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Zerstörte Leben, geraubte Träume: Jesiden ohne Zukunft

Jesidin im Khanke Camp bei Dohuk
Jesidin im Khanke Camp bei Dohuk (Bild: Philip Mollenhauer)

Erst schöpften die Jesiden in Deutschland und im Irak Hoffnung für mehr Hilfe und Unterstützung, nachdem der Bundestag die Massaker des Islamischen Staates als Völkermord anerkannt hatte. Doch nun sind viele von ihnen mit der Abschiebung konfrontiert.

Holger Geisler

Unzählige Völkermorde mussten die Jesiden in der Vergangenheit schon über sich ergehen lassen. Der bislang letzte geschah im Jahr 2014 und war der erste, der von der ganzen Welt wahrgenommen wurde. Damals versuchte der Islamische Staat (IS), das uralte Volk der Jesiden endgültig auszurotten. Doch was ihm nicht gelang, könnte nun durch die westliche Welt tatsächlich geschehen.

Warme Worte und symbolische Akte gab es zur Genüge: Sacharow-Menschenrechtspreis, Friedensnobelpreis, Anerkennung des Völkermords durch die UNO, das Europäische Parlament und etliche nationale Abgeordnetenhäuser wägten die Jesiden in Sicherheit. Eine der wichtigsten Abstimmungen gab es am 19. Januar dieses Jahres, als der Deutsche Bundestag einstimmig beschloss, die Verbrechen des IS an den Jesiden als Völkermord einzustufen. Die Debatte war geprägt von starken Äußerungen seitens der Abgeordneten: »Wenn ihr den Jesiden ihre Welt raubt, so geben wir ihnen die unsere«, erklärte etwa CSU-Abgeordneter Jonas Geisler. »Von dauerhafter Unterstützung« war ebenso die Rede wie davon, »den Genozid nicht verhindert zu haben, aber dies nie, nie wieder zuzulassen«.

Zweite Heimat

Dies alles führte dazu, dass die Jesiden sich in ihrer neuen Heimat noch mehr zu Hause, vor allem aber sicher fühlten. Immerhin lebt von den weltweit 300.000 Jesiden rund ein Viertel in Deutschland, von denen allerdings aktuell an die 30.000 von der Rückführung in ihre alte Heimat bedroht sind.

Was war geschehen? Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg entschied im Jahr 2019 höchstrichterlich, »es gibt keine Gruppenverfolgung von Jesiden im Irak mehr«. Seitdem werden in Deutschland immer weniger Asylansuchen positiv entschieden. Wurden zuvor fast 98 Prozent anerkannt, wird heute mehr als jedes zweite abgelehnt, was aber, auch dank einer Einigung aller Innenminister aus dem Jahr 2019, bislang zu keinen vermehrten Abschiebebemühungen führte.

Seit Mitte des Jahres hat sich die Situation aber insofern geändert, als der Sonderbeauftragte für Rückführungen ein Abkommen mit dem Irak abgeschlossen hatte und Abschiebungen verstärkt vorbereitet und durchgeführt werden. Betroffen davon sind häufig gut integrierte, berufstätige Personen, deren Familien in Deutschland eine neue Heimat fanden und nun auseinandergerissen werden.

Jedem ist klar, dass junge jesidische Frauen alleinstehend, keine Überlebenschance im Irak haben. Alle wissen, dass Jesiden als Gruppe allenfalls in Kurdistan oder im Shingal leben können. In diesem Teil des Iraks toben jedoch weiterhin Kämpfe, und der international versprochene Wiederaufbau ist allenfalls theoretischer Natur. Zudem sorgen Bombenangriffe aus der Türkei sowie die Präsenz iranischer, irakischer, kurdischer und anderer Milizen für ständige Lebensgefahr. In Kurdistan sind derzeit noch mehr als 300.000 Shingal-Jesiden in schlecht ausgestatteten Camps untergebracht. Platz für Rückkehrer gibt es hier keinen.

Niemand will zuständig sein

Dies alles ist den planenden und ausführenden Akteuren in Deutschland, von denen keiner Schuld am derzeitigen Status quo haben möchte, bewusst. Der Bund verweist auf die Länder, die Länder wiederum auf den Bund und die Kommunen. Städte und Gemeinden fühlen sich an die Weisungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gebunden, das wiederum der Ansicht ist, die Länder könnten die Abschiebungen verhindern.

Jeder mag in seiner Argumentation in großen Teilen recht haben, aber es geht nicht darum, Schuldige zu benennen, sondern Lösungen zu finden. Den Jesiden ist egal, welcher der Akteure ihnen den Verbleib in ihrer neuen Heimat Deutschland ermöglicht. Die Bundesländer Niedersachsen, Bremen und Berlin schieben keine Jesiden ab. Auch aus Baden-Württemberg ist kein solcher Fall bekannt. Dies zeigt, dass die Bundesländer durchaus in der Lage sind, die Rückführungen zu verhindern.

Natürlich könnte auch der Bund einen nationalen Abschiebestopp erlassen, vor allem, da das Auswärtige Amt noch immer eine Reisewarnung für den Shingal aufrecht hält. Aber das SPD-geführte Innenministerium des Bundes mag sich zu diesem Schritt nicht durchringen.

Umgekehrt ist die Unterstützung, welche die Jesiden von Zivilgesellschaft, Wissenschaft und Religionsgemeinschaften erfahren, überwältigend. Egal, ob katholische, evangelische oder orthodoxe Christen sowie insbesondere die jüdische Religionsgemeinschaft, sie alle stehen für die verfolgten Jesiden ein. Im Ausland werden diese Geschehnisse genau verfolgt. Im Land, das für den Holocaust verantwortlich zeichnet, engagieren sich Shoa-Überlebende für ein anderes, kleines Volk, das immer wieder ausgerottet werden soll.

Es bleibt zu hoffen, dass all diese Anstrengungen zu einem Umdenken in der deutschen Politik führen. Wenn nicht, gibt es keine Sicherheit für die Jesiden, nirgendwo auf der Welt. Und dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis der versuchte Genozid zum vollständigen Verschwinden der Jesiden führen wird.

Wenn die Politik, egal, auf welcher Ebene, eine Lösung finden will, wird es eine geben. Sollte eine solche ausbleiben, hat die Politik sie auch nicht gewollt. So bleibt abzuwarten, ob das »Nie wieder« mehr als ein Lippenbekenntnis ist, oder ob künftige Generationen die Jesiden nur noch aus Geschichtsbüchern kennen werden.

Der Artikel erschien zuerst bei JungleBlog.

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