Mit der Gewalt an der Grenze zur Israel will die den Gazastreifen regierende Hamas die Aufmerksamkeit auf sich lenken, während die arabische Welt der palästinensischen Sache zusehends gleichgültig gegenübersteht.
Shimon Sherman
Die Spannungen an der Grenze zum Gazastreifen sind hoch, nachdem die Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) den Fußgängerübergang Erez infolge der seit fast zwei Wochen andauernden Ausschreitungen entlang des Sicherheitszauns zum zwölften Mal geschlossen hat. Die IDF kündigten an, dass der Übergang, den normalerweise täglich etwa 18.000 palästinensische Arbeiter in Richtung Israel passieren, geschlossen bleibt, bis die Gewalt an der Grenze aufhört – eine Entscheidung, die im Anschluss an eine Sicherheitsbewertung von Verteidigungsminister Yoav Gallant und IDF-Stabschef Generalleutnant Herzi Halevi bekannt gegeben wurde. [Am Donnerstag öffnete Israel den Übergang allerdings wieder und ließ Palästinenser die Grenze passieren, um in Israel arbeiten zu können; Anm. Mena-Watch.]
Der Erez-Grenzübergang wurde zunächst am jüdischen Neujahrsfest Rosch Haschana geschlossen. Am vergangenen Wochenende versammelten sich erneut Hunderte Palästinenser an verschiedenen Orten entlang des Zauns, um zu randalieren. Die aktuellen Demonstrationen erinnern an die als »Großer Marsch der Rückkehr« bekannt gewordenen wöchentlichen gewalttätigen Ausschreitungen entlang des Gaza-Zauns vor drei Jahren.
Gewalt eskaliert
In der letzten Woche ist die Gewalt weiter eskaliert. Palästinenser verbrannten Reifen und zündeten Sprengsätze entlang der Sicherheitsbarriere und versuchten, diese zu durchbrechen. Sie schossen sogar mehrmals auf die Soldaten. Am Freitag und Samstag wurden aus dem Gazastreifen Brandbomben nach Israel geworfen und entfachten einen Flächenbrand. Am Montag nahmen die Truppen zwei Verdächtige fest, die versucht hatten, israelisches Gebiet zu infiltrieren. Stunden später eröffnete ein Terrorist das Feuer auf Truppen entlang der Grenze und wurde nach Angaben der IDF »neutralisiert«.
»Diese Proteste müssen in erster Linie als Sicherheitsbedrohung und erst danach als politisches Signal betrachtet werden«, sagte der wissenschaftliche Mitarbeiter am Internationalen Institut für Terrorismusbekämpfung an der Reichman-Universität in Herzliya, Nitzan Nuriel. »Für die Soldaten an der Front ist die Gefahr, von einem Sprengsatz oder einer Kugel getroffen zu werden, die Hauptsorge.«
Als Reaktion auf diese Angriffe führten die IDF am Freitag, Samstag und Montag Angriffe gegen Hamas-Stellungen entlang der Grenze durch. Das Militär setzte immer wieder Mittel zur Auflösung von Menschenansammlungen ein, wobei gelegentlich auch scharf geschossen wurde.
Obwohl die Hamas nicht offen mit den Unruhen in Verbindung gebracht wird, sind sich Experten einig, dass die Terrorgruppe die gewalttätigen Proteste aktiv anstiftet. »Solche Dinge passieren im Gazastreifen einfach nicht, wenn nicht die Hamas dahintersteckt«, sagte der leitende Berater am Begin-Sadat-Zentrum für strategische Studien an der Bar-Ilan-Universität und Vertreter des Israelischen Verteidigungs- und Sicherheitsforums (IDSF), Gershon Hacohen.
Die Rückkehr des Phänomens der Grenzunruhen nach fast drei Jahren der Ruhe ist auf mehrere destabilisierende Faktoren zurückzuführen, unter denen die Hamas-Terrorgruppe leidet.
Mehrere Gründe
In erster Linie ist der politische Zwist innerhalb der Hamas zu nennen, in dem ihre beiden wichtigsten Führer, Yahya Sinwar und Saleh al-Arouri, um die ideologische und politische Kontrolle der Organisation kämpfen. Nach Ansicht von Nuriel und Hacohen gilt Sinwar, der Führer der Hamas im Gazastreifen, als politisch verwundbar, nachdem al-Arouri, ihr im Libanon lebender militärischer Befehlshaber für das Westjordanland, im vergangenen Jahr ständig seine Führungsposition herausgefordert hat.
Sinwar müsse zeigen, »dass er aggressiv und keine israelische Marionette ist. Zwischen den beiden wird al-Arouri als aggressiver und engagierter angesehen, und Sinwar muss dieses vorherrschende Bild ändern«, erläutert Nuriel.
Nach Ansicht von Hacohen kommt zum politischen Konflikt innerhalb der Hamas noch ein religiöses Element hinzu. »Al-Arouri versucht, die gesamte [sunnitische] Organisation auf die [schiitische] Achse mit der Hisbollah und dem Iran zu verlagern und den schiitisch-sunnitischen Konflikt aufzuheben. Sinwar versucht, auf der sunnitischen Seite zu bleiben, aber er muss zeigen, dass sie aus religiöser Sicht dem Kampf für Al-Aqsa ebenso verpflichtet sind wie die Hisbollah und der Iran. Deshalb muss er weiterhin zeigen, dass er genauso aggressiv ist«, sagt der Wissenschaftler.
Hacohen fügte hinzu, dass es neben dem spezifischen schiitisch-sunnitischen Konflikt in der Hamas ein allgemeiner Grundsatz im politischen Islam sei, sich ständig im Dschihad zu engagieren, wobei die jüngsten Proteste nur ein weiterer Ausdruck dieses Grundsatzes seien.
Die Doktrin, die im Arabischen als Muqawama bekannt ist, lässt sich nach Angaben des Washingtoner Instituts für Nahostpolitik am besten mit »immerwährender Konflikt« übersetzen. »Eines der zentralen Ziele dieser Proteste ist die Aufrechterhaltung der religiösen Idee einer ständigen Reibung mit dem Feind unabhängig von der militärischen Realität in der Praxis. Nach dieser Vorstellung wird derjenige, der die Idee des ständigen Dschihad vorlebt, die Unterstützung Gottes erhalten und letztlich erfolgreich sein«, so Hacohen, der meint, für den Nahen Osten sei es »völlig falsch, Politik und Religion zu trennen«.
Der jüngste wirtschaftliche Druck hat die Hamas weiter destabilisiert und damit den Druck auf die Terrorgruppe erhöht, sich gegen Israel zu wenden. Die in jüngster Zeit vorgenommene verstärkte Hinwendung zur schiitischen Achse hat Katar, ein Land mit sunnitischer Mehrheit und einer der größten finanziellen Unterstützer der Hamas, dazu veranlasst, seine monatlichen Hilfspakete für den Gazastreifen in der Höhe von dreißig Millionen Dollar einzufrieren. Nach Angaben mehrerer palästinensischer Quellen ist dieser Schritt nicht zuletzt eine Reaktion auf die jüngsten Annäherungsversuche al-Arouris an Syrien.
Es wird erwartet, dass sich die humanitäre Lage im Gazastreifen infolge dieses Einfrierens der Finanzhilfen drastisch verschlechtern wird, was die Hamas zusätzlich unter Druck setzen wird, die Frustration der Palästinenser nach außen zu lenken anstatt nach innen in Richtung ihrer unfähigen Verwaltung.
Klassische Hamas-Strategie
Der ehemalige internationale Sprecher der IDF, Jonathan Conricus, meinte, man habe diese Strategie der Hamas schon einmal beobachten können: »Wenn die Dinge intern zusammenbrechen, bringen sie die Menschen dazu, zu protestieren, damit sie ihre Wut an Israel und nicht an der Hamas auslassen. Es ist eine sehr zynische Strategie, die sich wenig um Menschenleben schert.«
Conricus fügte hinzu, ein weiterer wichtiger Faktor, der die Hamas bei diesen Entscheidungen beeinflusst, sei die daraus resultierende Präsenz in den Medien, von der ihre Führer glauben, sie sei »ihr bestes Werkzeug, vor allem, wenn man bedenkt, wie ineffektiv ihre militärische Strategie ist«.
Das neue Narrativ der Abraham-Abkommen und die wachsende Apathie der arabischen Staaten gegenüber dem palästinensischen Projekt setzte die Hamas obendrein unter Druck, die zentrale Position in Sachen Geopolitik des Nahen Ostens für sich zurückzuerobern. Dieses Ziel, so Conricus weiter, werde am effektivsten durch einen Medienskandal erreicht. »Die Palästinenser sehen, dass die internationale Geduld für ihre Gewalt und Obstruktionspolitik schwindet, und sie wissen, dass die internationalen Medien ein sehr wirksames Instrument sind, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Die Unruhen an der Grenze zum Gazastreifen stellen eine sehr wirksame Methode dar, um die Aufmerksamkeit der internationalen Medien auf sich zu ziehen.«
Angesichts der vielen gleichzeitig auf die Hamas einwirkenden destabilisierenden Faktoren und angesichts der Tatsache, dass ihre Steigerung der Gewalt während der jüdischen Feiertage vor sich geht, einer Zeit, die für die Anhänger des radikalen Islams als besonders aufrührerisch gilt, wächst die Sorge vor einer militärischen Eskalation im Gazastreifen.
Experten sind sich jedoch einig, dass das eigentliche Ziel dieser Unruhen keine groß angelegte militärische Eskalation mit Israel ist. »Die Hamas will keinen Krieg, sie hat bereits Erfahrungen mit dieser Art von Protesten gemacht und glaubt, sie kontrollieren zu können«, meint etwa Nitzan Nuriel.
Dennoch sei sich die Hamas der Möglichkeit bewusst, dass diese Proteste zu einem groß angelegten Konflikt führen könnten, und sei bereit, dieses Risiko einzugehen, ergänzt Gershon Hacohen. »Sie wollen zwar nicht, dass die Dinge eskalieren, aber sie sind auf diese Möglichkeit vorbereitet, und aus ihrer Sicht wäre es ein Zeichen Gottes, dass die Pforten des Himmels offen sind, wenn die Dinge außer Kontrolle geraten, und dann werden sie hingehen und ihr Leben opfern.«
Laut den Experten gebe es mehrere aktive Strategien, um auf die Grenzkrise zu reagieren. Nuriel betont in diesem Zusammenhang, wie wichtig der Einsatz diplomatischer Mittel zum Abbau der Spannungen sei. »Israel sollte mit den Amerikanern zusammenarbeiten, um das Geldproblem mit Katar zu lösen, und die Ägypter drängen, ihren verbleibenden Einfluss in Gaza zu nutzen, um die Lage zu beruhigen«, schlägt er vor.
Sowohl Nuriel als auch Hacohen betonten außerdem, wie wichtig es sei, die Hamas kontinuierlich unter Druck zu setzen, indem man ihr bedeutende Erfolge verweigert und gleichzeitig wirtschaftliche Schmerzen zufügt, indem man etwa die Grenzübergänge geschlossen hält. »Dies ist eines von Israels mächtigsten Werkzeugen, und wenn wir den Menschen in Gaza den Gedanken einpflanzen können, dass eine ruhige Grenze wirtschaftliche Stabilität bedeutet, während wir ihnen gleichzeitig jede Hoffnung nehmen, Israel durch diese Unruhen tatsächlich Schaden zuzufügen, dann werden diese Leute schnell die Motivation verlieren«, sagte Hacohen.
Conricus betonte, wie wichtig es sei, die umfassende PR-Kampagne, die mit diesen Unruhen gegen Israel geführt wird, nicht aus den Augen zu verlieren: »Eines der zentralen Ziele der Hamas ist die Beeinflussung der Weltöffentlichkeit; wenn Israel diese Strategie im Kopf behält und aktiv dagegen arbeitet, wird es dieser Art von Verhalten die Anreize entziehen.«
Israel müsse der Welt Beweise vorlegen, dass es sich bei den Geschehnissen an seiner Grenze zu Gaza um Unruhen und Ausschreitungen und nicht um friedliche Proteste handelt und die Hamas dabei aktiv Menschen für ihre politische Ziele in Gefahr bringt, so Conricus abschließend. »Wenn diese Tatsache öffentlich bewusst wird, werden die Ausschreitungen für die Hamas an Wert verlieren.«
(Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)