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»Refugees Lives Matter«, es sei denn, sie sind Palästinenser 

Zeltlager für vor den Kämpfen evakuierte Palästinenser in Rafah im südlichen Gazastreifen an der Grenze zu Ägypten
Zeltlager für vor den Kämpfen evakuierte Palästinenser in Rafah im südlichen Gazastreifen an der Grenze zu Ägypten (Quelle: JNS)

Das Schweigen diverser Menschenrechtsorganisationen und des internationalen Gemeinschaft zur Frage, weshalb Ägypten sich weigert, palästinensische Flüchtling aufzunehmen, ist beredt und zunehmend unangebrachter.

Yonatan Grün 

In den vergangenen Tagen häuften sich in den Nachrichten die düsteren Vorhersagen darüber, was die palästinensische Bevölkerung nach dem erwarteten israelischen Einmarsch in die im Süden des Gazastreifens gelegene Stadt Rafah erwarten werde. Deutschland warnte vor einer humanitären Katastrophe, während ein UN-Beamter erklärte, die Offensive könne »zu einem Gemetzel führen«. 

Ein weiteres Thema ist die elende Hilflosigkeit der Bewohner von Rafah, von denen viele aus ihren Häusern in andere Teilen des Gazastreifens geflohen sind. »Vertriebene Gazaner fragen sich, wohin sie gehen sollen«, lautete eine Schlagzeile der New York Times, während andere Medien einen ähnlichen Ton anschlugen: »Verängstigte Menschen sagen, sie können nirgendwo mehr hin« (Associated Press), »Zivilisten in Gaza gefangen‹« (France 24) und »Wohin können wir gehen?« (BBC).

Ja, wohin eigentlich? Wäre Rafah doch nur einen Steinwurf (oder einen Raketenschlag, wenn es sein muss) von einem riesigen, arabisch-muslimischen Land entfernt, das nicht nur in gewissem Ausmaß an der aktuellen Krise mitverantwortlich, sondern auch in hohem Maße von westlicher Hilfe abhängig ist, womit der Westen notfalls ein Druckmittel besitzt. Moment mal, was ist denn mit dem Land mit den Pyramiden?

Die eklatante Abwesenheit Ägyptens in den Diskussionen und Berichten über Rafah ist geradezu erstaunlich. Ob aus Gleichgültigkeit, geradezu Orwellscher Heuchelei oder blanker Bosheit: die Idee, dass das benachbarte Ägypten Flüchtlinge aus dem Gazastreifen aufnehmen könnte, um Leben zu retten und Leiden zu lindern, wird einfach ignoriert oder bestenfalls als Nebengedanke beiseitegeschoben. 

Anderswo unverstellbar

Eine vergleichbare Situation wäre anderswo auf der Welt unvorstellbar. Undenkbar etwa, dass Polen seine Grenze für 6,3 Millionen ukrainische Flüchtlinge schließen würde. Doch in der gesamten Berichterstattung über die Rafah-Offensive wird Ägypten einfach ein Freifahrtschein ausgestellt.

Die weltweite Flüchtlingsbewegung hat in den letzten Jahrzehnten enorme Ausmaße angenommen und erinnert zu Recht ständig daran, wie verletzlich Flüchtlinge sind und dass sie sofort und bedingungslos geschützt werden müssen. Die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde in der ganzen westlichen Welt dafür gefeiert, als sie eine »Politik der offenen Tür« für syrische Flüchtlinge verfolgte und schließlich 1,2 Millionen Flüchtlinge in Deutschland aufnahm. Sie wurde dafür sogar mit einem UNO-Preis ausgezeichnet. 

Täglich berichten Menschenrechtsaktivisten über das Leid derjenigen, die verzweifelt das Mittelmeer überqueren, um die europäischen Küsten zu erreichen. Der Oberste Gerichtshof Großbritanniens hat einen Regierungsplan zur Abschiebung von Flüchtlingen nach Ruanda verworfen, und die USA sehen sich mit einer Diskussion konfrontiert, die auf der progressiven Seite durch eine Politik bestimmt wird, die mit der Notlage der Migranten und Flüchtlinge sympathisiert, während es die konservative Seite ist, die eine rigide Grenzschließungspolitik anstrebt.

Zugleich ist das Schweigen – nicht nur – der Flüchtlingsschutzorganisationen, -agenturen und -aktivisten zu den Gaza-Flüchtlingen, denen man in Ägypten Zuflucht verschaffen könnte, ohrenbetäubend. Ganz zu schweigen von der völligen Abwesenheit aufgeklärter europäischer und anderer westlicher Länder, die sich nicht im Geringsten bereit erklären, Flüchtlinge aus dem Gazastreifen aufzunehmen.

Wären die vielen Erklärungen einer drohenden Katastrophe in Rafah aufrichtig, wäre dies sicherlich der richtige Zeitpunkt, um ein Nachbarland aufzufordern, ein paar arme Seelen aufzunehmen. Sie wissen schon: Jenes oben bereits genannte Land mit einer ähnlichen ethnisch-religiösen Zusammensetzung wie Gaza, das riesige leere Gebiete besitzt und der einzige Nachbar des Gazastreifens ist, der sich derzeit nicht im Krieg mit der Hamas befindet. Klingeln da irgendwelche Glocken? Da das eine gemeinsame Grenze mit Gaza teilende Ägypten so eklatant und offensichtlich ignoriert wird, ist es ein Leichtes zu verstehen, wenn der amerikanische Präsident Joe Biden es mit Mexiko verwechselt hat.

Völkerrechtliche Verpflichtungen

Es war zu hören, dass Ägypten von dieser Idee nicht begeistert ist. Es könnte ja sein, dass Präsident Abdel Fattah as-Sisi erst noch etwas über die UNO-Auszeichnung erfahren muss, die Merkel für ihre Aufnahme von Flüchtlingen zuteilwurde. Doch ist unklar, warum das überhaupt eine Rolle spielen sollte.

Ägypten ist Unterzeichner der UN-Konvention über den Status von Flüchtlingen und ist damit völkerrechtliche Verpflichtungen eingegangen. Gelingt es Palästinensern, die Grenze zu überqueren, muss Ägypten ihnen den Flüchtlingsstatus zuerkennen. Es sei denn natürlich, das Völkerrecht (oder eine imaginäre Version davon) gilt nur, wenn es dem Überleben Israels entgegensteht.

Ägypten ist auch Empfänger massiver westlicher (und insbesondere amerikanischer) Hilfe, vor allem in Form von Panzern und Waffen, welche die herrschende Elite an der Macht halten. Sicherlich kann angemessener Druck auf as-Sisi ausgeübt werden, damit er die Bedeutung der Aufnahme von Menschen einsieht, die vor Konflikten fliehen.

Schließlich hat Ägypten direkt zur derzeitigen Schreckensherrschaft der Hamas in Gaza und zum Ausbruch des aktuellen Kriegs beigetragen, denn es war Ägyptens Selbstgefälligkeit, die es den Schmugglern der Hamas im großen Stil ermöglichte, ungehindert vor der ägyptischen Nase und buchstäblich unterhalb seiner Grenze zu operieren.

Wie zum Hohn entschuldigen viele die ägyptische Weigerung mit dem Argument, dass die Flucht unschuldiger Zivilisten aus einem Kriegsgebiet irgendwie Israel zugutekäme. Die Nachrichtenagentur Associated Press etwa erklärte, Ägypten habe »sich standhaft geweigert, einen Massenexodus von Palästinensern auf seinen Boden zuzulassen, weil es befürchtet, dass Israel sie nicht zurückkehren lassen wird«.

Zugegeben: Konfliktbedingte Bevölkerungsbewegungen haben die Angewohnheit, dauerhaft zu werden, und viele internationale Grenzen wurden auf diese Weise (neu) gezogen. Ägypten könnte sogar einen ernsthaften Grund haben, sich gegen den Zuzug von einer Million Menschen aus dem Gazastreifen zu wehren. Aber das gesamte internationale Flüchtlingsrecht beruht auf der Vorstellung, dass der Schutz des Lebens derjenigen, die vor Gewalt fliehen, solche Bedenken übertrifft. 

Als Angela Merkel eine offene Einladung für syrische Flüchtlinge aussprach, schien sich kaum jemand in der internationalen Gemeinschaft Gedanken darüber zu machen, ob dies für den syrischen Diktator Bashar al-Assad zweckmäßig sei. Und nichts im Rahmen der Flüchtlingsrechte besagt, dass Länder ihre Verpflichtungen missachten können, weil sie glauben, die Geflohenen könnten auf ihrem Territorium bleiben.

Erschreckende Botschaft

Die erschreckende Botschaft, die all dies vermittelt, ist, dass die Aussicht auf geopolitische Gewinne Israels einigen so sehr zuwider ist, dass sie lieber das gesamte Paradigmengebäude des Flüchtlingsschutzes zum Fenster hinauswerfen würden – mit toten Palästinensern als Kollateralschaden. Das UN-Flüchtlingswerk schreibt auf seiner Website, dass »jeder, der vor Verfolgung, Konflikten oder Menschenrechtsverletzungen flieht, das Recht hat, in einem anderen Land Schutz zu suchen«. Offenbar steht im Kleingedruckten, dass diese Regel nicht gilt, wenn Palästinenser auf der Flucht sind.

Viele behaupten, dass Palästinenser in Rafah oder anderswo in Gaza nicht nach Ägypten gehen wollen. Man könnte sogar den Eindruck gewinnen, dass bestimmte Nachrichtenagenturen dieses Gefühl gerne aufgreifen, verstärken und fördern. Nun gut, das mag ihnen gegönnt sein. Aber lassen wir doch den Palästinensern selbst die Wahl und sehen wir, wer bei dieser Weigerung bleibt. Wenn der internationalen Gemeinschaft das Leben der Palästinenser am Herzen liegt, dann ist dies das Mindeste, was sie tun kann, anstatt diese Leben im Interesse der regionalen Geopolitik zu opfern.

Berichten zufolge hat US-Präsident Joe Biden dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu mitgeteilt, eine Offensive in Rafah sollte erst dann erfolgen, wenn »die Sicherheit und Unterstützung der mehr als eine Million Menschen, die dort Schutz suchen, gewährleistet ist«. Vielleicht ist es an der Zeit, die naheliegende Lösung in Betracht zu ziehen, sie woanders unterzubringen, gleich nebenan?

Yonatan Green ist israelisch-amerikanischer Anwalt, der derzeit als Stipendiat am Georgetown University Center for the Constitution forscht. (Der Artikel erschien auf Englisch beim Jewish News Syndicate. Übersetzung von Alexander Gruber.)

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