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Schatten über Israels Wirtschaft

In Israel gehen die Protest gegen die Justizreform unvermindert weiter, während sich erste wirtschaftliche Auswirkungen zeigen
In Israel gehen die Protest gegen die Justizreform unvermindert weiter, während sich erste wirtschaftliche Auswirkungen zeigen (© Imago Images / ZUMA Wire)

Die Warnungen, die Justizreform schade Israels Wirtschaft, werden schärfer. Schon im Frühjahr wurde über »bedenkliche Trends« gesprochen und spekuliert, wie sich die Lage entwickeln könnte.

Die Warnungen führender israelischer Wirtschaftsexperten stehen seit Jahresbeginn im Raum. Sie werden praktisch von Woche zu Woche eindringlicher, egal, ob sich Akademiker zum Thema wirtschaftliche Auswirkungen der Justizreform zu Wort melden oder beim Staat angestellte Wirtschaftsexperten. 

Als im heurigen Juni der Gouverneur der Bank of Israel, Amir Yaron, davor warnte, dass die Unabhängigkeit der israelischen Landesbank beschnitten würde, sollte die Regierung dem Finanzminister des Landes Einfluss auf die Festlegung von Mindestzinssätzen für Verbraucherkonten zubilligen, reagierte die Tel Aviver Börse (TASE) mit einem Kurseinbruch. Die TASE-Kurse erholten sich zwar wieder, stürzten aber in der letzten Woche erneut in die Tiefe, als die Regierung das Gesetz zur Aufhebung der »Angemessenheit von Regierungsentscheidungen« verabschiedete. Auch an amerikanischen Börsen verzeichneten israelische Firmen Kurseinbrüche.

Internationaler Weckruf

Die Talfahrt ging weiter, als einen Tag nach der Gesetzverabschiedung Moody’s als erste Ratingfirma die instabile Lage als »erhebliches Risiko« mit »negativen Konsequenzen für Israels Wirtschafts- und Sicherheitslage« bezeichnete.« Standard & Poor’s folgte mit einer ähnlichen Warnung, während eine weitere führende Ratingfirma, Morgan Stanley, darüber hinausging und Israels Kreditwürdigkeit mit dem Vermerk »Abneigungshaltung« versah, da man wegen der zunehmenden wirtschaftlichen Unsicherheit künftig von einer solchen Haltung seitens der ausländischen Investoren und Geschäftsleute ausgehen müsse.

Die Mitteilungen der Agenturen benannte Ittai Ben Zeev, Generaldirektor der Tel Aviver Börse, als »Weckruf für die israelische Regierung«. Schon seit Beginn des Jahres fällt der Tel Aviver Börsenhandel immer weiter hinter die Ergebnisse anderer führender Börsen zurück. Die bislang um rund zehn Prozent schlechtere Performance könne sich noch zuspitzen, so Ben Zeev.

Unübersehbare Entwicklungen?

Anfang des Jahres wurden Vermutungen bezüglich der wirtschaftlichen Implikationen laut, welche die Eingriffe in Israels Justizwesen zeigen könnten. Im Frühjahr zeichneten sich dann erste Trends ab, die andeuteten, in welche Richtung die Reise gehen könnte. So wurde zum Abschluss des heurigen ersten Quartals deutlich, dass die direkten ausländischen Investitionen im Vergleich zum vierten Quartal 2022 von 8,7 Mrd. auf 4,3 Mrd. Euro zurückgegangen waren. Global gingen Tech-Investitionen allgemein um rund 50 Prozent zurück, in Israel jedoch um satte 73 Prozent.

Bereits im Frühjahr war von einigen israelischen Firmen die Rede, die Kapital ins Ausland abziehen. Laut einer Umfrage der NGO Start-up Nation Central sind inzwischen nicht weniger als 68 Prozent aller israelischen Start-ups sozusagen auf dem Sprung. Dazu gehören der Abzug von Finanzreserven oder die Vorbereitung solcher Maßnahmen ebenso wie die Einleitung juristischer Schritte zur Verlegung von Firmenzentralen ins Ausland. 

Führt man sich vor Augen, dass Israels Hightech-Industrie fünfzig Prozent der Exporte und 25 Prozent der Steuereinnahmen des Landes bestreitet sowie für nicht weniger als fünfzehn Prozent des BIP aufkommt, ist das mehr als nur alarmierend

Regierungszickzack

Im Juli gab die Regierung bekannt, Investitionen in den lokalen Technologiesektor durch weitere Steuererleichterungen fördern zu wollen. Das von der Knesset Ende Juli verabschiedete Angels-Gesetz, dessen Vorläufer in den vergangenen drei Jahren Investoren Vergünstigungen zusprach, wurde modifiziert, um noch höhere Vergünstigungen vor allem bei Risiko-Investitionen in Unternehmen in einer frühen Gründungsphase zuzusprechen. 

Um in den Genuss der durchaus nennenswerten Vergünstigungen zu kommen, muss laut Gesetz das mit Investitionen bedachte Jungunternehmen in Israel registriert sein. Noch im Jahr 2022 hatten achtzig Prozent aller Firmenneugründungen des Technologiebereichs ihre Firmen in Israel registriert. Im Mai 2023 hingegen lag der Satz israelischer Firmengründer, die ihr Unternehmen im Ausland anmeldeten, bei 56 Prozent. Zum Abschluss des heurigen ersten Halbjahrs stieg diese Rate sogar auf achtzig Prozent an, wie die Ratingfirma Moody’s zur Untermauerung ihre Warnung hervorhob

Avi Hasson, der zwischen 2011 und 2017 leitender Wissenschaftler der Innovationsbehörde war und heute als Geschäftsführer der NGO Start-up Nation Central amtiert, ist mehr als nur skeptisch, dass man »diese Entwicklung rückgängig machen kann«. Nicht nur er ist der Ansicht, dass der Wirtschaft längst großer Schaden zugefügt wurde.

Ähnlich pessimistisch ist Ami Appelbaum gestimmt, Hassons Nachfolger im Amt des leitenden Wissenschaftlers der Innovationsbehörde, jener Behörde, die nicht wenig dazu beitrug, dass das Land zu einer weltweit gepriesenen Innovationsschmiede wurde. Gerade in diesen kritischen Zeiten muss sich Appelbaum allerdings nun mit empfindlichen Budgetkürzungen herumschlagen. 

Schon im Juni meinte er, seine Behörde könne angesichts der Kürzungen, welche die Regierung mit Verabschiedung des Staatshaushalts im Mai beschlossen hatte, ihre Ziele nicht mehr umsetzen. Da die Regierungskoalition Ende Juli eine weitere massive Aufstockung der Finanzspritzen für den ultraorthodoxen Bevölkerungssektor beschloss, werden alle Regierungsministerien vor zusätzlichen Kürzungen stehen. Alle Dienstleistungen werden noch weiter zurückgeschraubt, sodass die Innovationsbehörde geradezu vor einer Mission Impossible steht.

Exodus der Mediziner?

Sofort mit Verkündung der Justizreformpläne im Januar meldeten sich Experten zu Wort, die zu Bedenken gaben, dass das Phänomen des israelischen Brain Drain stark zunehmen wird. Schon seit Jahrzehnten klagt Israel über die übergebührliche Abwanderung von Wissenschaftlern ins Ausland, wo Forschungsgelder höher ausfallen und zudem bessere Arbeitsbedingungen und Aufstiegschancen vorhanden sind. 

Seit Verabschiedung des ersten bedeutsamen Grundlagengesetzes des Justizreformpakets in der vergangenen Woche machten dann auch noch die Ärzte des Landes Schlagzeilen, die seit rund zwei Monaten gehofft hatten, eine andere Gesetzinitiative der Regierung würde den chronischen Ärztemangel entschärfen. Die beschlossene automatische Anerkennung europäischer Approbationen soll im Ausland studierten Medizinern, aber auch bereits praktizierenden Ärzten, die einwanderungsberechtigt sind, die Entscheidung für eine Berufstätigkeit im israelischen Gesundheitswesen ohne Neuapprobation erleichtern.

Doch vor gut einer Woche, unmittelbar nach der Verabschiedung der Aufhebung zur »Angemessenheit von Regierungsentscheidungen«, setzte ein Tsunami in die entgegengesetzte Richtung ein. Der Prozentsatz von in Israel praktizierenden Ärzten, die sich auf unterschiedlichen Kanälen über Anstellungsmöglichkeiten im Ausland kundig machen, schnellte massiv in die Höhe; Whatsapp-Gruppen wuchsen innerhalb von Stunden von einigen Dutzend auf mehrere hundert eingetragene Interessenten an. 

NGOs, die Medizinervermittlungen ins Ausland organisieren, berichteten von einem nicht mehr zu bewältigenden Ansturm. Bislang sollen sich mindestens dreitausend Ärzte für eine Anstellung im Ausland interessieren, rund zehn Prozent der praktizierenden Ärzte des Landes. Die Leiterin der Medizinischen Fakultät der Ben-Gurion Universität, Rivka Carmi, meinte dazu: »Gehen nur fünfzehn bis zwanzig Prozent dieser sich informierenden Ärzte tatsächlich ins Ausland, ist Israels Gesundheitssystem am Ende.« 

Der Generaldirektor des Gesundheitsministeriums, Moshe Bar Siman-Tov, rief zur Besonnenheit auf, musste aber zugeben, dass auch ihn die Entwicklung eiskalt erwischt habe. Die fortwährend steigende Zahl der Interessenten ebenso wie die Tatsache, dass Ärzte als auch Wissenschaftler jedweder Fachgebiete bereits laufende Berufsverträge im Ausland verlängern, erschweren zwar momentan Versuche, einen genauen Überblick über denRelocation-Ansturm zu bekommen, Kenner des Gesundheitswesens halten ihn aber für genauso bedrohlich wie die Dienstverweigerung von Reservisten der israelischen Verteidigungsstreitkräfte für den Sicherheitssektor.

Bürger in wirtschaftlicher Bedrängnis

Alle Israelis spüren, dass ihre Landeswährung seit Jahresbeginn massiv an Wert verloren hat. Wer ins Ausland reist, muss für Euro und Dollar sehr viel mehr Schekel eintauschen, für alle ausländischen Produkte mehr an der Kasse bezahlt werden. Das letzte Woche verabschiedete Gesetz versetzte dem Schekel einen weiteren Schlag, wenn auch nicht so massiv wie der Werteinbruch im Frühjahr – aber von einer Rückkehr zu einem jahrelang als »starke Landeswährung« gepriesenen Schekel ist jedoch keine Rede mehr. Hinzu kommen um mehrere Dutzend Prozent angehobene Verbraucherpreise in einem Israel, in dem die Lebenshaltungskosten ohnehin schon horrend sind.

Zu dieser Inflation trägt auch der beständig angehobene Leitzins bei, was sich insbesondere auf dem Immobilienmarkt bemerkbar macht. Israels Banken werben zwar verstärkt mit der Aussetzung der Darlehenszahlungen oder einer Umschichtung, doch viele Bürger wissen, dass auch solche Maßnahmen das massiv wachsende Loch im Haushaltsbudget letztlich nicht stopfen werden. 

Klagte im Frühjahr der Immobilienmarkt über Stagnation, was mit Abwarten der Käufer infolge der politischen Ungewissheit erklärt wurde, so ist nun Bewegung in diesen Wirtschaftssektor gekommen, allerdings nicht in die gewünschte Richtung: Gingen früher Wohnungen weg wie warme Semmeln; konnten Verkäufer sich sicher sein, dass es schnell geht und sie mit dem Preis nicht heruntergehen müssen, bleiben sie jetzt vor allem auf größeren Wohnungen sitzen, egal, ob es sich um Erstbezug oder bereits seit Jahren bewohnte Objekte handelt; egal wie gut gelegen, ideal geschnitten oder hervorragend renoviert sie auch sein mögen.

Hinzu kommt, dass sich viele Bürger aus finanzieller Not gerade wohnungstechnisch verkleinern. Das bescherte in weiterer Folge eine Entwicklung ganz anderer Art: Land auf, Land ab herrscht ein Mangel an Lagerdepots für Möbel und persönliche Habe, die nicht mehr in die kleineren Wohnungen passen. Andere, zumeist jüngere Paare, haben sich vom Eigenheimtraum verabschiedet, sodass plötzlich Bauprojekte auf der Bildfläche erscheinen, die mit langfristigen Mietverträgen werben, die in Israel bislang so gut wie unbekannt waren.

Ungebrochener Optimismus

Seit Jahresbeginn scheint sich in Israel in jedem Wirtschaftssektor unendlich viel verändert zu haben, wenn auch nicht wirklich zum Guten. Aufsehenerregende Großinvestitionen, wie sie der Chip-Gigant Intel in Höhe von 23 Mrd. Euro oder die diskutierte Aufstockung der Boeing-Kooperation mit der israelischen Armee in Aussicht stellen, können das Blatt nicht einmal annähernd wenden. 

Nur in eine wirtschaftlich-politische Kernaussage kommt nicht die geringste Bewegung: Im Januar rief der gerade erst ins Amt zurückgekehrte Premier Benjamin Netanjahu Investoren dazu auf, weiterhin in die Wirtschaft zu investieren, denn »unsere Bemühungen, die israelische Demokratie zu stärken, werden der Wirtschaft des Landes nicht schaden, sondern ihr vielmehr nützen«. Und nach den Warnungen der Ratingagenturen Ende Juli meinten Premier Netanjahu und Finanzminister Bezalel Smotrich weiterhin unverdrossen: »Das sind vorübergehende Reaktionen. Wenn sich der Staub gelegt hat, wird deutlich werden, dass Israels Wirtschaft sehr stark ist.«

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