Der Abzug des Westens aus Afghanistan ist ein Verrat an der afghanischen Bevölkerung. Jetzt mit dem Finger auf die USA zu zeigen, ist aber wohlfeil.
Richard Herzinger, hold these truths
Der Westen liefert die Afghaninnen und Afghanen sehenden Auges der Willkür der islamistischen Extremisten aus. Jedem klar denkenden Beobachter musste von Anfang an klar sein, dass das von Donald Trump im Frühjahr 2020 geschlossene und von seinem Nachfolger Biden nunmehr in die Tat umgesetzte „Abkommen“ mit den Taliban eine Farce war. Es sollte lediglich der Absicht, Afghanistan so schnell wie möglich sich selbst zu überlassen, ein fadenscheiniges Alibi verleihen. Einer verheerenden Illusion gab sich hin, wer ernsthaft glaubte, die Taliban würden sich an irgendeine in diesem Deal gegebene Zusage halten. Die Unterzeichnung dieses Abkommens war für sie nur ein taktischer Schachzug zwecks Beschleunigung des US-Abzugs, der ihnen den Weg zur ganzen Macht im Land frei machen würde. (…)
Die Europäer indes haben kein Recht, sich über die Kaltschnäuzigkeit, mit der sich Washington von Afghanistan abwendet, zu echauffieren. Dass die USA dort nicht auf Dauer alleine die Knochen hinhalten würden, nachdem sich ihre europäischen Nato-Verbündeten längst aus den Kampfeinsätzen verabschiedet hatten, war abzusehen. Und die Deutschen haben sich mit ihrem verbliebenen Restpersonal plus sämtlicher Gerätschaft bereits eilends aus dem Staub gemacht, lange bevor der letzte US-Soldat vom Hindukusch abgezogen ist. Im Gegensatz zu den USA war Berlin dabei noch nicht einmal bereit, wenigstens jenen Afghanen, die vor Ort für die Bundeswehr gearbeitet haben, unbürokratisch sicheres Asyl zu gewähren. So spektakulär die Rücksichtslosigkeit ist, mit der Biden dem Hindukusch den Rücken kehrt – das verstohlenere, aber umso erbärmlichere Verhalten der Deutschen ist an Schändlichkeit nicht zu übertreffen. (…)
Das Gerede darüber, dass Afghanistan sowieso ein hoffnungsloser Fall sei, muss sich nun an dem manifesten Schicksal realer Menschen messen lassen, für die die Rückkehr der Taliban den Verlust ihrer Freiheit und Würde, und in großer Zahl ihres Lebens bedeutet. Aus dem Abstraktum „Afghanistan“, für das es den Einsatz angeblich nicht mehr lohne, treten jetzt konkrete Einzelne mit Gesichtern und Namen hervor, deren Aussicht auf Knechtschaft, Folter und Tod man achselzuckend hinnimmt. (…)
Alle, die die Preisgabe Afghanistans herbeigeredet haben, trifft jetzt ein Wort Georg Büchners aus seinem Revolutionsdrama „Dantons Tod“: „Geht einmal Euern Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.“
(Aus dem Beitrag „Afghanistan: Fassungslos vor dem Verrat des Westens“, den Richard Herzinger auf seinem Blog hold these truths veröffentlicht hat.)