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Justizreform: Wird Israels Wirtschaft einen Dialog anstoßen?

Die Streit um die Justizreformpläne der Regierung beginnt der israelischen Wirtschaft zu schaden
Die Streit um die Justizreformpläne der Regierung beginnt der israelischen Wirtschaft zu schaden (© Imago Images / NurPhoto)

Nach den ersten Knesset-Abstimmungen zur Justizreform erlitt Israels Landeswährung eine enorme Schwächung. Zudem wird weiterhin Kapital ins Ausland geschafft. Israels Wirtschaft steht vor einer Zäsur.

Immer mehr Israelis, die es zu Protesten auf die Straßen treibt, betonen – sei es zum Beispiel gegenüber der Presse oder in den sozialen Medien –, dass sie sich nicht zur Linken zugehörig fühlen. Andere heben hervor, in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen zu leben. Wieder andere machen ihre Stimme als Mizrachim (orientalische Juden) geltend. 

Das sind Bezugnahmen auf die Behauptung von Premier Benjamin Netanjahu, die er seit Jahren aufrechthält: Gegen ihn würden, egal, aus welchem Anlass, ausschließlich zur wirtschaftlichen Elite gehörende aschkenasische (europäisch-stämmige) Linke protestieren; so seien auch die Warnungen vor einem »wirtschaftlichen Tsunami« nichts als ein weiterer »Trick der Linken«, wie Netanjahu wieder und wieder verkündete.

Selbst der Likud-Politiker Tzachi Hanegbi, der nicht nur als einer der engsten Vertrauten des israelischen Premiers gilt, sondern von diesem auch Ende 2022 zum Leiter des nationalen Sicherheitsausschusses berufen wurde, fügte angesichts dessen seinem Aufruf, in Sachen Justizreform den Dialog zu suchen, einen gegen Netanjahu stichelnden Zusatz hinzu: »Ich habe viele Freunde, die keine Anarchisten und keine extremen Linken sind; und die definitiv besorgt sind wegen der juristischen Fragen.«

Namhafte Persönlichkeiten des israelischen Wirtschaftssektors begannen schon vor einiger Zeit, ungeachtet ihrer politischen Einstellung und ihrer Haltung zur Justizreform, davor zu warnen, ein politisch motivierter Eingriff in die Gewaltenteilung der israelischen Demokratie könne »schwerwiegende Folgen für Israels Wirtschaft« mit sich bringen. Dem hielt Israels Premier entgegen, die Reform sei gut für die Wirtschaft, würde sie vielmehr sogar ankurbeln. 

Zu den wirtschaftlichen Entwicklungen, die vor einigen Wochen einsetzten, kamen in den vergangenen Tagen neue Einschnitte hinzu. Gleich einem Dominoeffekt greifen sie ineinander, sodass Israels Wirtschaftsgrößen getrost den Konjunktiv ihrer Warnungen streichen dürfen: die schwerwiegenden Folgen sind bereits eingetreten.

Währungs-Showdown

Nachdem die Knesset am 20. Februar die ersten Gesetzänderungen annahm, welche die Koalition im Rahmen der Justizreform vorsieht, erlebte die Landeswährung eine massive Abwertung. Der Schekel (NIS), der seit einigen Jahren als starke und stabile Währung gilt, hatte seit Anfang Februar eine schleichende Abwertung erfahren; nun verlor er innerhalb von 24 Stunden weitere zwei Prozent an Wert und fiel auf den tiefsten Stand seit drei Jahren mit einer Währungsschwächung von bislang fünf Prozent.

Die CitiBank geht davon aus, dass der Schekel eine weitere Talfahrt erleben wird, und zwar mindestens in Höhe von zusätzlichen acht Prozent Wertverlust. Bereits jetzt hält das Finanzhaus Bloomberg fest, dass der Schekel vorerst der »größte Verlierer« der Justizreform ist.

Das nagt nicht nur am Image der Wirtschaft, sondern geht auf die Geldbörsen der Verbraucher. Vieles wird dadurch noch teurer, hinzukommt die im Januar unerwartet hoch ausgefallene Inflationsrate von 5,4 Prozent. Dazu trug der drastische Anstieg der Strom- und Wasserpreise bei, den alle Israelis spüren, der aber für rund eine Million Bürger, deren Ernährungssicherheit aufgrund von einem zu niedrigen Einkommen nicht garantiert ist, jedoch einer Katastrophe gleichkommt.

Die von der Bank of Israel im April 2022 eingeleitete stetige Erhöhung des Leitzinses reißt zusätzliche Löcher in den Geldbeutel, vor allem jener Bürger, die Darlehen abzuzahlen haben – und das sind in Israel übergebührlich viele.

Als sei dies nicht genug der Hiobsnachrichten, forderte Außenminister Eli Cohen (Likud) von Finanzminister Bezalel Smotrich (Religiöse Zionisten), einen Plan zur Zügelung der Zinspolitik der Landesbank auszuarbeiten. Diese Forderung erweckte den Eindruck, Israels neue Regierung könnte als nächstes die Unabhängigkeit der Bank of Israel im Visier habe, für ausländische Investoren ein Albtraumszenario. Daher meldete sich Premier Netanjahu nicht nur auf Hebräisch,  sondern auch – international verständlich – auf Englisch zu Wort, um die Wogen zu glätten. 

Kapitalflucht

Schon seit Wochen wächst die Liste der israelischen Hightech-Unternehmen, die eine Kapitalflucht ins Ausland ankündigen. Anfangs taten vor allem Politiker der Regierungsparteien das als viel Lärm um Nichts ab. Doch der Hochtechnologiesektor, dem das Land seinen Ruf als Start-up-Nation zu verdanken hat, machte schnell Nägel mit Köpfen. 

Israels Wirtschaftspresse meldete bereits im ersten Februar-Drittel, dass eine ungewöhnlich hohe Gesamtsumme von 780 Millionen Dollar ins Ausland überwiesen worden seien. Zu diesem Zeitpunkt verkündeten die Politiker der Koalition weiterhin, die Justizreform sei gut für die Wirtschaft, doch hinter verschlossenen Türen kam bereits hektische Aktivität auf.

Nur wenige Tage, bevor die Regierung unter Beweis stellte, die Justizreform ohne Unterhalt vorantreiben zu wollen, gaben Israels Banken an, dass innerhalb weniger Wochen rund vier Milliarden Dollar ins Ausland transferiert wurden, was eine präzedenzlose Summe darstellt. Bekannt wurde zudem, dass ein nicht geringer Anteil auf Kapitaltransfer von Privatpersonen zurückgeht. Mit anderen Worten: Nicht nur Wirtschaftsgiganten nahmen wahr, dass sich etwas zusammenbraut. 

Solche Bewegungen muss man nicht zwangsläufig als Protestbekundung ansehen. Doch auch wenn es sich um vorbeugende Schutzmaßnahmen handelt, bedeutet das unterm Strich: Kapital, mit dem Israels Banken arbeiten, steht immer weniger zur Verfügung. Das führte dazu, dass die Chefetagen der fünf größten Banken des Landes vor der Abstimmung in der Knesset einen Brief herausgaben, in dem sie die Initiative von Staatspräsident Herzog unterstützten und dringend dazu rieten, einen Dialog in Sachen Justizreform zu suchen.

Brain drain und ausländische Investitionen

Immer wieder hört man in diesen Tagen Israelis im Land laut darüber nachdenken, ob man ihm vielleicht doch den Rücken kehren muss. Der erste Hightech-Unternehmer, der öffentlich sagte, er werde nach der Justizreform die Koffer packen, erntete noch einen Shitstorm, inzwischen pflichten ihm immer mehr wachgerüttelte Israelis bei. Dabei ringt das Land schon gegenwärtig mit dem Phänomen des Brain drain. Vielversprechende Nachwuchstalente unterschiedlicher Disziplinen suchen attraktivere Forschungs- oder Arbeitsbedingungen im Ausland. Das ist ein Verlust, den vor allem Israels Hightech-Branche, die unter einem chronischen Mangel an hochqualifizierten Fachkräften leidet, wieder und wieder bedauert hat.

Zudem gilt Israel als attraktiv für ausländische Investoren. Gerade sie tummeln sich besonders gern im vielfältigen innovativen Sektor Israels. Angesichts der politisch instabilen Situation warnte JPMorgan Anfang Februar ausländische Investoren vor einem zunehmenden Risiko im Hinblick auf Investitionen in Israel. Noch liegen keine statistischen Erhebungen vor, doch sollten Investoren fernbleiben, kommen auf Israels Jungunternehmer schwierige Zeiten zu. Ideen könnten nach wie vor zu Innovationen heranreifen; aber nicht mehr in Israel.

Hinter den Kulissen

Selten vernimmt man in Israel die Stimme von Nechemia (Chemi) Peres, dem Sohn von Shimon Peres. Er gründete 1996 gemeinsam mit einigen Partnern Pitango Venture Capital, das mit seinen rund drei Milliarden Dollar heute Israels größter Risikokapitalfonds ist. In einem Interview für die Channel 12-Abendnachrichten berichtet er über das, was sich »ganz stillschweigend fernab der Schlagzeilen und Kameras der Medien tut«.

Israelis würden vermehrt Konten im Ausland eröffnen, worauf sich Banken im Ausland längst eingestellt hätten. Zudem würden sie Israelis im Ausland und eigenen Staatsbürgern entgegenkommen, die Kapital aus Israel abziehen wollen. Banken hielten für solche Kunden sogar über die üblichen Öffnungszeiten hinaus die Türen offen. Und auch beim Spendenverhalten von Israelis wie von ausländischen Philanthropen sei, so Peres, längst eine merkliche Veränderung zu Ungunsten Israels zu beobachten.

Auch in einem anderen tragenden Zweig der Wirtschaft, der Tourismusbranche, machen sich Sorgen breit. Die standen zwar nicht offiziell auf dem Programm der 29. Zusammenkunft des International Mediterranean Tourismus Market auf dem Expo-Gelände Tel Aviv, beschäftigte vor wenigen Tagen aber informell doch viele Unternehmer, Reiseveranstalter und Hoteliers dieser Branche.

Notfallsitzung

Lediglich zwei Tage, nachdem die Justizreform von der Regierung durch Knesset-Abstimmungen auf den Weg gebracht worden war, machte der Gouverneur der israelischen Landesbank Amir Yaron von einem ihm 2018 gesetzlich zugesicherten Recht Gebrauch: Als Leiter einer unabhängigen Institution des Staates rief er die professionellen Fachkräfte der Wirtschaftsinstitutionen zu einer eilig angesetzten und absolut ungewöhnlichen Notfallsitzung zusammen. 

Das Statement, das der israelische Landesbank-Chef nachfolgend herausgab, klang nicht weniger dramatisch als die Wirtschaftsschlagzeilen der letzten Tage: »Eine Wirtschaftskrise kann jeden Moment ausbrechen«, meinte Amir Yaron. Dieser Ansicht ist auch die leitende Wirtschaftswissenschaftlerin des Finanzministeriums, Shira Greenberg, die von einem absehbaren Schneeballeffekt mit bedeutsamen Gefahren für Israels Wirtschaft sprach. 

In diesen Tenor ist inzwischen auch einer der vorbehaltlosen Justizreform-Befürworter aus den Reihen des Likud eingefallen. Nir Barkat, selbst Hightech-Millionär, der nach seiner Amtszeit als Jerusalemer Bürgermeister in die Knesset gewählt worden war, sprach sich angesichts der Ereignisse nunmehr für einen dringend aufzunehmenden Dialog in Sachen Justizreform aus, da ihm von verschiedenen Seiten zugetragen worden sei: »Die israelische Wirtschaft wird zusammenbrechen.«

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