Viele im türkischen Staatsapparat wünschen sich eine Rückkehr zu rechtsstaatlichen Verhältnissen. Offen dafür eintreten wollen aber nur mehr wenige.
Christiane Schlötzer, Süddeutsche Zeitung
Die türkische Justiz ist ein Scherbenhaufen. Ob Freispruch oder Haftbefehl, mit Rechtsprechung hat dies alles nichts mehr zu tun. Eher schon mit Rache. Und dem Wahn, die Türkei sei von Feinden umstellt und unterwandert, wobei schon zum Feind ernannt wird, wer nur Präsident Recep Tayyip Erdoğans Allmacht kritisiert. Besonders gefährlich an dieser Feindsuche ist die in konservativen türkischen Kreisen mittlerweile weit verbreitete Legende, die Gegner der Türkei stünden irgendwo im Westen, und einem Mäzen wie Kavala, der mit westlichen Kulturinstitutionen kooperiert, sei schon deshalb nicht zu Dahinter steckt ein altes türkisches Trauma, nun neu belebt, im Dienste der aktuellen Macht. Solche Konspirationen vergiften das gesellschaftliche Klima. Und diejenigen, die das immer gleiche Spiel nicht mitmachen wollen und für eine pluralistische Türkei eintreten, werden eingeschüchtert.
Dazu sollte der Prozess gegen Kavala und seine Mitstreiter dienen, er sollte diejenigen mundtot machen, die partout nicht den Mund halten wollen. In diesem Sinne war der Freispruch ein Unfall, ein nicht vorgesehenes Ereignis. (…)
Im Staatsapparat, in der Justiz, in der Partei, in Wirtschaftsverbänden, überall gibt es Zweifler und Mahner, die sich eine Rückkehr der Türkei zu einem parlamentarischen System und einem funktionierenden Rechtsstaat wünschen. Aber nur wenige haben bislang den Mut gezeigt, auch offen dafür einzutreten. Zu groß ist bei vielen die Angst, es könnte ihnen ergehen wie Kavala und anderen, die mit fadenscheinigen Anklagen hinter Gefängnismauern verschwinden.