine Rede sein, denn die freie Wahl hätte eine unabhängige Ausgangslage und keinerlei Nachteile bei Ablehnung des Kopftuchs zur Voraussetzung. 

Perfide Strategie

Auffällig an der Marketingstrategie von Abaya Sultan ist auch, dass ihre Zielgruppe maßgeblich aus jungen Frauen mit und ohne Migrationshintergrund besteht. In der Adoleszenz befinden sich Mädchen auf der Suche nach Anerkennung und Zugehörigkeit. Gerade im Zeitalter der Individualisierung und des Selbstverwirklichungsdrucks leiden junge Frauen oft unter Selbstwertproblemen oder Ängsten, den Schönheitsidealen nicht gerecht zu werden. Migrantisch-muslimische Mädchen sind zudem konfrontiert mit Identitätskonflikten zwischen den Werten und der politischen Kultur der Herkunfts- und der Aufnahmeländer. Nicht selten kommt es auch zu innerweiblicher Konkurrenz, um so patriarchale Rollenanforderungen durch internalisierten Neid und Missgunst zu kompensieren.

Der digitale Komplimente-Regen für das Hidschab-»Try on« von Abaya Sultan verleiht diesen jungen Frauen das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Der Exklusivitätscharakter der Ganzkörperverschleierung verschafft scheinbares Selbstbewusstsein und symbolisiert, Teil einer bestimmten sozialen Gruppe zu sein. 

Zusätzlich ermögliche die Vollverschleierung eine Befreiung vom Stress des Körperkults, heißt es von Seiten der Propagandisten. Die Rolle der sittsamen Muslimin könne in einer immer komplizierteren Welt mit unsicheren Zukunftsperspektiven sogar Orientierung geben. Zudem ist für Eltern konvertierter Töchter deren Vollverschleierung oftmals ein Schock, womit junge Frauen in rebellischer Pose ihren Abnabelungsprozess bewerkstelligen können. Muslimische Mädchen demonstrieren mit der Abaya, »ihre Kultur nicht vergessen zu haben« und genießen sogar erhöhte Wertschätzung, weil sie die sittlichen Werte der Community noch strenger einhalten als ihre Elterngeneration. 

Das orthodoxe Befolgen moralischer Vorgaben des Islams und die Durchsetzung repressiver Rollenbilder ist eine der wenigen Möglichkeiten für muslimische Frauen, in diesem patriarchalen System in gewisser Weise Macht zu erlangen. Dementsprechend ist die Wirkmächtigkeit muslimischer Mütter in der Erziehung und die Rolle islamistischer Frauen in der Propagandaarbeit nicht zu unterschätzen. 

Psychologisch kann somit von einem »sadomasochistischen Charakter« gesprochen werden, wie Erich Fromm ihn in seinem Buch Anatomie der menschlichen Destruktivität charakterisiert: »Sich selbst zu unterwerfen, um andere zu unterwerfen« scheint hier die Methode, um in der Hierarchie des Patriarchats eine Stufe hinaufzuklettern. 

In diesem Zusammenhang kann es als »Lust an der Unlust« bezeichnet werden, andere Frauen beim nicht standesgemäßen Tragen des Hidschabs zurechtzuweisen, wie Beamtinnen der Sittenpolizei im Iran es tun, oder sich gegenüber unverschleierten Frauen emporzuheben und diese als »ehrlose Huren« zu diskreditieren. Im Hidschab materialisiert sich für die Anhänger eines rigiden Islams nicht nur die Grenze der Geschlechter, sondern auch die zwischen »anständigen« und »unanständigen« Frauen. 

Für Emanzipation anstatt falscher Freiheit 

An dieser Stelle kommt der sich selbst als kultursensibel (miss-)verstehende Feminismus ins Spiel. Die oben beschriebene weibliche Selbstermächtigung in Form der Komplizenschaft mit dem patriarchalen System wird häufig zum »Empowerment« stilisiert. Die Exklusivität der »Hijabis« wird als besonders divers zelebriert, und die Abkehr von Schönheitsidealen als Akt feministischer Subversion gelabelt.

Tatsächlich ereignet sich hier jedoch geradezu eine Pervertierung der ursprünglich feministischen Ideale: Statt sexueller Befreiung vollzieht sich eine Befreiung von der Sexualität. Um den Anforderungen des Sexus im Selbstverwirklichungswettkampf auszuweichen, begnügen sich die sogenannten islamischen Feministinnen, frei nach der Autorin der islamistischen Sekte Ahmadiyya, Khola Maryam Hübsch, mit der »Freiheit unter dem Schleier«.

Während die zweite Frauenbewegung für Emanzipation und Gleichberechtigung kämpfte, wird nun dem Feminismus ein Bären- und dem Patriarchat ein Liebesdienst erwiesen, indem die Tabuisierung weiblicher Sexualität im Namen des Islams als postkolonialer Feminismus verkauft werden soll. Die iranischen Feministinnen im Jahr 1979 und in der aktuellen »Jin, Jiyan, Azadi«-Revolution machen es vor und sollten damit eigentlich eine Vorbildfunktion haben. Sie reißen sich Kopftücher herunter, skandieren »Keiner ist frei, sofern nicht alle sind frei« und demonstrieren mit ihren männlichen Kampfgenossen Hand in Hand für das Ende der Geschlechterapartheid. 

Es geht dieser Bewegung, anders, als im Westen so gerne unterstellt wird, nicht um die selbstbestimmte Wahl für oder gegen das Kopftuch, sondern um den Kampf gegen den Zwang, der mit diesem Symbol verknüpft ist. Sie wissen genau, dass sich im Kopftuch ein System aus Ehre, Scham und Schande manifestiert, das die Basis für die strukturelle Gewalt gegen Frauen ist. Wenn das Kopfuch fällt, fällt das islamische Patriarchat. 

Westliche Demokratien und Frauenrechtsbewegungen können neues Vertrauen erlangen, würden sie innenpolitisch solchen islamistischen Organisationen wie Abay Sultan das Handwerk legen und außenpolitisch zum Beispiel den iranischen Freiheitskampf unterstützen. Dies würde Mädchen und Frauen weltweit zu mehr Gleichberechtigung, sexueller Selbstentfaltung und individuellem Selbstwert ermutigen. 

Im hier erschienen Teil 1 werden die Initiative Abaya Sultan und deren Aktivismus zur Propagierung der Vollverschleierung vorgestellt.

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