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Justizreform in Israel: Salami, Salate und ein Selfie

Unmittelbar nach seiner Operation kehrte Netanjahu für die Justizreform in die Knesset zurück
Unmittelbar nach seiner Operation kehrte Netanjahu für die Justizreform in die Knesset zurück (© Imago Images / Xinhua)

Die Verabschiedung des Gesetzes zur Einschränkung der sogenannten Vernunftklausel gilt als erster Schritt der landesweit umstrittenen Justizreform. Wie es mit dieser weitergehen wird, wird sich spätestens nach der Sommerpause herausstellen.

Jetzt ist es also tatsächlich passiert. Trotz monatelanger Demonstrationen leidenschaftlich-engagierter Menschenmassen und eines präzedenzlosen Protest-Fußmarschs von insgesamt 20.000 Menschen von Tel Aviv nach Jerusalem wurde am 24. Juli das Gesetz zur Einschränkung bzw. Abschaffung der »Vernunftklausel«, die im Deutschen oft mit »Angemessenheitsklausel« übersetzt wird, im israelischen Parlament verabschiedet. Der spontane Aufschrei dagegen war gewaltig und flächendeckend

Dabei ist der Schritt selbst so dramatisch nicht. Es geht darum, dass das Hohe Gericht künftig Entscheidungen der Regierung oder einzelner Minister nicht mehr aus Vernunftgründen als gesetzeswidrig ablehnen kann. Das mache Sinn, so die Befürworter des neuen Gesetzes, denn warum sollten Richter »vernünftiger« sein als die gewählten Volksvertreter? Die Klausel sei an sich schon in ihrer Begriffsbestimmung schwammig, denn was vernünftig oder unvernünftig sei, entziehe sich einer klaren Definition. Die Handhabe, Einspruch zu erheben, bliebe den Richtern allemal erhalten, mangele es an diversen anderen Klauseln der Justiz nun wahrlich nicht. 

Warum die Aufregung?

So weit, so einleuchtend. Warum also die Aufregung? Weil mit dem neuen Gesetz der erste Schritt zur Implementierung der umstrittenen Justizreform gesetzt wurde. Justizminister Yariv Levin und seine Kollegen wollen die Gewaltenteilung zwischen Judikative und Legislative völlig neu aufstellen. In den vergangenen dreißig Jahren hat das Hohe Gericht nämlich gehörig an Einfluss gewonnen und verwirft den einen oder anderen Gesetzesentwurf wohl auch deshalb, weil er der liberalen Gesinnung der meisten seiner Mitglieder widerspricht. Das wiederum will die durchwegs rechte Regierung, die nun seit einigen Monaten an der Macht ist und ihre Agenda unbedingt durchzusetzen trachtet, nicht mehr akzeptieren.

Grundsätzlich stehen viele Israelis, darunter auch etliche Politiker der Opposition, einer Reform des bisherigen Justizsystems offen gegenüber. Was die Gemüter so erzürnt, ist der radikale Charakter der angestrebten Veränderung, die nun wiederum dem Kabinett weitgehende Kontrolle über das Geschehen in Land einzuräumen sucht. 

Hinzu kommt, dass diese Regierung ob ihrer teilweise radikalen Mitglieder von der Bevölkerung mit einiger Skepsis beäugt wird und man ihr keine allzu große Befehlsgewalt geben will. Argwohn löst natürlich auch aus, dass die angepeilte Reform Premier Benjamin Netanjahu bei seinen diversen Verfahren ungebührlich zunutze kommen könnte. 

Die Salami-Taktik

Die Proteste gegen die Reform fingen gleich nach der Absichtsankündigung des neuen Justizministers an. Irgendwann sah es so aus, als würden sie Früchte tragen. Es kam unter der Vermittlung von Staatspräsident Jitzchak Herzog zu Verhandlungen zwischen Koalition und Opposition. Als diese allerdings scheiterten, nahm die Regierung ihre Pläne eigenständig wieder auf. 

Zwar, so hieß es von offizieller Koalitionsseite, habe man aus den früheren Fehlern gelernt und wolle nun besonnener und wenn möglich im Einvernehmen vorgehen, doch vielen Demonstranten und der Opposition gefiel dies gar nicht. Netanjahu und sein Kabinett wären kein Jota von ihrem ursprünglichen Vorhaben abgewichen, argumentierten die Gegner, sie hätten sich jetzt nur der Salami-Taktik verschrieben und würden ihre Pläne schrittweise, sozusagen scheibchenweise, umsetzen.

So unrecht hatten die Skeptiker nicht. Vergangene Woche fühlte sich der umstrittene, extrem rechte Minister für Nationale Sicherheit Itamar Ben-Gvir jedenfalls bemüßigt, sarkastisch zu twittern, die »Salatbar« sei eröffnet. Was er damit sagen wollte, war jedem in Israel, wo man Salat gern als Vorspeise isst, auf Anhieb klar: Das Gesetz zur Einschränkung bzw. Abschaffung der Vernunftklausel sei nur der die Vorspeise. Weitere Gänge würden folgen. 

Noch weniger appetitlich als der Salatbar-Tweet war dann das Benehmen so mancher Koalitionsmitglieder im Anschluss an die Knesset-Abstimmung. Nachdem die Opposition aus Protest den Plenarsaal verlassen hatte, wurde das Gesetz mit 64 Ja-Stimmen und keiner einzigen Gegenstimme angenommen. Ein verständlicher Anlass zur Freude für die Koalition und ihre Wähler; allerdings für die meisten keiner zur Schadenfreude, denn die Mehrheit der Israelis, ob nun für oder gegen die Reform, reagierte betreten. Ihnen allen war der hohe gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Preis klar, den der entzweiende Schritt kostet. Nur einige wenige Minister verstanden es offenbar nicht: Sie posierten gemeinsam in Siegerpose für ein Selfie, während vor der Tür die Menschen klagten. 

Wo bleibt Netanjahu?

Einen weiteren traurigen Anblick am Abstimmungstag bot Premierminister Benjamin Netanjahu. Der ehemalige »Rainmaker«, der auch Unmögliches hat möglich machen können, saß zusammengesackt zwischen seinen zwei Spitzenministern, die über seinen Kopf hinweg verhandelten. 

Joav Galant, der zunehmend beliebte Verteidigungsminister, versuchte noch in allerletzter Sekunde, allerdings erfolglos, einen Kompromiss mit dem unnachgiebigen Justizchef Jariv Levin auszuhandeln. Der Regierungschef, der am selben Tag unmittelbar nach dem Einsetzen eines Herzschrittmacher ins Parlament zurückgekehrt war, schien zu müde, zu abgekämpft und zu abgestumpft, um einzugreifen. 

Nun heißt es also abzuwarten, wie es weitergehen wird. Mittlerweile hat nicht nur in der Politik, sondern auch im Privatleben die Sommerpause begonnen. Ein Großteil der Israelis hofft – immer noch –, dass die Gegenseiten einen vernünftigen Konsens finden und fortan ausschließlich im Einvernehmen vorgehen werden. 

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